The Project Gutenberg EBook of Die Ursache, by Leonhard Frank

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Title: Die Ursache
       Erzählung

Author: Leonhard Frank

Release Date: September 22, 2014 [EBook #46928]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE URSACHE ***




Produced by Jens Sadowski





21.-25. Tausend

LEONHARD FRANK
Die Ursache
Erzählung

1929
Im Insel-Verlag zu Leipzig

Copyright 1915 by Insel-Verlag in Leipzig

Lisa Ertel gewidmet

1

Nach vierzehn unter der ständigen Beobachtung verbrachten Jahren, daß er eine entlarvte Illusion nach der andern für eine Portion Seelenschmutz hatte hingeben müssen, verspürte der vermögenslose Dichter Anton Seiler im Winter 1907, ohne die Ursache zu kennen, unvermittelt und heftig den Drang, von Berlin in die kleine Stadt zu reisen, wo er als Sohn eines Wagnergesellen auf die Welt gekommen war.

Die resultatlos verbrauchte Energie hatte sein Gesicht scharf gemacht wie das eines gefährlichen, rücksichtslosen Verbrechers. Alle Reisenden im Abteil fühlten einen Widerstand, den Dichter mit in die Unterhaltung zu ziehen. Und alle verstummten vor Verwunderung, weil ganz unerwartet die scharfe Verbrechermaske seines Gesichts von einem traurigen Lächeln zerbrochen wurde, als er dem im Seitengang stehenden kleinen Mädchen zunickte.

In der Nacht vor dem Reiseentschluß hatte der Dichter von einem bestimmten Schulausflug, durch den heimatlichen Laubwald, geträumt: der gefürchtete Lehrer Mager geht voraus, wendet sich drohend um. Da wechseln, wie damals, die fünf Rehe über den Weg. Besonnte Morgendämpfe. Vogelgeschrei. Die Fröhlichkeit geht durch mit dem Achtjährigen, über den gefährlichen Lehrer weg, reißt alle Schulkameraden mit. Von Ast zu Ast mit dem Eichhörnchen in die Höhe fliegend, sitzt er auf dem letzten wippenden Zweig der Baumkrone und singt lachend in wildem Glück zum blauen Sommerhimmel hinauf. Tief unten staunen die Schulkameraden. Plötzlich ist der Himmel tintenschwarz. Alle sitzen, Milch trinkend, fröhlich im Wirtshausgarten — er allein steht vor dem Zaune. Der Lehrer Mager hält ein kirchturmgroßes Milchglas in der Hand, in der anderen das heiße Herz des Dichters, stopft es ihm ins Gehirn und schließt den Kopf wieder. Mit diesem ununterbrochen schmerzhaft zuckenden Druck hinter der Stirn erlebt der Dichter viele peinigende Demütigungen späterer Jahre traumhaft vergrößert noch einmal.

Die Fingernägel tief in die Kopfhaut gekrallt, in dem Bemühen, das Gehirn freizulegen und den Druck herauszureißen, erwachte er, wußte nicht mehr, was er geträumt hatte.

Und fand sich etwas später plötzlich auf dem Bahnhof, sah dann stundenlang gedankenlos aus dem Fenster auf die vorübergleitende Landschaft.

„Tanten, Anfangsgründe!“ hörte er wie aus weiter Ferne den ihm gegenübersitzenden Herrn zwei Damen zurufen.

„Ja, das ist keine Erziehung.“ Die Damen waren klein und trugen beide Klemmer. Die vier kurzen Beine baumelten gleichmäßig über dem Kokosteppich.

Der Dichter war vergebens bemüht, sich an seinen Traum zu erinnern.

Die eine Dame sagte: „Wenns auch pedantisch ist, das ist ganz gut für den Jungen.“

„Ja, ich kann auch gar nicht anders. Anfangsgründe sind die Hauptsache, Tanten.“

„Ganz gut für den Jungen!“

„Nein . . . es ist nicht gut für den Jungen“, sagte der Dichter plötzlich und sah die Damen an.

„Was meinen?“

„Nichts . . . Es ist eben auf keinen Fall gut für den Jungen.“

Der Schaffner rief etwas Unverständliches. Der Zug fuhr langsam in die Station ein.

Das Gesicht des Dichters war wieder gespannt und scharf.

Aus dem Gefühle heraus, daß die Reisenden nicht nur weiterfuhren, sondern immer an ihm vorbeigefahren waren, verließ er, ohne zu grüßen, unsicher das Abteil und den Zug. Verlegen empfand er beim Durchqueren der Bahnhofshalle den Kontrast zwischen seinen neuen eleganten Lackschuhen und dem alten, fleckigen Anzug.

Auf der Treppe blieb er zurückweichend stehen vor dem bekannten Platz, den Kirchtürmen, dem Geruch der Heimatstadt. Rasend schnell durchliefen die Erinnerungen sein Gehirn: Armut, Prügel, Demütigungen, Schulqualen; so daß er den Kopf einzog und geduckt gegen die Stadt blickte. „Dieses böse Tier hat mir die Seele krank gemacht“, flüsterte er. „. . . Nein, ich habe kein Gepäck.“

Der Dienstmann trat wieder zurück zu seinen Kollegen; und der Dichter fühlte sich geschlagen, als er die geringschätzig musternden Blicke der Dienstmänner sah.

„Ich habe doch längst erfahren, daß ich ohne Gepäck kein Mensch bin“, sagte er, nachdem er sich die ganze Bahnhofstraße hinuntergequält hatte — und schaukelte erschrocken gegen ein Schaufenster, denn er war der Meinung, der schräg über die Straße auf ihn zukommende Herr sei Herr Mager, sein früherer Lehrer.

Ein Schuster, der ein Paar schwebende Röhrenstiefel an den Stulpen trug, begrüßte den Herrn mit dem Titel Kanzleirat. Der trat, mit den Händen fuchtelnd, wütend und schnell von einem Fuß auf den andern und beschwerte sich. Der Schuster beugte sich hinab, drückte das Oberleder, zuckte die Schultern — gegen das Knarren sei nichts zu machen. Der Kanzleirat fauchte speichelspritzend den Schuster an, schritt knarrend davon.

Und dem Dichter, der auf der ganzen Reise vergebens darüber nachgegrübelt hatte, was ihn zwang, die Heimatstadt zu besuchen, war von dem unvermittelten gierigen Haß auf seinen Lehrer die Denkfähigkeit vollkommen niedergeschlagen worden.

Noch immer lehnte er gelähmt am Schaufenster und sah dem Kanzleirat nach, den er für seinen Lehrer gehalten hatte. Nur allmählich stellte sich die Denkfähigkeit wieder ein und mit ihr die vom Lehrer empfangenen Demütigungen, die er in den vierzehn Berliner Jahren oft und kritisch durchdacht hatte. „Diese Gemeinheiten können nicht der Grund meines unvermittelten Hasses sein“, sagte er langsam.

„Ist es denn aber möglich, daß ein Mensch als Kind qualvolle Erlebnisse hatte . . ., von denen er nichts mehr weiß, die aber in seinem Gefühlsleben ein dunkles Dasein weiterführen und plötzlich einen Haßausbruch verursachen?“

Der drückende Klumpen unter seinem Brustbein sprach dafür.

„Aber was war es? Was?“ flüsterte er, schloß die Augen und horchte, ohne zu denken, nach innen — glaubte plötzlich, Kaffeegeruch zu riechen, sieht den Vater morgens die Wohnung verlassen, eine Frau, die zum Fenster hinaus „Karo“ ruft. — Erinnerungsfetzen, welche er anfangs in keinen Zusammenhang bringen konnte, die sich jedoch durch ein weiteres Glied (der Hund fährt kläffend nach ihm) zu einem ganz bestimmten Schultage verdichteten. Seine Beklemmung steigerte sich; er sieht die Bankreihen, frohe Aufregung unter den Schülern. Plötzlich wurde er heiß. „Wegen des Schulausfluges.“

„Schulausflug?“ flüsterte der Dichter immer noch, als er schon die enge, dumpfriechende Treppe zur Elternwohnung hinaufstieg. Belastet und verwirrt blieb er vor der Gangtür stehen, ohne zu läuten, weil er fühlte, daß er nahe daran war, die Ursache seines Hasses gegen den Lehrer zu finden. „Schulausflug durch den Wald . . . Wald.“ Da verlor er das Gedächtnis, so gänzlich, daß er nicht wußte, wo er sich befand, als der Vater die Tür öffnete und erstaunt zurückwich, weil ihm sein Sohn „tückisch . . . tückisch“ ins Gesicht sagte.

Ganz schnell rief der Dichter dem Vater zu: „Wart, wart, wart!“ Und: „Ah! . . . Aha! Ja, ich wollte euch einmal besuchen.“

„Kommst du endlich einmal zu uns?“

„Ja, wegen des Lehrers . . . Vielleicht bin ich wegen des Lehrers gekommen.“

„Wegen des Lehrers? . . . Gehe nur hinein, Anton, zur Mutter. Ich muß in die Singprobe.“

„So? . . . Bist du immer noch Vorstand vom Gesangverein ‚Zwischen grünen Bäumen‘?“

„Ja freilich!“ Der Vater lächelte freundlich und schüttelte seinem Sohne schnell die Hand zum Abschied, um rechtzeitig in die Singprobe zu kommen. „Gehe nur hinein zur Mutter.“

Schweißnaß trat er der Mutter entgegen.

Der stiegen die schnellen Tränen in die Augen.

„Nun, Mutter“, sagte er weich. „Nein nein!“ Und er drückte das Schluchzen zurück.

„Das weiß ich nicht, wie lange ich hier bleibe.“

Die Mutter legte den alten Kopf in die Hand, an den Mund die kleinen Finger, die von der Scheuerarbeit stumpf geworden waren.

„An was denkst du denn, Mutter?“

„In diesem Bett schläft der Vater“, deutete sie, „und ich in dem.“

Der Dichter sah umher im einzigen Zimmer, in dem nichts verändert war. Nur der Stahlstich nach einer Kreuzigung von Rubens fehlte. „Ich schlafe eben wie früher neben dir auf dem Kanapee . . . Wo ist denn der Christus?“

„Den hab ich für eine Mark verkauft.“

„So, du hast den Christus verkauft? . . . Unsern Christus.“

„Ja. O Gott! Es ging nicht anders. — Womit soll ich denn deine schönen Schuhe putzen? Wir haben nur unsere Fettglanzwichse.“

„. . . Jetzt muß ich dich aber doch fragen, Mutter. Sag, bist du wirklich so viel kleiner geworden?“ Er sah verwundert hinunter auf ihren weißen Scheitel.

Und sie lächelnd auf zu ihm. „. . . Ich war doch nie größer.“

Und das Leben könnte so schön und hell für alle sein, dachte der Dichter. — Arbeit, Freiheit. Eine Frau mit weißem Gesicht und dunklen Augen. Das Schlafzimmer . . . schön beleuchtet. „Hast du’s erfahren, Mutter? Einsperren wollten sie mich, wegen meines Artikels.“

„Ja, ich habs gelesen . . . Ich hab ihn aber verstanden. Ich sag dir, ich hab deinen Artikel ganz gut verstanden.“

Unversehens wurde der Dichter heiter. „Sie nannten mich einen Weltverbesserer.“

„Ja, ja . . . Wenn der Vater nächstes Jahr wirklich die drei Mark Wochenlohn mehr bekommt . . ., dann gehts uns auch besser. Dann wirds schön sein.“

„Sechzig ist der Vater jetzt?“

„Oh! ins Siebenundsechzigste geht er.“

Guter Gott, dann wirds schön sein, glaubt sie. Immer noch Illusionen, immer noch, dachte der Dichter. Und sein Leben lag entlarvt und gemein vor ihm. „Dann wirds schön sein“, sagte er zärtlich zur Mutter, in plötzlicher, trauriger, ungeheurer Liebe, worauf die Mutter beglückt ihn neben sich aufs Kanapee zog.

Und durch die nach vierzehn tödlich harten Jahren zum ersten Male wieder empfundene Weichheit schritt aufrecht der Lehrer. Das Gesicht des Dichters wurde spitzig.

Es klingelte.

So starr blickte der Dichter zur Wand, daß er das Aufstehen der Mutter nicht bemerkte, die lautlos aus dem Zimmer ging.

„Schulausflug . . . durch den Wald“, tastete er, den Atem angehalten, und horchte dabei auf das Schimpfen der fremden Stimme in der Küche.

Wie ein junges Mädchen sieht sie jetzt aus, dachte der Dichter gerührt, als er seine Mutter ansah, die verlegen zurückkam. Bis zum weißen Scheitel stieg in ihr die Schamröte.

Seine Gedanken kehrten sofort zum Schulausflug zurück.

„Die Milch . . .“

„Die Milch?“ unterbrach der Dichter entsetzt.

„Weil ich die Milchrechnung nicht bezahlen konnte.“

„Halt!“ brüllte er und sprang auf. „Nein, still!!“ Mit der Hand hielt er die Mutter weg und blickte starr auf das Schulerlebnis, das jetzt scharf aufhellte. Sein ganzer Körper begann zu zittern, sein Gesicht verzerrte sich wie das eines Verfolgungswahnsinnigen, den der Arzt in eine Krise versetzt hat. Bebend klammerte er sich an die Mutter an — der Traum blitzte auf. Und seine weißen Lippen formten die Worte: „Weil ich bei dem Schulausflug die zehn Pfennige nicht hatte, um das Glas Milch bezahlen zu können . . .“

„Anton! Anton! O Gott! Was ist denn! Trink Wasser . . . Willst du ein Glas Milch?“

„. . . ließ mich der Lehrer nicht mit ins Wirtshaus gehen. Ich mußte vor dem Zaune stehen . . . vor allen Schulkameraden.“

Er stieß ein klagendes Wimmern aus.

„Anton, komm doch zu dir! Ich geb dir Wasser . . . ein Glas Milch!“

Da flehte der Dichter kindlich: „Oh, bitte, Glas Milch . . . Mir auch Milch.“

Als die Mutter zurückkam, war die Krise vorüber. Wunderbar lächelnd saß er auf dem Kanapee und nahm, glücklich wie ein Knabe, die Milch aus der Mutter Hand. „Acht Jahre war ich alt, damals.“

„Was ist denn?“

„Ganz vergessen hatte ich es.“

„Was redest du?“

„Später. Ich erzähle dirs später.“ Er hob das Milchglas. „Die ist nicht bezahlt?“

„Jetzt warum redest du so . . . Das richt ich schon alles noch.“

„Mutter, Milch muß man bezahlen können . . . Sonst leidet man zweiundzwanzig Jahre lang darunter.“

„. . . Dich versteh ich nicht mehr.“

Er stellte das Milchglas auf den Tisch zurück, ohne getrunken zu haben. „Ihr seid also immer noch so furchtbar arm wie früher?“

„Oh, Anton! . . . Aber wenn der Vater jetzt die drei Mark mehr bekommt, dann gehts uns besser. Wir sehn getrost in die Zukunft.“

„So wird man zum Weltverbesserer.“

„Das Brot soll jetzt auch um sieben Pfennige billiger werden . . . Erinnerst du dich noch: als Junge bist du oft im Dunkeln mit einem Sack an die Rückseite der Infanteriekaserne geschlichen.“

„Um billiges Kommißbrot von den Soldaten zu kaufen.“

„Die wollen lieber Weißbrot essen.“

„Und einmal haben die Soldaten einen Eimer voll Spülwasser über mich geschüttet, anstatt mir Brot zu geben.“

„Tropfnaß bist du nach Hause gekommen.“ Die Mutter legte dem Dichter die Hand auf die Schulter und lachte. „Wie ein Hund, der ins Wasser gefallen ist. So naß. Oh, und fettig warst du!“

„. . . Und der Vater hat mich geprügelt dafür.“

„Ja no, weil halt dein ganzer Anzug verdorben war.“ Der Dichter sagte nachdenklich: „Viele solche Sachen . . . Aber das eine, das mit der Milch, habe ich nicht mehr gewußt.“

„Trink sie doch!“

„Warum nicht!“

„Und ich muß jetzt ins Bett, Anton. Um fünf Uhr früh geht der Vater auf die Arbeit. Ich richt dir das Kanapee zum Schlafen.“

An der Fensterwand hing die Schwarzwälder Uhr. Sie legten sich nieder.

Der Perpendikel ging zwischen Mutter und Sohn hin und her.

So viele Familien es gibt, so viele Wohnungsgerüche gibt es, dachte der Dichter. „Hier riechts nach Schweiß und süßem Stroh,“ flüsterte er im Halbschlaf, „nach Vater.“

„Der kommt auch bald heim.“

„Das Käfiggitter ist aus Gold.“

„Was sagst du?“

„Nein, ich hab doch kein Gepäck!“

„Schläfst du?“ Die Mutter horchte auf die Atemzüge ihres Sohnes und verlöschte die Kerze.

 

Am andern Tage, beim Spaziergang durch das Heimatstädtchen, schienen dem Dichter die Häuschen kleiner geworden, zusammengeschrumpft, zur Hälfte in die Erde gesunken zu sein.

Als er noch einmal durch die einzige Geschäftsstraße ging, war er schon im Bilde seiner Jugend. Nichts hatte sich verändert im Städtchen. Nur dreißig Meter Asphalt waren in der Geschäftsstraße gelegt worden. Unauffällig beobachtete er die Bürger, die stehen blieben und sich befriedigt über den Asphalt unterhielten.

Der Dichter ging ins Café, durchblätterte die neuesten Zeitungen und fand, daß er sie schon vor seiner Abreise in Berlin gelesen hatte. Wie einen Automobilrennfahrer, dessen Motor auf der Strecke aussetzt, befiel ihn Beklemmung, in dem Bewußtsein, sich in einer Stadt zu befinden, die drei Tage hinter der Welt herlebte.

Die Öde steigerte sich, da es ihn beim Rückweg wieder zur Geschäftsstraße zog, die ihm schon nichts mehr Neues bot.

Eigensinnig bog er in die Lochgasse ein. Die war dunkel und so eng, daß die Dachrinnen der krummen Häuserreihen einander fast berührten.

Erst als er schon vor dem Hause stand, dachte er daran, daß auf seine Frage hin die Mutter ihm gesagt hatte: Herr Lehrer Mager wohne jetzt in der Lochgasse.

„Früher wohnte er doch am Rennweg.“ Der Dichter las den Namen auf dem Porzellanschild, blickte am Hause empor und fragte sich mißtrauisch, wieso denn erst jetzt, da er schon vor dem Hause stand, ihm einfiel, daß die Mutter gesagt hatte: der Lehrer Mager wohne in der Lochgasse.

Da erinnerte er sich, daß er nach dem ergebnislosen Versuch in der Eisenbahn, sich seinen Traum ins Gedächtnis zu rufen, flüchtig daran gedacht hatte, den Lehrer zu besuchen. Dieser wiederholten Vergeßlichkeit wegen steigerte sich sein Mißtrauen. „Fehlt mir vielleicht der Mut, den Lehrer zu besuchen, weil ich diese Angelegenheit zweimal von mir wegschob?“

Und plötzlich klopfte rasend sein Herz, bei dem Entschluß, die Treppe hinaufzusteigen. Die Angst des Schulknaben war ihm in die Brust gesprungen. In Gedanken stand er vor dem Lehrer: achtjährig. Und mußte die Augen schließen und die Hände tastend vorstrecken, um ein Minimum von Selbstbeobachtung erübrigen zu können.

„Aber ich bin doch dreißig Jahre alt“, sagte er laut, las grübelnd den Namen auf dem Schild, klinkte die Haustür auf — da stiegen Jahre und Erfahrung von ihm weg in die Luft. Als Schulknabe schlich der Dichter angstbehangen aus der dunklen Lochgasse.

„Es ist mir also unmöglich?“ fragte er und blieb stehen, in der sonnigen Geschäftsstraße. „Bring die Furcht nicht heraus aus mir? . . . Ist das mit allem empfangenen Leid so?“ fragte er ganz langsam. „Dann trüge der Mensch alle erlittenen Demütigungen mit sich herum? Bis ins hohe Alter. Sein ganzes Leben würde davon bestimmt?“

„Gott, ich fahre sofort nach Berlin zurück. Was geht mich der Lehrer an“, sagte er und ging in der Richtung seiner Elternwohnung, um Abschied zu nehmen.

Im Spiegelglas eines Schaufensters sah er sein Gesicht — ein trotziges Schulknabengesicht. Verblüfft starrte er es an, so daß es sich unter seinem Blicke zu einem verblüfften Männergesicht verwandelte.

„Mit Trotz ist nichts erledigt“, flüsterte er.

Und ohne daß er bewußt den Willen dazu hatte, wandte er sich um und eilte, dicht an den Häuschen entlang, fluchtartig direkt zum Bahnhof.

2

„Den Sack mit Ihren Sachen habe ich auf den Speicher getragen“, sagte die Berliner Wirtin und blieb kampfbereit im Vorzimmer stehen. „Mein neuer Zimmerherr hat die zwei Großen vornehinaus gemietet. Und da hat er Ihre Kammer dazu gewollt.“

„Ich hatte ja nicht gekündigt.“ Der Dichter blickte unausgesetzt aufs Flurfenster, gegen das die harten Schneeperlen prasselten.

„Mein neuer Herr hat gleich für zwei Monate vorausbezahlt.“

„In vierzehn Tagen bekomme ich ganz bestimmt zwanzig Mark. Damit hätte ich Ihnen meine Schuld bezahlt.“

„Die zwanzig Mark sollen Sie jetzt schon . . . ich weiß gar nicht, wie lange Sie die schon bekommen sollen. Es ist ja möglich, daß Sie einmal zwanzig Mark bekommen . . . Mein neuer Herr bezahlt mich im voraus.“

„Ich bezahle auch.“

„Sie sagen immer: ich bezahle . . . Es ist ja möglich.“

„Aber Sie stehen der Sache skeptisch gegenüber“, rief fröhlich der eintretende neue Zimmerherr und reichte seinen Zylinder der Wirtin, deren fettige Hände die Schürze erst eifrig rieben.

Während sie den Zylinder vorsichtig hielt, zog der neue Herr seinen Pelz aus. Und verbeugte sich: „Doktor Wiener.“

Der Dichter sah gleich wieder zurück aufs schneebeschlagene Flurfenster. — Was hab ich hier noch zu suchen? Meinen Sack und fort!

„Von Ihnen weiß ich alles, alles, Herr Seiler. Sie kenne ich wie meinen Bruder“, sagte Doktor Wiener und tätschelte der erschreckenden Wirtin beruhigend die Schulter. Sein Tonfall sank: „Was wollen Sie, warum soll denn der Mensch nicht plappern?“ Doktor Wieners gesundrotes, hübsches Gesicht lachte ununterbrochen. Sein blondes Schnurrbärtchen sprühte Frische und Glanz.

Der Dichter dachte: entweder fort, oder ein gleichgültiges Gesicht machen!

„Also, in einem Vierteljahr übernehme ich das Sanatorium meines alten Herrn, sehen Sie, und bis dahin praktiziere ich noch in der Klinik. Da bin ich fast den ganzen Tag nicht zu Hause. Sie können demnach ruhig in der Kammer wohnen, Herr Seiler. Darum handelt sichs doch . . . was?“

„Wenn Sie denken“, stotterte der Dichter und suchte, trotz seiner Verlegenheit, herauszubekommen, was für ein Parfüm vom Doktor ausströmte. „Ich könnte ja ein ganz anderes Zimmer suchen gehen.“

„Ganz anderes? . . . Überhaupt, bei dem Wetter! Papperlapapp! Sie bleiben hier“, schnitt der Doktor das Gespräch ab. „Ist gut geheizt bei mir?“

„Jaaa, freilich, angenehm durchwärmt.“

„Ist ja großartig!“ rief der Doktor, ohne die Wirtin anzusehen, die neben ihm herlief und beteuernd auf ihn einredete.

„Na, da holen Sie halt Ihren Sack wieder runter!“ sagte sie, nachdem der Doktor in seinen Zimmern verschwunden war.

Und als der Dichter neben seinem Sack in der Kammer saß, dachte er darüber nach, ob er auf eigene oder auf des Doktors Rechnung die Kammer bewohne.

„Wo waren Sie denn heute nacht wieder?“ Sie stand unter dem Türrahmen.

„Nirgends. Gar nirgends!“

„Das geht nicht. Die Leute im Haus . . . Und überhaupt!“

Der Dichter wandte sein einziges Mittel an, die Wirtin in Bewegung zu setzen: blickte ihr wortlos in die Augen, die abschweiften, wieder auf den Dichter sahen, in die Ecke.

Dann hörte er sie in der Küche schimpfen.

Melancholisch hob er die zwei Zipfel in Nasenhöhe — der Sack spie alte Schuhe aus, einen Haufen schmutzige Wäsche, Kerzenstummel, Manuskriptfetzen.

Es klopfte — und Doktor Wiener trat auch gleich ein, im Hausanzug von wattierter Seide.

Der Dichter schleuderte den Sack — eine Kaffeemühle fiel auf den Wäschehaufen und polternd auf die Dielen.

„Donnerwetter! Hier bei Ihnen ists kalt.“

„Kalt.“

„Oho, man faßts tief auf.“ Der Doktor setzte sich auf die Schreibtischecke.

Der Dichter dachte gereizt, vorhin hat er über mich verfügt. „Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, weshalb Ihre Existenz so großartig glatt ist, während Millionen Menschen ihr Leben in Dreck und Elend verbringen müssen?“

„Oho!“

— Er verschanzt sich hinter sein lustiges Oho. „Und dabei sind Sie vielleicht noch besser als viele andere. Aber Ihr Oho genügt nicht . . . Glauben Sie nicht, daß man hin und wieder auch von diesen Dingen reden kann, ohne deshalb ein tiefer August sein zu müssen?“

Der Doktor senkte den Blick vor dem erbitterten Gesicht. „Natürlich traurig, daß es so viel Elend auf der Welt gibt.“

„Denken Sie darüber nach. Wer das nicht tut, ist ja wirklich ein Schurke.“

„Aber ich bitte Sie, Herr Seiler!“

Der Dichter trat ganz nahe an den Doktor heran. Sein Gesicht verzog sich in Selbstverachtung. „Ich empfinde die Not der Allgemeinheit vielleicht nur deshalb, weil ich selbst aus Not ein Schwein geworden bin . . . Materielle Not verursacht Seelennot, versaut die Seele.“

„Sie sind ja ein recht interessanter Nachbar“, versuchte der Doktor, sich aufzuraffen.

„Weil ich Ihnen erläutert habe, wieso wir beide Schweine sind? Ich, weil ich mein Leben lang alle möglichen demütigenden Schweinereien beging, um nicht zu verhungern, und Sie, weil Sie nicht darüber nachgedacht haben, weshalb zahllose Menschen vor Elend krepieren oder zu Halunken werden? . . . Es hat kein Mensch das Recht, eine glatte Existenz zu haben.“

„Sie sind ja ein recht interessanter Nachbar.“

„Ich kenne einen Menschen, der nicht schlechter ist als Sie und ausgerechnet hat, daß er vierzehn Jahre lang jährlich drei- bis fünfmal Mittagessen hatte.“

„Man siehts Ihnen an. Sie sollten Eisen nehmen.“

Der Dichter unterdrückte seinen Zorn und lächelte wirklich. „Um mir Appetit zu machen, den ich nicht stillen kann.“ Da sah er, daß der Doktor mit Verlegenheit kämpfte, und der Gedanke, den Doktor um Geld zu bitten, verursachte auch ihm Verlegenheit. So sahen sie einander an.

„Da rede ich große Worte, und zum Schluß schrumpft das Ganze zu dem Verlangen zusammen, Sie anzupumpen.“

„Aber ich bitte Sie, der Selbsterhaltungstrieb gibt Ihnen recht . . . schließlich. Lassen Sie mal gut sein. Kommen Sie rüber zu mir. Sie sind mein Gast. Fertig!“

Der Dichter rief wütend: „Warum sagen Sie nicht wieder: Papperlapapp!“

Und der Doktor lächelte zufrieden, warf das Kinn zur Brust, die Arme seitwärts. „Der Kampf ums Dasein . . .“

„Ist eine von den Menschen erfundene Gaunerei! Der Planet kann alle erhalten, die er hervorbringt.“

„Planet! Planet! Ihnen fehlts nur an gesundem Menschenverstand“, sagte der Doktor und legte dem Dichter die Hand väterlich auf die Schulter.

Der trat flammend zurück. Und der Zorn in seinen Augen wurde sichtbar zu Hohn. Er sagte deutlich: „Da erlaubt sich eine kleine Minderheit, den Verstand von Abermillionen so krank zu machen, daß sie in ihrem Elend am Ende schon glauben, das Elend müsse sein. Und für diese die Erde verdunkelnde Niedertracht nimmt die Minderheit den gesunden Menschenverstand in Anspruch.“

Der Doktor lachte: „Das haben Sie hübsch gesagt.“ Und rief fröhlich: „Es kommt eben auf die Kraft an. Der Stärkere setzt sich durch . . . Und das ist ganz in Ordnung.“

„Auf Kosten der Unterdrückten mit Brutalität sich durchsetzen, ist nicht in Ordnung“, sagte der Dichter und ging zu seinem Sack.

„Wieso Brutalität?“

Er hatte die Kaffeemühle aufgehoben und drehte beim Sprechen. „Die Herren des Lebens könnten sich sagen: die Unterdrückten haben Augen wie wir . . . und es ist brutal, auf Kosten von Wesen der eigenen Art das Leben zu genießen.“

„Aber ich bitte Sie, Ihr gesunder Menschenverstand . . .“ „Ich hab ihn nicht!“ Er ließ die Kaffeemühle senkrecht auf den Wäschehaufen fallen und sah den Doktor an.

„. . . muß Ihnen doch sagen, daß ein gebildeter Mensch feiner organisiert ist und demzufolge andere Bedürfnisse hat als . . . unsere Wirtin.“

„Hn? . . . Das Genußverhältnis darf sich differenzieren zwischen Ästhet und Klosettreiniger? . . . Der Herr und Ästhet des Lebens ist ein unästhetischer Verräter an seiner eigenen Wesensrasse, weil er vergißt, daß auch beim Klosettreiniger sich das Wunder des Seins offenbart. Das müßte die Minderheit eigentlich demütig machen, wie?“

„Sie stehen dem wirklichen Leben phantastisch gegenüber.“

„Ach nein, ich bin ganz einfach.“

Der Doktor streckte die Hand aus und rollte sie auf sich zu in die Hüfte. „Wie wollen Sie denn dem Tüchtigen und Glücklichen, der ein sorgenloses Leben führt, klarmachen, daß er nicht viel mehr wert ist als der Kloakenreiniger . . . Das geht zu weit, Herr Seiler.“ Seine Finger zappelten über dem Kopfe. „Nein nein nein! Das Leben ist anders.“

Der Dichter schwieg.

Der Doktor sagte: „Hier ists fürchterlich kalt“, und zog fröstelnd seinen Hausrock über der Brust zusammen. „Trinken Sie einen Kognak bei mir.“

Da sah der Dichter mit einem Blick von Berlin in seine Heimatstadt — dem Lehrer Mager direkt ins Gesicht. Und der Doktor sah die starren Augen des Dichters an, die nicht mehr in der Kammer waren.

„Kommen Sie mit hinüber.“

„Einen Likör?“

„Ja, oder alten Kognak.“

Die Augen kehrten zurück in die Kammer zum Doktor. Der Dichter schauerte zusammen.

Und als er dem Doktor in den durchwärmten, eleganten Salon folgte, blieb er im Türrahmen stehen, damit die Wärme in die kalte Kammer ströme.

„Schließen Sie, es geht kalt herein.“

Der Dichter öffnete die Tür ganz, ging sehr langsam zum Wäschehaufen zurück und tat, als suche er etwas.

Die Kammer füllte sich rasch mit Wärme.

„Wissen Sie,“ sagte er und blieb wieder in der offenen Tür stehen, „Ihr warmer Salon und meine kalte Kammer illustrieren gut das Besprochene.“

„Aber machen Sie nur schon endlich zu!“

„Ich sagte Ihnen ja, daß wir beide schmutzig sind . . . Ich mache allerhand kleine Schweinereien — schinde Wärme; und Sie geben freiwillig keine ab.“ Er schloß die Tür.

„Ach deshalb! Bitte, öffnen Sie doch, ich nehme eine Decke um“, sagte der Doktor und machte ein abweisendes Gesicht.

Die Stimme des Dichters wurde immer stärker. „Seit Jahrtausenden verlangt der Mensch brüllend, stinkend demütig, stöhnend, irrsinnig, daß der Planet ihn ernähre . . . Ich hasse die Repräsentanten all derer, die das verhindern.“

Da habe ich mir etwas aufgeladen, dachte der Doktor und sagte unfreundlich: „Na na, nicht so laut!“ Er zündete das Nachtlicht an. „Der gesunde Menschenverstand sagt einem doch, daß es Unterdrückte und Unterdrücker geben muß. So ist das Leben . . . Trinken Sie doch Ihren Kognak!“ Er machte weitere Vorbereitungen zum Schlafengehen.

Und der Dichter hielt sich für hinausgeworfen. Er sagte gedemütigt: „Arbeiten muß ich auch noch heute“, verließ hastig das Zimmer und schloß die Tür.

„Ah, Sie wollen schon gehen, schade.“

„Hat er wieder über mich verfügt.“ Starr blickte der Dichter auf den Wäschehaufen. Und während er den Zettel entfaltete, den die Wirtin auf den Muschelschreibtisch gelegt hatte, flüsterte er: „Gegen Doktor Wieners kommen wir nicht auf, kommen wir nicht auf, nie auf . . . wenn wir etwas von ihnen brauchen.“

Wie immer nach solchen Erlebnissen, schien es ihm unmöglich zu sein, Würde in sein Leben zu bringen, und der Ekel vor sich selbst versetzte ihn in letzte Hoffnungslosigkeit.

„Wenn Sie nicht bezahlen, müssen Sie morgen ausziehen. Herr Doktor Wiener hat sowieso die Kammer mitgemietet“, schrieb die Wirtin.

Vor Hunger begann sein Magen wieder zu schmerzen. Es wurde ihm übel vom Geruch der alten Wäsche; er schob sie unters Bett.

Beim Schein zweier Kerzenstummeln versuchte er zu arbeiten.

Der Wunsch nach des Doktors Kognak quälte ihn. Während er schrieb, beschäftigte ihn ununterbrochen die Frage, von wem er etwas Geld bekommen könne für die Miete. Es fiel ihm nur das Straßenmädchen ein, das er einmal kennen gelernt hatte.

Ohne daß er sich dessen bewußt geworden war, hatte er auf den Manuskriptrand geschrieben: Kann denn ein Mensch sich von einer Hure Geld geben lassen? Hurengeld. Nachtgeld. Beinegeld. Schoßgeld. Männer, Männer — Schweinegeld . . . von den guten Mädchen?

„Geben würde sie es mir . . . Sie ist ja ein gutes Luder.“

„Wie wohl der gesunde Menschenverstand darüber denkt“, flüsterte der Dichter und trat zur verschlossenen Tür. „Herr Doktor! Hören Sie! Herr Doktor! . . . Glauben Sie, daß ein Mann, der noch etwas auf sich hält, von einer Hure Geld annehmen kann?“

Der Doktor fuhr im knarrenden Bett in die Höhe und schrie erschrocken: „Hallo! . . . Ist wer da!“

„Glauben Sie, daß ein anständiger Mensch sich von einer Hure Geld schenken lassen kann?“

„Von einer . . . was?“

„Hure!“

„Hören Sie, eigentlich schlafe ich schon.“

„Man könnte sich ja sagen: schließlich hat auch die Hure Augen!“ schrie der Dichter.

„Gott, mag der Kerl sich meinetwegen aushalten lassen“, rief der Doktor ärgerlich. „Das ist ja nichts Neues.“

Und der Dichter flüsterte: „Dann würden wir eben einander wert sein, meint er . . . Für den gesunden Menschenverstand ist die Lösung einfach. Aber ich, aber wir, wir, wir alle, wir betteln noch lieber die Hure an als den gesunden Menschenverstand.“

Automatisch griff er nach Mantel und Hut und verließ das Haus.

Es war gegen zwölf Uhr nachts. Der Kurfürstendamm war fast menschenleer und unwirklich hell vom Schnee.

Der Dichter sah auf den Bettler, der, gegen die Gartenmauer gelehnt, im Schnee saß und eintönig die Ziehharmonika spielte.

Ein überelegant gekleidetes Straßenmädchen warf ein Geldstück in den Hut des Bettlers, der sein Spiel unterbrach und ein anderes Lied zu spielen begann:

Die Liiiiiebe ist das Schönste,

Das Schönste auf der Welt.

Das Straßenmädchen blieb stehen, schimpfte wütend zum Bettler zurück.

„Weshalb verhöhnen sie denn Ihre Wohltäterin mit diesem Liede?“ fragte der Dichter.

Und der Blinde richtete die leeren Augenhöhlen fragend in die Höhe.

Ein vages Glücksgefühl ergriff den Dichter. „Das Schööööönste auf der Welt“, sang die Ziehharmonika. Und als er das elegante Mädchen eingeholt hatte, sagte er: „Sie, er ist blind.“

Das gewohnheitsmäßige Anbietungslächeln erschien auf ihrem gepuderten Gesicht.

„Wir haben uns getäuscht, er ist blind“, sagte er eindringlich. „So etwas macht der nicht. Der gehört ja zu uns.“

Lächelnd nahm er sie bei der Hand und scherzte: „Der gesunde Menschenverstand brächte das fertig. Glauben Sie nicht?“

Sie begann, ihn abschätzend zu mustern.

Da ging er schnell davon, bis zum Platz, wo das ihm bekannte Straßenmädchen wohnte. Aus dem Nachtcafé unten im Hause klang die neueste Operettenmelodie.

Sie öffnete selbst. Ihr weißseidener Schlafrock stand vorne offen. Und als sie den Dichter erkannte, fuhr sie ungeniert fort, prüfend ihre linke Brustwarze zu drücken. „Seit einer Woche habe ich Schmerzen. Sehen Sie . . . den blauen Fleck.“

Er versuchte zu scherzen: „Was haben Sie denn da wieder angestellt?“

„Das hab doch ich nicht angestellt.“ Lachend zog sie ihn ins rote Zimmer. Auch die Ampel war rot. Und das unberührte rote Himmelbett war geöffnet.

Plötzlich lag sie wie eine müde Katze zusammengerollt auf der Ottomane. Ihre Kniekehlen ruhten im Ellbogengelenk. „Das macht der immer.“

„Was?“

„Mit meiner Brust . . . Und danach verlangt er immer etwas ganz Unglaubliches von mir . . . Meinetwegen.“

Der Dichter sah in die Ecke. — Und da will ich Geld von ihr verlangen. „Es gibt Sachen, die unmöglich sind.“

„Gott, nein.“

„Was! Hab ich etwas gesagt?“

Sie lag noch immer reglos.

Der Dichter kannte ihre Geschichte. Vor einigen Monaten hatte er sie total betrunken auf der Straße gefunden. Sie war von ihren Eltern fortgejagt worden, weil ein Reichstagsabgeordneter sie verführt und sie sich geweigert hatte, ihn als den Vater ihres Kindes zu nennen. Der Dichter wußte, daß der Abgeordnete weiter in ihrem Elternhause verkehrte.

„Das Instrument wickelt er dann immer in ein Beinkleid seiner Schwester . . . Und mir legt er zwanzig Mark auf den Tisch.“

„Wer?“

„Der Abgeordnete.“

„Der . . . kommt noch zu Ihnen?“

„Warum nicht?!“

Und dabei rührt sie sich nicht, dachte der Dichter entsetzt. „Aber wirklich, nicht aus Neugierde. Wie alt waren Sie . . . damals?“

„Ich? Sechzehn.“

Der Dichter sagte plötzlich: „Soll ich Sie heiraten?“

„Und ich wußte damals gar nichts von diesen Sachen. Wahrhaftig, ich lüge nicht.“

Sie hälts für so unmöglich, daß sie glaubt, ich hätte gescherzt, dachte er.

Und wußte plötzlich mit seinen Händen nichts anzufangen. Es war, wie wenn sie nicht zu ihm gehörten, als er sagte: „Ich brauche sehr notwendig zwanzig Mark. Können Sie mir die vielleicht geben? . . . Aber ich habe nicht gescherzt, vorhin. Wirklich nicht.“

Da stand sie auf.

Und der Dichter sah befangen in ihr erstauntes Gesicht, das aber sofort den Ausdruck automatischer Lustigkeit annahm. Lachend sagte sie: „Ich habe momentan gar nichts.“

Er ließ die Hände sinken. Sein Gesicht verschloß sich. „Darf ich?“ sagte er, griff nach der Zigarette und dachte gequält — jetzt glaubt sie dasselbe wie der gesunde Menschenverstand.

Es klopfte — die Wirtin streckte den behaubten Kopf herein. „Es kommt ein Herr.“ Sie schloß die Tür leise wieder.

Sichtbar stieg dem Mädchen das Blut in die Wangen, als sie den Dichter ansah.

Der lächelte unnatürlich.

„Gehen Sie ins Nebenzimmer . . . Ich kann Ihnen das Geld dann gleich geben.“ Dabei sah sie ihm gerade auf die Augen, ohne ihm in die Augen zu sehen.

Schon eine lange Minute stand er im Nebenzimmer, als ein sehr großer, brünetter Herr im Frack zum Mädchen ins rote Zimmer trat. Er schwankte kaum bemerkbar. Auffallend an ihm war, daß sein linkes Auge fast um einen Zentimeter tiefer im Gesicht stand als das rechte. Das Klirren des für ihn bestimmten Geldes riß dem Dichter die Luft aus den Lungen.

Dann hörte er das heftige Armen im roten Zimmer und preßte die Fäuste an die Schläfen. Er rührte sich nicht mehr.

Bis das Mädchen die Tür öffnete.

Äußerlich und innerlich zerwühlt, stierte er auf das verwühlte Himmelbett.

Das Mädchen wusch sich die Hände.

— Ich nehme das Geld nicht. Ich brauche es gar nicht. Es war nur ein Scherz — wollte er sagen.

„Hier“, sagte sie, während sie die Hände trocknete. „Sie zwanzig . . . ich zwanzig“, und schob ihm das Goldstück hin.

Da sank ihm die Unterlippe schlaff herab. Alles an ihm wurde schlaff. Verurteilt und verkauft ging er mit dem Geld aus dem Zimmer.

Ohne Widerstand zu leisten, ließ er sich direkt zum Bahnhof gehen, um wieder in die Heimatstadt zu fahren, wo im dunklen Erlebnisknäuel seiner Jugend die Ursachen seiner Haltlosigkeit, seines untergrabenen Selbstbewußtseins, seines ruinierten Lebens zu finden sein müßten.

In der Eisenbahn träumte er: ein gewaltiger Zug junger Menschen zieht gleich ihm nach den verhaßten Heimatstädten, die Kindheit zu durchforschen nach dem Messer, das ihnen allen die Sehne der Kraft durchschnitten hat.

3

Um acht Uhr früh kam er an, verstört, mit brennenden Augenlidern.

Morgennebel und Dämmerung hingen noch in den Gassen. Der Dichter sah nach Osten, wo zart und strebend die Morgenröte stand.

Geradeswegs ging er in die Lochgasse. Der Gedanke hatte sich in ihm festgesetzt und alles andere verdrängt: Lehrer Mager müsse sein Unrecht einsehen und ihn um Entschuldigung bitten. Das würde ihm die Kraft zur Reinigung geben, zu einem neuen, rückgratvollen Leben.

Und als er die steile, muffige Treppe hinaufstieg, erlebte er die Versöhnung im voraus; er dachte, der Lehrer, der schon damals erwachsene Söhne gehabt hatte, werde jetzt ein weißhaariger, gebeugter Mann mit der Einsicht und Güte des Alters sein, mit dem sich auszusöhnen leicht fallen müsse.

Die alte Wirtschafterin ließ ihn ins niedere, mit geerbten Familienmöbeln vollgestopfte Arbeitszimmer eintreten.

Und der Dichter blickte entgeistert zum Lehrer hin, der am Schreibtisch stand, aufrecht wie ein Pfosten, zäh, mit noch dunkelrotem Haarkranz: vollkommen unverändert.

Die Mundwinkel voller Wut und hämisch in die Wangen zurückgezogen, las er den Aufsatz eines Schülers. Auf dem Schreibtisch befanden sich zwei Stöße blauer Schulhefte, korrigierte und unkorrigierte.

Der Dichter stand im Dunkel an der Tür. Der Lehrer hatte ihn noch nicht bemerkt. Er setzte sich und korrigierte mit roter Tinte den Aufsatz, wobei sein Gesicht in dem Gemisch von Wut und hämischer Freude erstarrt blieb, vom Schein der Petroleumlampe getroffen.

„Der Teufel. Der Teufel.“

„Wie? . . . Sind Sie schon zurück, Josephine?“

„Ich wollte Sie einmal besuchen“, flüsterte der Dichter sehr leise. Er zitterte am ganzen Körper so stark, daß auf dem Biedermeiertisch, an dem er sich festhalten mußte, die bemalte Kaffeekanne schepperte.

Der Lehrer klappte das korrigierte Heft entschlossen auf den Stoß.

Jetzt bemerkte er den fremden Menschen in seinem Zimmer. Der Schreck riß ihn vom Stuhl auf in halbe Kniebeuge. „. . . Wer! Wer sind Sie! . . . Was wollen Sie denn hier!“

„Ich bin ein früherer Schüler von Ihnen. Sie waren mein Lehrer. Ich heiße Anton Seiler.“

„Seiler? . . . Seiler? Haben Sie gestottert in der Schule?“

Eine Blutwelle verdunkelte dem Dichter den Blick.

Und als er wieder sehen konnte, bemerkte er am schrecklichen Lächeln des Lehrers, daß dieser sich erinnerte. Am selben Lächeln, mit dem der Lehrer, wenn der Dichter stotternd stecken geblieben war, ihn der ganzen, belustigten Klasse ausgeliefert hatte.

Der wird mich nicht um Entschuldigung bitten, sagte der Dichter zu sich. Und glaubte körperlich zu fühlen, wie in seinem Innern die letzte Möglichkeit zur Rettung erlosch. Da stand er wie ein Schulknabe, in kraftlosem Haß.

Die Haushälterin kam und reichte dem Lehrer einen Hundertmarkschein: „Der Bäcker kann ihn auch nicht wechseln.“

Zwei Schulknaben waren hinter ihr eingetreten. Sie blieben an der Tür stehen.

„Guten Morgen, Herr Lehrer, wir wollen die Hefte abholen“, sagte der Größere, schulmäßig singend.

Und der Kleine, der neben dem andern nur bis zur Brust reichte, nahm, unter dem starren Blick des Lehrers errötend, erst jetzt die Mütze ab. Langsam zog der Lehrer den Blick zurück. „Einen Moment“, sagte er zum Dichter.

Vorsichtig, und mit allen Sinnen aufnehmend, begann der Kleine sich umzusehen; er war zum ersten Male bei seinem Lehrer in der Stube.

Wie wenn er sich als Knaben erblickte, sah der Dichter mit tiefer, schmerzlicher Rührung den Kleinen an, die Augen, denen Angst den Blick bestimmte, den schon vom Leid gezeichneten Mund, die zartmodellierte, schneeweiße Kinderstirn.

Da lächelte der Kleine zum Dichter hin; augenblicklich verschwand das Lächeln, als der Lehrer sich bewegte.

Und der Dichter hatte das bestimmte Gefühl, daß die Seele gelächelt hatte und in Schrecken erstarrt war.

Das Kratzen der Feder verschärfte die drückende Stille.

Der größere Junge empfand sie nicht; er schneuzte sich laut und stand dabei fest und sicher auf seinen nach innen gerichteten Füßen.

Der Lehrer erhob sich, ebnete den Heftestoß, stellte ihn senkrecht. Der große Schüler warf seine Mütze resolut unter die Achselhöhle und trat aus dem Dunkel in den Lichtkreis. Zögernd und sehnsüchtig näherte sich auch der Kleine.

Aus der Schreibtischlade nahm der Lehrer zwei Himbeeräpfel, gab einen dem großen Schüler. Und als er den Kleinen erkannte, entstand in seinem Gesicht wirkliches Staunen, das langsam zum hämischen Lächeln wurde. „Ah . . . der Weigand kommt, die Hefte holen?“

Energisch legte er den zweiten Apfel wieder in die Schreibtischlade zurück, suchte das eben korrigierte Aufsatzheft des Kleinen aus dem Stoß heraus. „Da geh mal her!“

Das Herz des Dichters begann rasend zu klopfen.

„Du . . . schämst dich also nicht, auch noch zu mir zu kommen?“

Der Kleine verschluckte den Speichel.

Sein mit roter Korrigiertinte verschmiertes Heft lag geöffnet auf dem Schreibtisch. Wortlos blickte der Lehrer einige Male vom Heft zum Schüler, streckte die gekrümmte Hand aus. Sein Blick zwang den Kleinen, das Ohr der Hand entgegenzuneigen.

Mit einem Ruck zerrte er den Schülerkopf zum Heft und stieß des Kleinen Gesicht darauf.

Vorgebeugt blickte der Dichter auf diese Szene seiner Jugend, eiskalt, als wäre sein Leben in des Kleinen Körper übergegangen.

Immerzu stieß der Lehrer des Schülers Gesicht aufs Heft und rief dabei: „Regen mit ch! Essen mit ß! Keule mit äu! Und mit zwei mm schreibst du Amen? Amen!“

Er schleuderte ihn zur Wand. Der Kopf schlug gegen die Türvertäfelung. Der Kleine richtete sich wimmernd auf. Sein furchtbares, leises Weinen klang in die Stille. Der größere Schüler stand ruhig wie ein Soldat.

Und des Lehrers glühendes Gesicht bebte. „Du Frechling wagst es, zu mir zu kommen? . . . Antworte!“

„Antworte!“

„Ich wollte auch einmal die Hefte tragen.“ Das Schluchzen verschlug ihm die Stimme.

Wütend rieb der Lehrer mit dem Siegelring an seinem Finger des Kleinen Stirn: „Was . . . hast du . . . denn da . . . drinnen!“

Der Dichter saß wie eine Leiche und starrte in kaltem Entsetzen auf das rote Malzeichen, das auf der schneeweißen Kinderstirn leuchtend hervortrat.

„Das Mal, das Mal auf seiner Stirn wird nie mehr vergehen. Sie haben ihn gezeichnet“, sagte der Dichter tonlos und laut. „Und wenn es verschwindet, äußerlich, dann ist es ihm ins Gehirn getreten . . . und der Gezeichnete trägt das Mal in der Seele, sein Leben lang.“

Da begann neben dem Hause dröhnend und gewaltig die Kirchenturmglocke zu läuten. Die Stube erzitterte. Der Kleine stand mit ausgebreiteten Armen, eine Hand fluchtbereit am Türdrücker, die Augen entsetzt offen, wie ein Gekreuzigter an die Wand gepreßt. Die Striemen leuchteten auf seiner Stirn. Alle vier standen.

Der Lehrer klappte das Lineal auf den Schreibtisch. Der größere Schüler packte den Stoß Hefte energischer.

Und als die Knaben gegangen waren, sagte der Lehrer:

„Den ganzen Tag Ärger in der Schule und in den wohlverdienten Ruhestunden den Lümmeln die Fehler korrigieren!“ Er setzte sich und sah den Dichter an.

„Was sagen Sie dazu?“

Die Kirchenglocke schlug noch einige Male an und verklang.

„Wie viele Knaben haben Sie gezeichnet ins Leben geschickt?“

„Wie denn, gezeichnet? . . . Ich unterrichte seit fünfundvierzig Jahren. Es sind viele, viele, die ich vorbereitet habe fürs Leben. Und wenig Dank! Glauben Sie mir.“ Seine beiden Hände fuhren wühlend in der Schreibtischlade herum.

„Erinnern Sie sich noch“, der Dichter sprach ganz langsam, „an einen Schulausflug in den Gutenbergerwald . . . Da war ein Schüler wild und fröhlich.“

„Durch den Laubwald nach Reichenberg?“

„Stieg auf Bäume, lachte und sang.“

„Damals, als ich der Klasse die Hünengräber im Walde zeigte und erklärte.“

„Der Schüler war ich.“

„Und Sie waren sonst immer so verkrümpelt und still. Ich entsinne mich.“

„Und im Wald plötzlich so wunderbar glücklich und wild.“

Der Lehrer bemerkte den Mörderblick des Dichters nicht.

„Und als wir zum Wirtshaus kamen . . . ließen Sie mich nicht mit hineingehen, weil ich die zehn Pfennige nicht hatte, um ein Glas Milch kaufen zu können.“

„Ja, zu laut und ungebärdig waren Sie im Wald.“

„Ich mußte vor dem Wirtshaus stehen bleiben, am Zaun.“

„Richtig, noch dazu waren Sie der einzige, der kein Geld hatte.“

„Diese Demütigung vor allen Schulkameraden traf mich damals ins Herz.“

Der Lehrer sah abweisend dem Dichter in die furchtbaren Augen.

„Ich war vorher so fröhlich gewesen . . . Und trage vielleicht seitdem das Mal . . . das Mal!!“ erhob sich die Stimme des Dichters, und langsam erhob sich auch der Körper vom Stuhle, „das glühende Mal in . . . meiner . . . Seele!“ Die ganze Kraft seines Körpers ging in des Dichters würggespreizte Hände über, die dem zur Wand zurückweichenden Lehrer folgten.

— — — Der Adamsapfel glitschte noch einmal unter des Dichters Daumen weg, eine Sekunde lang lockerten sich die Würghände — dann drückten die Daumen den Adamsapfel tief in den Hals hinein.

Die ächzenden ä- und e-Laute verebbten.

Solange der Körper an der Wand zu Boden glitt, ließ der Dichter die Hände am Hals des Toten.

Als er sich aufrichtete, sah er in der verwühlten Schreibtischlade den Himbeerapfel liegen, den der Kleine nicht bekommen hatte. Ein irrsinniges Lächeln der Befriedigung entstellte des Dichters Gesicht, als er den Apfel nahm und einsteckte.

Da erblickte er den Hundertmarkschein.

Und hatte momentan eine Vision — vom Mittelpunkt eines fernen Landes reichte bis zu ihm ein gewaltig auseinandergezogenes Gummiseil, das er sich um den Leib knüpfte, worauf das Gummiseil mit ihm, über Städte und Meer, durch die Luft ins fremde Land zurückschnellte.

Da nahm er den Hundertmarkschein und steckte ihn ein. Den Blick in eine unwirkliche Ferne gerichtet, ging er gefühllos und bereit aus der Stube.

Der Gottesdienst war aus. Die Kirchenglocken läuteten zusammen. Viele vermummte Menschen verließen die Kirche und punktierten schwarz die Schneefläche des Marktplatzes.

Der Dichter blieb stehen, schlenkerte die Hände, als wolle er den Mord abschütteln, ging ein paar Schritte, schlenkerte wieder die Hände.

Und hielt beim Weitergehen die Arme steifgebogen von sich weg.

Seine Hand zuckte zurück vom Klingelzug der Elternwohnung, so daß nur ein Glockenton erklang.

„Jesus! . . . Du bists.“ Die Mutter lief schnell voraus ins Zimmer und warf die Decke übers ungemachte Bett.

Die Atmosphäre der Elternwohnung schlug ihn vollends nieder.

„Hn?“ machte er wie ein Betrunkener und ließ die Hände von den zur Brust hochgenommenen Armen gleich Seehundsflossen kraftlos hängen.

„Kind! was ist denn!“

„Hn?“ Den Mund schlaff offen, sah er blöd umher.

Bis die kleine Mutter ihm in den Blick kam. Da schrie er mit biblisch furchtbarem Entsetzen der Mutter zu: „Mutter! Ich hab ihn umgebracht!“ Und flüchtete, vom Teufel verfolgt, wild brüllend aus dem Zimmer.

Wie ein Kind führte sie ihn an der Hand wieder zurück. „Was machst du mir für Sachen! Du mußt ins Bett. Bist ja krank . . . Ich mach dir kalte Umschläge.“ Geschäftig lief sie zum Bett.

„Mutter, ich hab den Lehrer umgebracht“, sagte er automatisch. „Halts aus.“

Da sah sie es ihm vom Gesicht ab und warf die Hände in den Nacken. Ihr erster Schrei war kurz, wortlos. Aus den folgenden Schreien hörte er die immer wiederkehrenden Worte: „Sag nein! Sag nein!“

„Nein“, sagte er, und ein Engel gab ihm ein Lächeln dazu. „Nein, Mutter.“ Und als er ihren zuckenden Körper umfangen hielt, ihren Scheitel streichelte und dabei über ihn wegsah, rang er sich die letzte Kraft ab, um die Worte sagen zu können: „Es war nur ein Scherz.“

„Mütterchen“, sang er zart, und in seinem Gesicht arbeitete Qual gegen Lächeln.

„Warum hast du mir diesen Schrecken eingejagt? Und ich dumme Frau hab dir geglaubt . . . Jetzt, jetzt, jetzt mußt du was essen.“ Sie huschte in die Küche.

Und er lautlos aus der Wohnung und, von der Straßenmitte weg, dicht an den Häuschen entlang.

„Aber ausgesehen hast du, wie wenns wirklich wahr wär“, rief sie aus der Küche. Und trat, in der Hand den mehlbestaubten Kochlöffel, ins Zimmer. „Weißt du, so bin ich in meinem ganzen Leben nicht erschrocken“, sagte sie lächelnd. Und richtete den Blick suchend ins Leere.

Während der Dichter vor dem Postamt stand.

Die Welt hatte sich für ihn vollkommen verändert. Sein bisheriges Leben war scheinbar von ihm fortgezogen. Es war ihm, als stünde er plötzlich auf der anderen Seite des Planeten. Schwere, ganz neuartige Gefühlsklumpen waren in ihm entstanden, mit denen er sich auseinanderzusetzen hatte.

Nur das Erlebnis mit dem Straßenmädchen griff aus seinem alten Leben herüber. Eine Art Abrechnungsbedürfnis bestimmte ihn, ins Postamt einzutreten und die zwanzig Mark nach Berlin an das Mädchen zu senden.

Am Nebenpult sagte ein junger Bursche: „I streun jetz e bißle am Wasser rum.“

Da wußte der Dichter unvermittelt, daß er ein verlorener Mann war, und sah irr dem Burschen nach, der sorglos pfeifend das Postamt verließ.

Alle fünfzehn Polizeidiener und der Wachtmeister des Städtchens standen in der Bahnhofshalle, um den Mörder abzufangen. Weiber, still gewordene Kinder ließen sich nicht wegjagen. Die verstörte Haushälterin des Lehrers stand beim Wachtmeister.

Und als der Dichter die Bahnhofshalle betrat, grau und unscheinbar, deutete sie zurückweichend auf ihn.

Die Schutzleute hoben die fünfzehn langen Pistolen. Und über des Dichters lastbehangenes Gesicht huschte ein schmerzliches Lächeln.

Die Hände den Fesseln entgegengestreckt, trat er verloren in den Schutzmannskreis, der um ihn zusammenschlug.

„An . . . ton Sei . . . ler“, buchstabierte der Wachtmeister aus den Papieren des Dichters, „geboren in . . . Ja, sind Sie denn von hier?“

„Ja, ich bin hier geboren.“

„Dann kanns nur der Sohn vom Wagner Seiler sein“, rief eine Alte, die einen Flanellbettkittel anhatte.

Und der Dichter sagte: „Eine halbe Stunde Hoffnung war alles, was ich ihr noch geben konnte.“

Als er, gleich einem einziehenden Zirkus vom halben Städtchen begleitet, durch die Bahnhofstraße geführt wurde, zweigte die Alte im Flanellbettkittel ab und brachte der Mutter die Nachricht.

4

Ärgerlich blätterte der Untersuchungsrichter in den Akten, schlug die Mappe zu.

Der Dichter hatte den Mord zwar sofort eingestanden, aber der Untersuchungsrichter kam doch seit Tagen nicht vorwärts, denn der Dichter redete immer wieder von einem Glas Milch, das mit schuld daran sei, daß er den Lehrer umgebracht habe.

Des Untersuchungsrichters blondbehaarter Zeigefinger drückte auf den Taster. „Man soll mir den Anton Seiler bringen“, sagte er zum eintretenden Diener. Und zu sich selbst: „Zum letzten Mal!“

Resolut schlug er die Aktenmappe wieder auf und begann, mit dem Taschenmesser die Kruste an seiner Schreibfeder abzuschaben.

Die Hände vor den Leib gefesselt, wurde der Dichter hereingeführt. Sein Gesicht war blaß und faltenlos. Die Oberpartie seines Kopfes — Augen, Stirn — hatte sich stark vergrößert. Über den Brauen waren modelliert hervortretende Höcker entstanden, wie manche Menschen sie haben, die jahrelang angestrengt denken.

Nur das Schaben des Untersuchungsrichters war hörbar.

Und als er sich mit dem Schreibsessel Seiler zudrehte und nervös sagte: „Geben Sie doch schon zu, daß Sie den Lehrer umbrachten, um zu dem Hundertmarkschein zu kommen“, antwortete der Dichter gedankenabwesend erst nach einer Pause:

„Nein, das war es nicht.“

Des Untersuchungsrichters Hand fuhr zur linken Brustseite; er war herzkrank. „Einigermaßen handgreiflich müssen doch auch Sie . . . Ihrerseits motivieren können, weshalb Sie Ihren alten Lehrer erwürgt haben. Man geht doch nicht einfach hin und erwürgt ohne Grund einen Menschen. Sie sahen den Schein liegen . . . und da geschah die Sache, glauben Sie mirs . . . So etwas ist schon manchem vor Ihnen passiert.“

„Ich habe Ihnen schon gesagt, daß die Ursachen meines Verbrechens weit zurückliegen.“

„Bleiben Sie mir um Himmels willen nur mit Ihrem Glas Milch vom Leibe!“ Er nahm die Hände weg von den Schläfen. „Gut, nicht des Geldes wegen! Also gut, nehmen wir an, es war Ihnen nicht nur um den Geldschein zu tun.“ Sein Stimme wurde klein und schnell: „Aber doch in der Hauptsache! Nicht wahr?“

Der Dichter war wieder weit weg mit seinen Gedanken, so daß er eine Weile nicht antwortete und nur den Schluß seiner Gedankenreihe aussprach: „Nein, denn die Hauptsache bei jedem Verbrechen sind immer die Ursachen.“

„Schließlich — wir sind doch Männer —, was solls denn sonst gewesen sein? Was hat er Ihnen denn getan?“ Der Richter stieß die Hände beteuernd vor.

„Getan? . . . hat er mir nichts . . . anderes, als was die meisten Menschen, die meisten Erwachsenen den Kindern antun.“

„Na also! Nichts hat er Ihnen getan. Jetzt sind Sie wenigstens vernünftig.“

„Er hat mich ruiniert.“

Des Richters Kopf zuckte in die Höhe. „Ja aber wodurch denn!“

„Das habe ich Ihnen schon gesagt.“

„Na?“

„Weil er mich damals nicht mit in die Wirtschaft gehen ließ.“

„Glauben Sie, ich sitze hier, um mich von Ihnen zum Narren machen zu lassen!“ brach die Empörung aus dem Richter hervor. Seine Hand fuhr zum Herzen. „Acht Jahre waren Sie damals alt! wie? . . . Und als einunddreißigjähriger Mann gehen Sie hin und ermorden Ihren Lehrer, weil er Ihnen, als Sie ein Kind waren, eine kleine Strafe auferlegt hat . . . Unsinn, was?“

„Weil er mir das Mal ins Gehirn gebrannt hat.“

„Was für ein Mal?“

„Das mich ruiniert hat . . . weil ichs seitdem im Gehirn habe . . . Und solange ich lebe.“

„Die Milch, wie?“ sagte der Richter beißend.

Der Wärter konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Es war vielleicht nicht nur das allein schuld daran. Vieles Ähnliche zusammen . . . Ich erwarte ja nicht, daß Sie mich verstehen, und ich möchte auch nichts mehr sagen.“

„So.“ Der Richter brauchte eine Weile, ehe er sich wieder beherrschte. „Weshalb haben Sie nun eigentlich den Schein genommen . . . nach Ihrer Meinung?“

„. . . Ich glaube, um fliehen zu können . . . Ich hätte ja das Geld gar nicht genommen, wenn ich nicht diese Erscheinung gehabt hätte . . . Das Gummiseil.“

„Ein Gummiseil hatten Sie?“ fragte der Richter gleichgültig und lauerte.

„Aus einem fremden Land ging ein auseinandergezogenes Seil aus Gummi bis zu mir . . . Ich knüpfte mich daran, und das Seil schnellte mit mir übers Meer . . . durch die Luft ins fremde Land.“

Auch der Schreiber riß die Augen auf.

Und der Richter brachte erst nach einer langen Pause hervor: „Teufel auch! . . . Eine fixe Flucht . . . Und die Ankunft? Haben Sie sich auch Ihre Ankunft überlegt mit dem Gummiseil, dort in dem Land? Teufel nochmal!“

„Deshalb nahm ich das Geld.“

„Während Ihrer ersten Anwesenheit in der Heimatstadt standen Sie doch auch schon vor des Lehrers Haustür; weshalb sind Sie da nicht hinaufgegangen?“

„Weil ich Angst vor meinem Lehrer hatte.“

„Als Dreißigjähriger! . . . Angst vor Ihrem Lehrer? . . . Na, hören Sie!“ Der Richter zündete sich eine schwarze Zigarre an.

„An dieser Angst ist ja eben auch das Mal schuld . . . An allem.“

„Seien Sie so freundlich! Sehen Sie, ich kann mit Ihrem Mal wirklich nichts anfangen . . . Und nach Berlin zurückgekehrt, dachten Sie sich den ganzen Plan aus.“

„Nein, ich wollte mich aussöhnen mit dem Lehrer.“

„So, aussöhnen“, sagte der Richter ruhig. „Und anstatt dessen ermorden Sie ihn . . . Ihr gesunder Menschenverstand muß Ihnen doch sagen, daß das Unsinn ist.“

Des Dichters Augen sahen in der Ferne die Kammer.

„Aussöhnen — und anstatt dessen ermorden? Das müssen Sie mir erklären.“

„Das zu erklären . . . ist kompliziert. Dazu fehlen die Voraussetzungen.“

„Mir, wie?“

Der Dichter zuckte bedauernd die Schultern und schwieg.

Und der Richter tauchte die Feder wütend ins Tintenfaß. Dabei lächelte er.

„Zu allem kam auch noch das Entsetzliche mit dem Schulknaben“, begann der Dichter von selbst. „Ich mußte mit ansehen, wie die gleiche Ursache meines Elends dem Knaben ins Gehirn geschleudert wurde. Da empfand ich, daß der Lehrer ein Repräsentant der Seelenzerstörer war . . . und mein Haß erwürgte ihn.“

„Erwürgte ihn“, schrieb der Richter auf. „Und dann, dann nahmen Sie den Hundertmarkschein.“

„Dann, ja, dann nahm ich den Schein.“

„Na, sehen Sie.“ ‚Nach der Tat nahm ich den Schein‘, schrieb er auf. „Nicht wahr? . . . Also, um das Geld zu bekommen, geschah die Sache . . . Reue und Aufrichtigkeit kann Ihnen nur nützen. Was Sie mir sagen, ist ja auch noch nicht absolut verbindlich für Sie . . . Und dann wollten Sie natürlich so schnell wie möglich fliehen.“

„Auch wegen meiner Mutter.“

„Aber durch einen hübschen Zufall waren sämtliche fünfzehn Polizisten auf dem Bahnhof“, sagte der Richter zu sich selbst.

Und der Dichter sagte traumhaft: „Ich wollte gar nicht zum Bahnhof. Auf den Berg wollte ich steigen und noch einmal auf die Stadt hinuntersehen . . . Und dann immer weiter wandern.“

Das notierte der Richter und ließ den Dichter abführen. „Aber auch ein Glück, daß er zum Bahnhof zu diesen fünfzehn Kamelen gelaufen ist“, sagte er zum Schreiber und begann, das Protokoll für die Reinschrift zu diktieren, „denn sonst könnten wir diesen kaltblütigen Erzhalunken jetzt auf der ganzen Welt suchen . . . Solche Gummiseile fehlten uns gerade noch! Was meinen Sie?“

 

In der Zelle stand der Dichter reglos an der Mauer. Seine Gedanken und Gefühle umkreisten die Mutter; seit der Verhaftung litt er nur unter der Qual seiner Mutter.

Der Wärter horchte neugierig am Beobachtungsfenster der Zellentür, als der Dichter vor sich hin sagte: „Welch hartes Herz . . . hartes Herz muß Christus gehabt haben, da er rufen konnte: Was geht mich dieses Weib an, ich kenne es nicht.“

Vergebens versuchte der Dichter, sich zu dieser Selbstlosigkeit um aller Menschen willen emporzuzwingen. Schweifte er auch nur eine Sekunde lang von diesem Gedankengang ab, sank er sofort wieder in die Einzelbeziehung — in die mächtige, dunkle Blutliebe zur Mutter zurück.

„Blutketten sind grausam schwer zerreißbar, Blutketten“, flüsterte er. Und sehnte sich mit der ganzen Kraft seines Wesens nach Befreiung von diesen Gefühlsfesseln, um ganz allein und bereit sein zu können.

Seine dumpfe Liebe ließ es nicht zu. Aus ihr heraus sagte er: „Wenn die Mutter stürbe . . . vorher, das wäre wunderbar.“

Diesem Gedanken hing er nach, dachte ihn zu Ende. Sein Gesicht wurde alt und klar.

Da trat der Gerichtspsychiater ein.

Und fühlte dem Dichter den Puls, fragte ihn noch einmal dasselbe wie bei der ersten Untersuchung, um eventuelle Widersprüche feststellen zu können.

„Nein, meine ganze Familie ist gesund.“

„Ich? . . . Höchstens Schwächezustände wegen Unterernährung.“

Der Wärter stand bei der Tür.

„Geschwister, alle gesund? Keines gestorben?“

„Gestorben? Nein. Meine Schwester hat Selbstmord begangen.“

„Das haben Sie mir das letzte Mal verschwiegen . . . Weshalb tat sie denn das, bitte?“

„Man nimmt an, sie sei verunglückt — beim Baden ertrunken . . . Ich glaube, sie tat es aus Scham, weil der Lehrer ihr die Röcke hinten hochgehoben und sie auf den nackten Körper geschlagen hat, mit seiner Hand . . . vor der ganzen Klasse.“

„Und deshalb? . . . Im allgemeinen ist das für ein Kind kein Grund, sich das Leben zu nehmen . . . Eine Krankheit lag nicht bei ihr vor?“

„Nein . . . Ein bißchen empfindsam sind wir Geschwister.“

„Ein Lehrer tat das?“

„Ja, Herr Lehrer Mager.“

„. . . Derselbe?“ Er strich sich vom Nacken weg über den Kopf, bis zum Mund. Dann glitt die Hand am glänzenden, schwarzen Vollbart entlang, und der Mund öffnete sich nachdenklich.

„Da war sie dreizehn Jahre alt. Sie lief vom Schulhaus weg und sprang in den Fluß. Seit einiger Zeit denke ich mir, daß sie wegen dieser Demütigung in den Fluß gesprungen ist.“

„So mir nichts, dir nichts sollten Sie das aber doch nicht annehmen. Das erste Mal redeten Sie kein Wort von dieser ganzen Sache . . . Vielleicht ist ihr die Puppe hineingefallen oder die Mütze . . . Wie Kinder sind — sie springt nach, will sie herausholen und ertrinkt . . . Das andere wäre nicht normal.“

„Furchtbar normal, Herr Doktor, furchtbar normal! . . . Ein Jahr später kam . . . ich zum Herrn Mager in die Klasse.“

„Und bei sich haben Sie keine besonderen Erscheinungen beobachtet?“

„Ich weiß nichts . . . Meine Mutter sagt, daß ich als Junge mit offenen Augen geschlafen habe.“

„Das können ja . . . Sie selbst nicht wissen. Und sonst?“ „Ich bin ganz normal, Herr Doktor. Will sagen, ich bin nicht irrsinniger als zum Beispiel Sie . . . und Millionen andere.“

„Wie meinen?“

„Daß neunundneunzig Prozent aller Menschen irrsinnig sind. Und der übrige ganz kleine Prozentsatz Menschen, von denen man im Leben sagt, sie seien verrückt, unzurechnungsfähig, weltfremd, sich am schärfsten dem Normalzustand des Menschen genähert haben.“

„Aber pardon!“

„Es ist auch nur eine Ansicht von mir.“

„Das heißt, Sie wollen sagen, daß Sie so ein Normaler sind.“

Der Dichter errötete.

„Können Sie mir als Arzt sagen, ob es möglich ist, daß meine Mutter wegen meines Unglücks schnell stirbt?“

Der Arzt strich sich den Bart. „Alte Leute sterben nicht so schnell wegen eines . . . seelischen Unglücks. Darüber können Sie beruhigt sein.“

„Stirbt nicht?“ rief der Dichter entsetzt.

„Wünschen Sie, daß Ihre Mutter stirbt?“

„Das wäre wunderbar“, sagte der Dichter und streckte dem Arzt die Hände betend hin.

„Wenn Ihre Mutter stürbe?“

„Ja . . . Ich bin nicht Christus.“

Wegen seines plötzlichen Simulationsverdachtes kniff der Arzt die Augen zu. „Nehmen Sie sich halt ein bißchen zusammen“, sagte er, leise ironisch.

„Ich kann nicht. Ich kann ja nicht! Ich bin nicht Christus! Ich kann nicht so vollkommen selbstlos sein; ich muß die Mutter lieben.“

Er bemerkte den gesteigerten Verdacht auf dem Gesicht des Arztes nicht. „Ich bin nicht Christus!“

„Na, darüber sprechen wir später“, sagte der Arzt skeptisch. „Zeigen Sie mal . . . Lunge, Herz.“

Dann kontrollierte er noch die Sehnen- und Hautreflexe und verließ die Zelle.

 

„Dem Burschen fehlt nichts!“ rief er dem Untersuchungsrichter entgegen. „Zäh wie eine Katze in ihren besten Jahren.“

„Was sagte ich Ihnen!“

„Nur daß er selbst behauptet, ganz normal zu sein — die typische Meinung aller Irrsinnigen —, spricht etwas fürs Gegenteil.“

„Hallo! Wissen Sie, was das bei dem sein wird? Ein . . . sozusagen ein Dreh. Dieser Kerl ist nämlich ein ganz abgebrüht intelligenter Halunke.“

„Er hat sich sogar ein sehr hübsches Simulationsmoment zurechtgedacht.“

Der Richter hob die Augenbrauen.

„Er versichert mir nämlich konstant, er sei nicht Christus.“

„Na, ein ziemlich durchsichtiger Kohl . . . Der weiß ganz gut, daß Irrsinnige behaupten: König, Christus, Kaiser zu sein, Mutter Gottes. Und da dreht er den Spieß einmal um. Eine neue Nuance.“

Der Arzt lachte. „Neue Nuancen sind aber auch nötig; denn es ist heute doch nicht mehr so ganz einfach, einen Psychiater hinters Licht zu führen.“

„Und das Glas Milch? Hat er Ihnen das nicht auch zu trinken gegeben?“

„Diesmal nicht; bei der ersten Untersuchung. Aber als ich ihn hübsch in die Realität des Lebens zurückführte, da wurde er arrogant . . . Heute wieder hat er mir verklausuliert erklärt — ich sei irrsinnig und er normal.“

„Großartig . . . Wirklich.“

„Wer verteidigt ihn denn?“

Der Richter winkte lächelnd ab: „Der kleine Schallmann.“

„O weh, Offizialverteidiger?“

„Und was für welcher . . . Der arme Kerl.“

„Wer?“

„Wenn Sie wollen . . . alle beide. Der kleine Schallmann und sein Klient auch, schließlich . . .“

„Ja, es ist ein Elend.“

Beide zuckten bedauernd die Schultern. Sie reichten sich die Hand.

5

Schon vor zwei Stunden hatte Doktor Wiener vom Zeugenzimmer aus beobachtet, wie der gefesselte Dichter aus dem Untersuchungsgefängnis über den Hof geführt worden war zur Verhandlung.

Ein Gang trennte Schwurgerichtssaal und das mit einer gepolsterten Tür versehene Zeugenzimmer. Kein Laut klang herüber.

„Da steht man auf einmal mitten im Brennpunkt einer Tragödie.“

Die dicke Wirtin sah ihren Zimmerherrn verständnislos an, machte aber eine zustimmende Handbewegung.

Und während drüben weiter verhandelt wurde, fuhr der Doktor fort: „Schlingt das Leben knapp neben mir . . . in dunkler Nacht einen Knoten, und der soll nun mit unserer Hilfe entwirrt, ich möchte sagen, durchhauen werden.“ Dabei spähte er unauffällig in die Ecke zum eleganten, schwarzen Seidenkleid, von dem sich das bleiche Gesicht des Straßenmädchens vorteilhaft abhob.

Die Wirtin machte ihre zustimmende Handbewegung. Das Mädchen rührte sich nicht. Ihre gleichmäßig atmende Brust ließ den Reiher auf ihrem Hute erzittern.

In geteiltem Interesse blickte der Doktor auch manchmal vom Mädchen weg, aus dem Fenster, zum Gesicht eines Untersuchungsgefangenen hinüber, das von den Gitterstäben durchkreuzt blieb, und immer wieder las er in der Zeitung nach, daß die Verhandlung des wegen Raubmordes angeklagten Dichters heute beginne und Doktor Wiener als Zeuge geladen sei. Sein Herz klopfte so unruhig, daß er sich endlich doch, Blick zur Decke gerichtet, den Puls fühlte. Vergebens versuchte er, sich seines Gespräches mit dem Dichter zu entsinnen, und sagte lächelnd: „Wie meinte er denn das vom Planeten“, sah das Straßenmädchen an, zuckte die Schultern: „Planet?“

Die Wirtin beugte sich vor, die Hand überzeugend zum Doktor gestreckt, sah ihn eine Weile schweigend an und flüsterte: „Mir war er immer unheimlich“, worauf die Hand sofort wieder mit der anderen gefaltet über dem Leibe lag.

Die beiden Schüler standen beim Ofen; der kleine machte ein Gesicht, als sähe er sich von tausend Hämmern bedroht.

Dasselbe Gefühl hatte der Dichter im großen Schwurgerichtssaal. Die Blicke aller Zuschauer und der Geschworenen waren auf ihn gerichtet; er war die Antwort schuldig geblieben.

Auch der Offizialverteidiger sah zu ihm auf, wollte ihm helfen und schloß den Mund wieder. Der Gerichtsstenograph spitzte einen Bleistift lang an und legte ihn zu den fünf andern.

„Sie wollen uns also nicht sagen, weshalb Sie es getan haben?“

„Doch, alles! Es ist nur sehr schwer.“ Er wandte sich um zum überfüllten Zuschauerraum, wieder den Richtern zu. Da verließ alle Kraft sein Gesicht: die Augen sahen die Mordszene. „Wenn das meine Hände nicht getan hätten!“ Seine Lippen waren weiß geworden. Den Oberkörper zurückgebogen, blickte er auf seine Hände hinunter.

Er macht Theater, dachte der Staatsanwalt.

Winzig und verloren stand der Dichter, erdrückt von der machtvollen Feierlichkeit.

Ganz unvermittelt veränderte sich seine Erscheinung vollkommen: er sah aus, als stehe er allein in seiner Kammer, grübelnd über eine Idee. Sein Gesicht belebte sich. „Ich leide unter diesem entsetzlichen . . . Unglücksfall ungefähr so, wie ich als Kind gelitten habe unter den qualvollen Sonntagsspaziergängen mit der Familie.“

„Wie denn! Einen Spaziergang kann man doch kaum mit einem Mord vergleichen.“ Der Vorsitzende blickte erstaunt von einem Beisitzer zum andern.

Der Dichter erwiderte, mit einem eigensinnigen, verbohrten Gesichtsausdruck: „Man muß das miteinander vergleichen. Nicht nur diese Spaziergänge . . . mein ganzes Leben. Es gipfelt ja in diesem Unglücksfall.“

Der Vorsitzende lehnte sich zurück. „Einen Unglücksfall nennen Sie Ihre Tat?“

„Man könnte ihn mit dem Bergrutsch vergleichen, den ich zufällig einmal mit angesehen habe.“ Der Dichter sprach langsam und schien die Worte erst vom Boden abzulesen. „Das Erdinnere hat eine notwendige Bewegung gemacht . . . Bewegung gemacht, wie aus Schlaf erwachend, und vom niederstürzenden Geröll sind einige Menschen erschlagen worden . . . Bei mir verursachte die Summe aller qualvollen Erlebnisse, von denen das eine zweiundzwanzig Jahre lang in mir geschlafen hat, einen plötzlichen, unabwendbaren Haßausbruch . . . und dabei ist der Lehrer umgekommen. Wie bei einem Erdbeben, das die Stadt einreißt und die Bewohner begräbt.“

„Der Lehrer ist also nur verunglückt, nach Ihrer Ansicht? . . . mit der wir hier nichts anzufangen wissen . . .“

„Ja. Meine Hände wurden nur als Mordwerkzeuge gebraucht.“

„. . . nichts anzufangen wissen; denn erstens sind Sie keine Erdkugel, Ihr Mord kein Beben . . . und zweitens überhaupt.“

„Für mich deckt sich das vollkommen.“ Er sah den Vorsitzenden klar an und sagte laut: „Deshalb geht mich mein Mord, den ich vor mir selbst nie verantworten kann . . ., diesem Gericht gegenüber nicht mehr an als euch und jeden anderen Menschen.“

Der verblüffte Vorsitzende geriet in Unruhe, die sich auf die Geschworenen fortpflanzte und einer vagen Unsicherheit wich, hervorgerufen durch schnell und bestimmt gegebene Antworten des Dichters, der von seiner Ansicht nicht abzubringen war.

Der Staatsanwalt hatte scharf hingehorcht und nahm sich vor, diese Wendung des Angeklagten nicht aufkommen zu lassen. Er hatte eine hohe, reine Stirn und kluge Augen.

„Auf diese Weise können viele, scheinbar unbegreifliche, Verbrechen verstanden werden“, bemerkte der Dichter in sachlichem Tonfall.

Der Vorsitzende raffte sich auf und erinnerte, unter Assistenz des Staatsanwaltes, den Dichter daran, daß seine Mittellosigkeit dem Gericht bekannt sei und er wegen eines offenbaren Raubmordes hier stehe. „Ihre phantastischen Abschweifungen werden Ihnen also nichts nützen. Sie sind arm, der Lehrer ist tot . . . und das geraubte Geld fand man bei Ihnen . . . Stimmt das?“

Herzbeklemmung zwang den Dichter, die Augen zu schließen.

Da schienen ihm Richter und Geschworene eine lange Reihe steil auf den Schwänzen sitzender Riesenraben zu sein. ‚Ich stehe der starr gefügten Macht des Gesetzes klein und rettungslos gegenüber,‘ Und während er automatisch „Ja“ und „Nein“ und auch einige Male „Ich weiß nicht“ antwortete, dachte er: denen kann ich niemals erklären, wie es kam; denn sie erdrücken mich mit ihrer Logik, die nur an der Oberfläche des Geschehens ihre Schlüsse findet . . . und dadurch recht behält.

„Sie geben also zu, daß Sie den Lehrer getötet haben, um Ihre Lage zu verbessern.“

„Nein, das gebe ich nicht zu.“

„Aber ja doch! Sie haben doch eben Ja gesagt.“

„Ich habe Ja gesagt? Ich dachte an etwas ganz anderes.“

„Sie müssen aber auf meine Fragen achten“, sagte der Vorsitzende ruhig. Gleichzeitig mit ihm hatte der Staatsanwalt etwas gerufen; und aus der Rekonstruktion der vorhergegangenen Fragen und Antworten mußte der Dichter erkennen, daß er tatsächlich Ja gesagt hatte.

„Gewiß hat er nicht Ja gesagt!“ rief der Verteidiger plötzlich. Und wurde zornig, weil alle ihm ansahen, daß er log.

„Ich möchte festgestellt haben, daß er nicht Ja gesagt hat.“

„Haben Sie Ja gesagt?“

„Ja“, antwortete der Dichter gereizt dem Vorsitzenden.

Der Staatsanwalt fragte: „Was verhinderte Sie, während der ersten Anwesenheit in der Heimatstadt Ihr Vorhaben auszuführen?“

‚Alles hoffnungslos. Sie gehen gar nicht auf mich ein.‘ Langsam sagte er: „Es ist nicht Gleichgültigkeit, daß ich Ihnen darauf nicht antworte.“ Und empfand den Wunsch, überhaupt nicht mehr zu reden. Oder etwas herauszubrüllen.

Da sah er zum ersten Male das klare Auge eines Geschworenen, das interessiert und klug auf ihn gerichtet blieb. Die andere Augenhöhle war leer. Des Dichters Beklemmung wich sofort. Das ist das wahrhaftige Auge, dachte er. Die Hoffnung auf Rettung zog mächtig in ihn ein.

Er wandte sich an den Einäugigen, in dessen schmales Gelehrtengesicht der Geist viele Falten gezeichnet hatte, sprach heiß und dringend: „Verstehen Sie mich — erst nachdem ich schon da war, bei meiner Mutter im Zimmer war, erinnerte ich mich an das Schulerlebnis. Ganz plötzlich. Es hat also volle zweiundzwanzig Jahre lang . . . heimlich in mir gesteckt und mich, wie ich jetzt ganz bestimmt weiß, aus seinem dunklen Versteck heraus gezwungen, in die Heimatstadt zu fahren.“

Mit einem einfachen Lächeln: „Daran können Sie ja doch genau erkennen, daß ich mir nicht sagte: jetzt fahre ich heim, bringe den Lehrer um und nehme ihm sein Geld . . . Denn, Sie verstehen? in Berlin wußte ich ja gar nicht, weshalb ich eigentlich zum Bahnhof lief und in den Zug stieg . . . steigen mußte!“

„Nur zur Aufklärung!“ Der Vorsitzende sprach geschäftsmäßig. „Wollen Sie damit sagen, daß dieses Erlebnis, das, nehmen wir einmal probeweise an, Sie gezwungen hat, zu reisen, Sie auch veranlaßte, den Lehrer umzubringen?“

„Nein“, sagte der Dichter fest.

Und der Vorsitzende: „Gut.“

„. . . Denn ein demütigendes oder sonst qualvolles Jugenderlebnis kann nicht mehr so gefährlich sein, nachdem man sich daran erinnert hat. Zuerst war ich sehr erregt, sehr erregt. Dann wurde ich nur recht traurig und wollte mich mit dem Lehrer aussöhnen. Er sollte sich ein bißchen entschuldigen bei mir, und alles wäre gut gewesen.“

„Und brachten Sie ihn um, weil er das nicht tat?“

„Auch deshalb nicht . . . Und auch nicht gerade, weil er den Kleinen in meiner Gegenwart geprügelt hat.“

„Sondern? . . . Weil Sie sahen, wie die Haushälterin dem Lehrer einen Hundertmarkschein reichte.“

„Nein, nein, das ist nebensächlich . . .“

Wie ein Mensch, der im Alptraum verfolgt wird, sich aber nicht vom Platze bewegen kann, empfand der Dichter der Fesseln wegen drückende Hilflosigkeit, wollte fortwährend die Hände gebrauchen, die von den Ketten wieder zusammengerissen wurden. Aus Angst, sich nicht klar genug auszudrücken, wurde er sehr erregt.

„Jetzt wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir ein wenig folgen würden.“ Er wandte sich an den Einäugigen: „Schon ein einziges vergessenes Jugenderlebnis hat also die Macht, mich eines Morgens von Berlin in die Heimatstadt zu schicken. Ich muß gehorchen. Weiß absolut nicht, weshalb. Hab vierzehn Jahre lang, bis zu diesem Morgen, gar nicht daran gedacht, zu reisen. Hatte keine Lust. Kostet Geld . . . Wenn nun schon das Eine so eigenmächtig mit mir umspringen kann, dann muß ich mir sagen — und das ist der glühende, tragische Punkt —, daß die ohne Zweifel zahllosen schändlichen Kindheitserlebnisse zusammen, die vergessen und verdeckt in einem Menschen sitzen, ihn gegebenenfalls zu ihrem Werkzeug für jede Tat, welche es auch sei, machen können.“

Da legte der Dichter die Hände auf die Brust. „Ich saß beim Lehrer, der mich jahrelang gequält hatte und jetzt vor meinen Augen den Kleinen schändete, da wirkten plötzlich alle diese vergessenen Erlebnisse eigenmächtig zusammen und erwürgten ihn.“

Er ließ die Hände sinken, sagte noch: „Plötzlich begeht man das Schrecklichste; denn der eigene Wille ist fortgezogen.“

„Gut,“ begann der Vorsitzende, „daß ein Mensch, wenn er zerstreut ist, manchmal etwas tut, irgendeine Dummheit begeht, ohne zu wissen, wie und was, ist uns bekannt . . .“

„Aber“, unterbrach ihn ein großer, vollblütiger Geschworener gereizt, „daß er in der Zerstreuung einen Menschen umbringt, na, das ist ja . . . das ist Unsinn.“

„. . . aber, daß Sie wegen dieses, weiß Gott vor wieviel Jahren vergessenen Schulausfluges in die Heimatstadt gereist sind . . . wo steht das geschrieben? Und wo steht geschrieben, daß Sie sozusagen . . . mit Hilfe! noch anderer Erlebnisse gar jemand ermordet haben? Das glaubt Ihnen kein Mensch auf dieser Welt, auch wenn Sie nicht das Geld geraubt hätten . . . Ebensowenig, wie man glauben wird, daß Sie mit Hilfe anderer, ausgezeichneter, herrlicher Erlebnisse den Ermordeten wieder lebendig machen können.“

Der Vorsitzende stützte beide Hände auf das Pult, die Ellbogen seitwärts gespreizt. „Jetzt äußern Sie sich einmal, wollen Sie sich denn mit diesen . . . diesen Geschichten verteidigen? Oder was wollen Sie? . . . Verteidigen?“

Verlegen scharrte der Dichter mit dem Fuße, sah in die Ecke, die Geschworenen an. „Ja, ich . . . versuche, Ihnen das Ereignis zu erklären.“

Unvermittelt kam wieder Entschlossenheit in sein Gesicht. „Glauben Sie mir,“ sagte er zum Einäugigen, „wirklich, es kann vorkommen, daß ein dreißigjähriger Mann in seinem Zimmer sitzt, ganz ruhig bei der Arbeit, da hört er im Nebenzimmer einen Mann schimpfen und die geschlagene Frau ängstlich kreischen. Plötzlich packt ihn eine rätselhafte, besinnungslose Wut: er hat den unbegreiflichen Drang, hinüberzustürzen und den Mann zu erwürgen. Hinterher kann er seinen Richtern nur sagen, daß der Zank — das Weinen der Frau im Nebenzimmer — ihm diese Wut verursacht hat, und weiß nicht, daß er sich wegen eines ähnlichen Zankes, der aus dem Schlafzimmer seiner Eltern kam, vor fünfundzwanzig Jahren im Kinderbettchen voller Grauen aufrichtete, in Haß gegen seinen Vater, der die geliebte Mutter schlug. Seine Richter glauben ihm dann nicht, weil er, wenn er zur Besinnung kommt, vielleicht einen Mantel mitnimmt, einen Apfel einsteckt oder einen Hundertmarkschein, um fliehen zu können . . . Bei mir liegt die Sache ganz ähnlich. Sie verstehen mich doch?“

Der Einäugige notierte sich etwas und sah ruhig wieder den Dichter an, der das für eine bejahende Antwort nahm und freudig und hingerissen dem Vorsitzenden zurief: „Ich will mich damit ja nicht entschuldigen! Ich bin so furchtbar schuldig geworden! Aber doch nicht wegen des Geldes, nicht wegen . . . dieses Geldes! Glauben Sie das nicht! Mein Mord wurde von solchen Erlebnissen verursacht . . . Einmal ließ mich der Vater — weil ich meine Schiefertafel zerbrochen hatte und er, der Arbeiter, der abgerackerte Arbeiter, verstehen Sie doch! eine neue kaufen sollte — das eichene Lineal holen; ich mußte die Hose ausziehen. Dann schnallte er mich auf den Stuhl fest und . . . vor der ganzen Familie. Das tat er . . . Am andern Tag stürzte ich heulend zu Boden, nur weil ein Kamerad von mir ganz zufällig das Wort ‚Lineal‘ gebrauchte. Ich heulte wie tobsüchtig, rannte aus der Stadt hinaus, stundenlang auf den Feldern umher, und zündete vor Qual und Hoffnungslosigkeit eine Scheune an. Sie brannte ab . . . Viele Jahre wußte ich nicht, weshalb ich die Scheune angezündet habe . . . Wenn man gerecht ist, ganz gerecht, muß man sagen, daß nicht ich . . . sondern mein Vater der Brandstifter war.“

„Man könnte ja auch sagen, der Urgroßvater, der schon längst verwest ist!“ Das Gesicht des vollblütigen Geschworenen blähte sich auf, daß die Augen verschwanden.

Sofort wandte der Dichter sich wieder an den Einäugigen, sah ihn eindringlich an. „Weil mir das alles so klar geworden war, fuhr ich dann noch einmal in meine Heimatstadt, in der Hoffnung, mich an vieles zu erinnern — an die furchtbaren Demütigungen, die mich ruiniert haben. Ich hoffte, ihnen mit meinen Erfahrungen, mit dem Verstand meiner dreißig Jahre, ihre böse Macht über mich endlich nehmen zu können . . . Alle Menschen sollten wieder einmal in ihre Heimatstadt zurückkehren. Das habe ich sogar geträumt.“ Er bewegte die Hände in großem Bogen von links nach rechts: „Einen ganzen Zug Menschen!“

„Nun, und sind Ihnen solche Erlebnisse eingefallen?“ fragte der Vorsitzende.

„Mir? Nein . . . nein, es sind mir keine eingefallen.“

„Wie denn! . . . Dann sollten Sie uns doch aber das alles nicht erzählen. Weshalb nur?“

Der Dichter schickte einen hilfesuchenden Blick zum Einäugigen hin, zum Vorsitzenden. „Weil das so wichtig ist. So wichtig!“

„Aber nein doch! Es sind Ihnen ja keine eingefallen.“

Des Dichters Mund blieb offen stehen.

„Nun?“

„Die ganze Stadt ist mir eingefallen . . . Und da ist auch ein unheimlicher Hohlweg, ein Mensch verschwindet . . . In dem Hohlweg muß mir etwas Furchtbares geschehen sein. Aber ich weiß nicht, was. Weiß nicht, was. Glauben Sie mir doch. Um Gottes willen!“

Fieberhaft suchte er nach noch einem Beispiel, während der Vorsitzende sich nicht um ihn kümmern konnte, weil er die Vernehmung der Zeugen vorbereitete.

Da sah er das Auge des Geschworenen verlangend auf sich gerichtet, machte verzweifelt einen Schritt zu ihm hin: „Es kann doch auch vorkommen, daß ein Mann immer wieder träumt: er ist ein Kind und muß sich verkriechen in die Zimmerecke, aus Angst vor seinem Vater, der ihn gräßlich und verächtlich ansieht. Und es hilft ihm nichts, daß er seinem Vater zuruft: ich habe doch seither die große Brücke aus Eisenkonstruktion gebaut . . . Solange er lebt, fürchtet sich der berühmte Brückenbauer im Traume vor seinem Vater . . . Mich hat der Vater einmal die ganze Nacht auf den langen, dunklen Gang hinausgesperrt . . . Ich kam zu spät nach Hause, weil ich zugesehen hatte, wie ein Ertrunkener aus dem Wasser gezogen wurde. Das war eine arge, lange Nacht. Seitdem fürchte ich mich im Dunkeln wie ein Kind . . . Erst vorgestern, am Dienstag, träumte ich wieder: in unbeschreiblicher Angst stehe ich auf dem dunklen Gang — der Ertrunkene kommt die Treppe herauf und langsam auf mich zu, entsetzlich lautlos . . . Ich kann nicht in die Wohnung flüchten. Selbst jetzt träume ich das, in einer Zeit, da ich mich in so großer Not befinde. Man sieht daran, daß ein solch gräßliches Kindheitserlebnis stärker ist als alles.“

„Sonnig scheint Ihre Kindheit ja nicht gewesen zu sein, aber mit Ihren Träumen können wir uns wirklich nicht abgeben,“ sagte der mit den Zeugenakten beschäftigte Vorsitzende, „die sind nun einmal Schäume.“

Der Angeklagte versuchte immer wieder, den eindeutigen Tatbestand mit vagen Geschichten zu verschleiern, notierte sich der Staatsanwalt für seine Schlußrede.

„Es sind ihm ja nun doch welche eingefallen“, sagte der Verteidiger. „Ich mache Sie darauf aufmerksam . . . Auf den Ertrunkenen.“

Und der Dichter blickte in plötzlicher Hoffnungslosigkeit so verloren im Saale herum, daß er von der Vereidigung der ersten Zeugin nichts bemerkte.

„Sie stehen unter Kontrolle?“

Im Zuschauerraum wurde es ganz still.

Das Straßenmädchen senkte den Kopf.

Da senkte auch der Dichter den Blick.

Sie wurde nicht vereidigt.

Am weitesten vom Dichter entfernt stand der Kleine; seine Stirn war wieder schneeweiß geworden. Die Zuschauer begannen sich zurechtzusetzen. Der Offizialverteidiger handhabte, nachdem er eine Weile streng zum immer noch notierenden Staatsanwalt hingesehen hatte, ebenfalls seinen Bleistift. Er trug ein Monokel. Auch die Geschworenen bewegten die Oberkörper, bis sie richtig saßen. Es war sehr warm im Saal.

„Bei Ihnen wohnte der Angeklagte?“

„Mir war er immer unheimlich“, sagte die Wirtin sofort.

„So? . . . Weshalb denn?“

„. . . Bezahlt hat er mich auch nicht.“

Der Staatsanwalt schriebs auf und machte den Geschworenen noch einmal deutlich, daß der Grund der Reise und die Ermordung des Lehrers in des Dichters ständiger Geldlosigkeit zu finden sei.

Der Vorsitzende fragte die Wirtin, ob der Dichter schon vorher irgendwelche Äußerungen mit Bezug auf den Mord getan habe, da er ihr unheimlich erschienen sei. Sie geriet, zur Belustigung der Zuschauer, ins ungehemmte Erzählen hinein, aufgebracht und endlos, bis der Vorsitzende „Halt!“ rief, weil die Richter das tägliche Leben des Dichters nunmehr genau kannten.

„Früh, wenn ich aufstand, ging er zu Bett. Zugetraut hab ich ihm alles . . . Denn man wußte ja nie, was er eigentlich macht“, sagte sie noch nachträglich, mit einem ärgerlichen Blick auf den Dichter, wobei ihre Unterlippe befriedigt vorschoß.

„Doch, ich habe gearbeitet“, antwortete der Dichter gereizt.

„Wir hörten aber eben, daß Sie den ganzen Tag geschlafen haben.“

Er schwieg.

Der Vorsitzende sagte schulterzuckend: „Arbeiten müssen alle Menschen.“

Und die Wirtin rief: „Das hab ich ihm auch gesagt.“

„Sie dürfen nur reden, wenn Sie gefragt werden.“

Ihr sich empört öffnender, sprechbereiter Mund klappte lautlos wieder zu, weil der Richter vorgriff: „Wie denn! Nur wenn Sie gefragt werden.“

Da sagte der Einäugige: „Der Angeklagte ist doch der Autor jener bekannten Artikelserie . . . Das war doch eine schwere, langwierige Arbeit für Sie, nicht wahr?“ Der Verteidiger öffnete ruckartig den Mund.

Der Staatsanwalt rief schnell: „Ich bin bereit, diese . . . Arbeiten hier verlesen zu lassen, wenn die Verteidigung glaubt, daß diese volksverhetzenden Schriften den Angeklagten entlasten können.“

Der Vorsitzende sah fragend den Verteidiger an, der den Blick senkte. Und plötzlich auf einen Papierstoß schlug: „Ich habe hier noch andere Arbeiten von ihm . . . Grandiose Dichtungen!“

Es wurde gelacht. Der Dichter errötete.

Und der Verteidiger sagte, er wolle keineswegs die Verhandlung hinausziehen durch Verlesen. „Aber ich muß darauf bestehen, daß er gearbeitet hat. Jawohl!“

Der Vorsitzende lächelte ein wenig.

„Sie hatten am Abend vor der Tat ein längeres Gespräch mit dem Angeklagten? Sagen Sie uns möglichst genau, was er gesprochen hat.“

Doktor Wiener schwieg: er hatte damals den Dichter nicht ganz verstanden.

Vorsitzender und Staatsanwalt fragten abwechselnd und wären zu keinem Resultat gelangt, wenn nicht der Dichter selbst in unmittelbarer Aufwallung dazu geholfen hätte, so daß plötzlich der Satz durch den Saal klang: „Seit Jahrtausenden verlangt der Mensch brüllend, stinkend demütig, stöhnend, irrsinnig, daß er atmen dürfe, ohne unnötige Qualen.“

Sie sahen ihn erschrocken an. Und der erleichterte Doktor Wiener konnte ergänzen: „Ich hasse die Repräsentanten all derer, die das verhindern.“

Der Verteidiger las einen ähnlichen Satz aus einem Manuskript des Dichters vor, bezweckte nichts damit, denn das vom Staatsanwalt klug und schlagfertig durchgeführte Geplänkel endete mit dessen nachsichtigem Lächeln und sichtbarer Verwirrung des Offizialverteidigers.

Der Vorsitzende fragte: „Sind Sie etwa der Meinung, Lehrer Mager sei so ein Repräsentant gewesen?“

Kein Mensch im Saal konnte sich erklären, auf welche Weise der Kleine an diese Stelle gelangt war. Erschrocken sahen alle zu, wie der Dichter die Hände auf des Kleinen Kopf legte, daß die Ketten vor dessen Gesicht hingen.

Der Dichter sagte: „Ich habe da einen Zeugen, daß der Lehrer ein Repräsentant der Seelenzerstörer war. Dieses Kind wird ein Elender bleiben, sein Leben lang . . . Betrachten Sie mich als sein älteres Abbild.“

Der Kleine, mit den Ketten vor dem schneeweißen Gesicht, rührte sich nicht, bis ihn der Gerichtsdiener auf den Befehl des Vorsitzenden hin am Arme vom Dichter wegführte wie einen Gefangenen.

Im Zuschauerraum wurde es wieder ruhig, als der Vorsitzende den Dichter sachlich zurechtwies und der Staatsanwalt des Ermordeten Leben ausführlich schilderte, ihn zum Schluß einen sich aufopfernden, pflichttreuen Mann nannte.

Noch während dieser Rede hatte der Dichter die gefesselten Hände nach dem seitwärts stehenden Tischchen ausgestreckt. Und als der Staatsanwalt geendet hatte und der Dichter immer noch schwieg, mit deutenden Händen, folgte der Vorsitzende der Richtung, nahm den schon ganz verrunzelten Himbeerapfel, der beim Verhafteten gefunden worden war, vom Tisch und fragte, was damit sei.

„Der wird eine furchtbare Wirkung haben, dieser nicht geschenkte Apfel. Das ganze Erlebnis trägt das Kind im Gehirn. Und noch nach zwanzig Jahren wird es seine Handlungen mitbestimmen.“

„Sehen Sie, das können wir doch heute noch nicht kontrollieren.“ Der Vorsitzende machte eine Handbewegung, als habe er dem Dichter ganz überflüssigerweise ein Geschenk gemacht. „Das hier ist nur ein Apfel . . . Weshalb haben Sie den eigentlich eingesteckt?“ Seine fünf Fingerspitzen hielten den Apfel.

„Oh, den wollte ich haben!“ sagte der Dichter rasch, mit sonderbar funkelnden Augen.

Im Zuschauerraum wurde gelacht.

„Als ich ihn einsteckte, dachte ich — jetzt hat ihn der Kleine doch bekommen. Ich dachte — jetzt habe ich das Glas Milch doch bekommen.“

Auch die Geschworenen blickten ihn fragend an.

„Das ist doch furchtbar einfach! Wenn ich zwanzig Jahre früher die Milch bekommen hätte, hätte ich mir den Apfel ja nicht zu nehmen brauchen . . . und stünde heute vielleicht nicht hier.“

„Wie denn! Wenn Sie in Ihrem Leben ein Glas Milch mehr getrunken hätten?“ Der Vorsitzende lächelte den rechts von ihm sitzenden Geschworenen zu. Deren Antwortlächeln sprang auf die links Sitzenden über, bis zum Staatsanwalt. Der Einäugige sah zornig vor sich hin.

„Freilich! Dann wäre der Lehrer ein besserer Mensch gewesen und ich sicher ein besserer geworden . . . Er hat mir doch, während ich zu ihm in die Schule ging, in anderer Form viele tausend Gläser Milch verweigert. Und nicht nur er — viele andere haben mich gedemütigt, gepeinigt und dadurch schwach und böse gemacht. Deshalb stehe ich hier. Aber ich glaube, daß vor allem der Lehrer mich für spätere Demütigungen so sehr empfänglich gemacht hat . . . Denken Sie an, wenn ich damals nicht vor dem Wirtshaus hätte stehen müssen, hätte ich vielleicht eine Woche später, als die Soldaten, anstatt mir Brot zu geben, Spülwasser über mich geschüttet haben, noch geflucht und geschimpft. So aber habe ich geschwiegen, glaubte schon, mit mir dürfe man alles machen . . . Das ist ja das Furchtbare, daß ich nicht geschimpft habe, sondern ganz still weggegangen bin.“

Wie auf Kommando bewegten alle Geschworenen gleichzeitig die Oberkörper, um sich wieder zurechtzusetzen.

Und der Vorsitzende sprach die Prügelszene in der Lehrerstube jetzt doch ausführlich durch. Unter allgemeiner Heiterkeit. Denn der größere Schüler erzählte, da aus dem zerdrückten Kleinen auch mit Güte und Väterlichkeit nicht ein Wort herauszubringen war, daß dieser Regen mit „ch“ und anstatt Amen — Ammen geschrieben habe.

Die Geschworenen lächelten und dachten an ihre Jugendzeit zurück. Gerichtshof und Zuschauer sympathisierten miteinander. Eine Weile ließ der Vorsitzende die Heiterkeit durchgehen, dann spitzte er lächelnd den Mund unterm Schnurrbart, als wolle er sagen — wie Sie sehen, verstehe ich einen Spaß, aber dazu sind wir nicht hier; und da im Zuschauerraum auch dann noch gelacht wurde, rief er erstaunt: „Wie denn!“

Niemand verstand recht, weshalb der Einäugige sich vom Dichter noch einmal auf das genaueste die Reihenfolge der Vorgänge in der Lehrerstube darstellen ließ. Wiederholt fragte er eindringlich, ob die Tat — sofort, nachdem die Knaben die Stube verlassen hatten, geschehen sei, oder ob der Dichter vorher noch über den Schulausflug gesprochen — und den Lehrer dann erst umgebracht habe.

Und als der Dichter das bei immer stärker werdender Herzbeklemmung bejahte, auf die nochmalige Bitte hin, sich genau zu erinnern, wieder leise und bestimmt Ja sagte, blickte ihn der Einäugige so furchtbar ernst an, daß der Dichter während der folgenden stummen Zwiesprache mit dem Einäugigen am ganzen Körper kalt wurde.

Der Staatsanwalt notierte sich die Worte „Vorsicht! Affektmord“.

Dann betonte er kurz und klar die Harmlosigkeit der Prügelszene.

Und der Vorsitzende fragte den größeren Schüler: „Jetzt sage du uns einmal . . . hast du Angst gehabt, zu deinem Lehrer in die Schule zu gehen?“

„Ich hab gar keine gehabt.“

„Gabs viel Keile, wie?“

„Hiebe?“

Der Vorsitzende lachte. „Ja ja, Hiebe . . . Aber das macht doch einem strammen Jungen nichts aus, was?“

„Nein. No, und ich hab ja keine bekommen . . Im Kopfrechnen Eins, Rechtschreiben Eins bis Zwei, Deutscher Aufsatz . . .“

„Hast also gute Noten gehabt?“

„Deshalb hab ich ja auch immer die Hefte tragen dürfen . . . Ich hab die Notenbücher alle noch.“

„Nun, und du?“

Der Kleine wurde kreideweiß.

„Du hast doch auch keine Angst gehabt, wie?“

„Sags uns nur . . . Angst gehabt?“

Die Tränen schossen ihm in die Augen. Er schüttelte verneinend den Kopf.

„Wird schon alles noch besser werden“, sagte der Vorsitzende und lächelte den Kleinen freundlich an. „Aber ja doch!“

Er sah in die Untersuchungsakten, dem Dichter groß ins Gesicht. „Sie gaben an, Ihre Schwester habe sich ertränkt, weil Herr Lehrer Mager sie . . . nennen wir es: gequält hat. Es liegt mir daran, jetzt auch diese Sache voll und ganz aufzuklären . . . Glauben Sie, daß der Lehrer auf Ihre Familie besonders schlecht zu sprechen war?“

„Besonders? Nein. Er hat vermutlich alle Schüler, die zu ruinieren waren, ruiniert . . . Das heißt, drei oder vier ausgesprochene Prügelknaben hatte er doch, aber zu denen gehörte ich nicht einmal . . . Einen davon — er war der Sohn eines Optikers, dick und winzig klein — den malträtierte er so, daß Sie mir einfach nicht glauben werden, wenn ich es Ihnen beschreibe . . . Täglich, bei jeder Gelegenheit, mit dem Rohrstock auf den kurzgeschorenen, weißblonden Kugelkopf, ins rosige Gesicht, wahllos ins Gesicht! . . . Einen Bauern, der ein kleines Ferkelchen so verhaut, würde man einsperren wegen Tierquälerei.“

„Ja aber! In so einem Fall geht ein Junge doch nach Hause und sagt: Du, hör mal, Vater . . . so und so.“

Der Dichter lächelte schwach. „Gewöhnlich wagt ein Junge nicht, sich beim Vater über den Lehrer zu beklagen.“

„Und . . . was wurde aus dem Jungen?“

„Den habe ich kürzlich aufgesucht, extra aufgesucht . . . Er hat jetzt einen Schnurrbart. Das Geschäft seines verstorbenen Vaters führt er weiter, erhält seine jüngeren Geschwister. Sehr geachteter Mann . . . Ich frage ihn: Denkst du noch manchmal daran, wie dich der Lehrer behandelt hat?

‚Der Lehrer Mager? Dem begegne ich öfters. Wir unterhalten uns hie und da miteinander‘, sagte er und bediente dabei seine Kundschaft — zwei Gymnasiasten, die einen Photographenapparat kaufen wollten. ‚Das war ein tüchtiger Lehrer. Man hat etwas bei ihm gelernt . . . Ja, ja, jetzt sind wir keine Kinder mehr. Sorgen haben wir jetzt. Nun, das Geschäft geht ja.‘“

„Dem hats also nicht geschadet.“

„Nein“, sagte der Dichter lächelnd und sah dabei den blinkenden Optikerladen.

„Und Ihre Schwester . . . Glauben Sie nicht auch, daß die Sache in die Öffentlichkeit gekommen wäre, wenn die Schwester sich wegen des Lehrers ertränkt hätte? Doch sicher!“

„Ach, daß der Lehrer die Schuld haben könnte, daran dachte kein einziger Mensch in der Stadt. In einer kleinen Stadt wagt man gar nicht, an so etwas zu denken. Da ist ein Lehrer etwas so unangreifbar Hohes . . . wie er sein sollte . . . Ich selbst bin ja erst seit kurzer Zeit der Meinung, daß meine Schwester durch das Verhalten des Lehrers in den Fluß geschickt worden ist.“

„Nach allem, was wir von dieser Sache hier gehört haben, vom Angeklagten selbst gehört haben, ist er durch nichts zu dieser Meinung berechtigt“, sagte der Staatsanwalt ruhig.

Und der Vorsitzende: „Je nun, mir scheint auch, daß Sie da etwas vorschnell urteilen . . . Herr Doktor Wiener, versuchte der Angeklagte an jenem Abend auch von Ihnen Geld zu leihen?“

„Das nicht . . . Wärme.“

Der Vorsitzende sah verständnislos drein.

„Ich wollte sagen — er ließ die Zwischentür absichtlich offen, damit aus meinem Salon Wärme in seine Kammer strömen konnte.“

Ein unterdrücktes, glucksendes Lachen ertönte.

Den Dichter streifte der Wunsch, erklären zu können, weshalb die hinterlistige Art, wie er vom Doktor Wärme genommen hatte, auch eine Folge seiner gedemütigten Jugend sei.

Und die Wirtin rief: „Die Kammer ist so klein, daß sie ganz warm wurde, wenn er nur seine Kerze brennen ließ.“

Die Zuschauer lachten offen heraus.

„Liebe Frau, nur wenn Sie gefragt werden!“

Das Lachen steigerte sich.

Und der Vorsitzende ließ noch einmal den Saal nicht räumen.

Doktor Wiener antwortete zögernd: „Doch, er gebrauchte auch das Wort ‚Anpumpen‘.“

Der Vorsitzende fragte den Dichter: „Sie hatten also an jenem Abend gar kein Geld?“

Der Staatsanwalt stellte das ausdrücklich fest.

„Und da gingen Sie zu diesem . . . Mädchen.“

Da der Vorsitzende während der Vernehmung des Straßenmädchens die Zuschauer draußen haben wollte, erklärte der Verteidiger, daß volle Öffentlichkeit im Interesse des Dichters liege.

Der Staatsanwalt dachte, da hat er wo etwas aufgeschnappt.

Die Zuschauer mußten hinaus.

Das Straßenmädchen erwiderte: „Ich hatte gerade selbst kein Geld.“

„Bedrohte er Sie, als Sie ihm nichts gaben?“

„Und wieso gaben Sie ihm dann doch?“

„Ich bat ihn, im Nebenzimmer zu warten.“

Unter steigender Erregung der Geschworenen mußte das Mädchen den Hergang mit allen Einzelheiten erzählen, wobei der Dichter einem Blick seines Verteidigers begegnete und dachte: er verachtet mich, wie kann er mich da verteidigen.

Und als das Mädchen unvermittelt gefragt wurde, wie lange der Dichter ihr schon Zuhälterdienste leiste, glaubte er, zum ersten Male ganz hoffnungslos, es werde ihm unmöglich sein, den Ring, den Vorsitzender und Staatsanwalt um ihn zogen, zu sprengen.

Auch einige Geschworene fragten das Mädchen.

Bis sie endlich verwirrt sagte: „Er ist doch kein Zuhälter“, und an der ganzen Geschworenenreihe staunend entlang blickte.

Der Vorsitzende erklärte ihr: „Sie müssen die Wahrheit sagen, obgleich Sie nicht vereidigt sind. Aber ja doch!“ Und brachte nach langem, eindringlichem Fragen aus ihr heraus, daß sie den Dichter schon seit einem Jahre kenne und daß er damals zu ihr gesagt hatte, er wolle sie heiraten.

Sehr ernst geworden, sahen die Geschworenen in den leeren Zuschauerraum.

Und der Vorsitzende sagte sofort: „Es ist doch auffallend, daß ein Mädchen wie Sie einem Menschen nur so Geld gibt, ihn sogar warten läßt im Nebenzimmer, bis sie das Geld sozusagen . . . verdient hat.“

Da sah sie ihn verächtlich an. Doch ganz schnell veränderte sich ihr Gesicht; die ganze Körperhaltung drückte schroffe Gleichgültigkeit aus. „Ist mir einerlei.“

„Was ist Ihnen gleich?“

„Alles natürlich!“

„Ich frage Sie, was Sie momentan dachten, das Ihnen gleich sei.“

Mit einem ganz kleinen, starken Lächeln: „Alles, meine Herren!“ Sie setzte sich.

Der Staatsanwalt betonte die Unglaubwürdigkeit der nicht vereidigten Zeugin. Und der Dichter sah zu, wie eine Schar Tauben vom gegenüberliegenden Dachfirst aufflog, ihn umkreiste und sich wieder in die Frühlingssonne niederließ. Ein Tauber blähte sich und stolzierte wippend einer Taube nach, die immer wieder davonrannte.

„Von was haben Sie denn nun eigentlich in Berlin gelebt, all die Jahre?“ fragte der Vorsitzende, als die wiedereintretenden Zuschauer stillsaßen.

Der Dichter sagte: „Das ist schwer zu erklären . . . Ich weiß es selbst nicht.“

Und antwortete nachdenklich noch einmal: „Ich kanns wirklich selbst nicht sagen.“

Der Vorsitzende ließ Augen und Hand verwundert fragen.

Und der Staatsanwalt formulierte kurz seine Ansicht dahin, daß die Geldquelle bei diesem oder bei irgendwelchen anderen Straßenmädchen zu suchen sei. „Der Heiratsantrag ist der schlagendste Beweis dafür.“

„Kurzum . . . es ging Ihnen offenbar sehr schlecht?“

„Also. Da fahren Sie in Ihre Heimatstadt . . .“

„Weil mir so furchtbar zumute war.“

„Besuchen unvorsichtigerweise Ihre Eltern, ein Kaffeehaus und, wie sich vorhin herausstellte, den Optiker, nicht wahr?“

„Ja.“

„Dieser unliebsamen Zeugen wegen reisen Sie, obwohl Sie schon vor des Lehrers Tür standen, mit dem nächsten Zug wieder zurück nach Berlin.“

„Sie wußten nicht, daß der Angeklagte verreist war?“

Keine Ahnung habe sie gehabt, antwortete die Wirtin aufgebracht, sah den Dichter an, den Vorsitzenden: „Und mein Herr Doktor hatte ja auch die Kammer mitgemietet.“

„Nachdem Sie Ihrer Wirtin beigebracht hatten, gar nicht verreist gewesen zu sein, gehen Sie zu dem Mädchen, lassen sich zwanzig Mark für die Reise geben und fahren in derselben Nacht wieder in Ihre Heimatstadt, schleichen — diesmal ohne Zeugen — ungesehen durch die noch dunklen Gassen direkt in die Lehrerswohnung. Eine Stunde später wird der Lehrer vor seiner durchwühlten Schreibtischlade gefunden. Das geraubte Geld bei Ihnen . . . Was können Sie dazu sagen?“

Während der ganzen Rede hatte der Dichter den Vorsitzenden in kaltem Entsetzen angeblickt; nur stockend konnte er hervorbringen: „Es ist alles so weit entfernt vom Tatsächlichen, was Sie und der Herr Staatsanwalt von mir sagen, daß ich kein Wort mehr mitreden kann.“

„Sie hatten offenbar weitaus mehr vorzufinden erwartet, bei Ihrem Lehrer, der als sparsamer, vermögender Mann bekannt war.“

Da stemmte der Dichter die Handballen unter die Achselhöhlen, daß die Kette über seiner Brust spannte, brüllte: „Ihr lügt!“ und stieß dabei die Hände nach vorn, wandte sich um zu den vielen Hunderten, wie auf einem Riesenpräsentierteller liegenden Gesichtern: „Alle Menschen, die im Saale sind, müssen bemerken, daß das Gericht nur eine Seite sehen will und alles dahin zusammenträgt.“ Und zum Gerichtshof: „Man will mich viel schlechter machen, als man selbst glaubt, daß ich bin. Man lügt! Und mein Verteidiger verachtet mich.“

Der Vorsitzende hatte die Hand erhoben. Der Dichter sah an ihm vorbei, lodernd zum klarblickenden Auge des Geschworenen:

„Gelogen wird in den Gerichtssälen! Am tatsächlichen Geschehen vorbeigesehen! Die Ursachen liegen tief. Man will sie nicht sehen. Man will nicht! . . . Weil man sonst erkennen müßte, daß man mitschuldig ist.“

Die zwei Gerichtsdiener an seinen Seiten drehten die Köpfe auf ihn zu, scharf ins Profil; ihre Augäpfel lagen in der Nasenecke. So blieben sie griffbereit stehen.

Auffallend ruhig sagte der Einäugige: „Ich sehe keinen Beweis dafür, daß dieser Mann den Lehrer wegen des Hundertmarkscheins getötet hat. Die Gründe, die er dafür angibt, erscheinen mir viel glaubhafter . . . Sie erscheinen mir jetzt glaubhaft.“

Der Vorsitzende unterbrach: „So etwas können Sie . . . nur im Geschworenenzimmer äußern.“

Scheinbar zu allen sprechend, sagte der Staatsanwalt zum Einäugigen — und Überzeugung pulste kräftig in seinen Worten: „Da könnte ja jeder Mensch mit Recht seinen Lehrer ermorden . . . jeder Sohn seinen Vater!“

Noch eine Sekunde lang hielt die neue Ansicht, die sich der Einäugige erst im Laufe der Verhandlung erkämpft hatte, der des Staatsanwaltes stand. Dann wurde sie von dessen schlagkräftigem Ausruf wieder zertrümmert.

Er senkte ratlos den Blick.

Der Vorsitzende sagte, plötzlich nachdenklich und ernst: „Können Sie selbst denn daran glauben, daß Sie Ihren Lehrer deshalb umgebracht haben, weil er Sie vor zweiundzwanzig Jahren . . . sagen wir: falsch behandelt hat? . . . Wirklich, wir können damit nichts anfangen.“

„Er allein ist ja nicht an meinem Unglück schuld“, sagte der Dichter unwillig.

„Und trotzdem haben Sie ihn umgebracht.“

Da reckte der Dichter plötzlich die gefesselten Hände senkrecht empor. „Der Dunst der Schulen, der falschen Erziehung, der Eltern, Frömmelei, der Lüge, des ganzen stinkenden europäischen Moralgeschwürs bildet furchtbar drohend das Wort ‚Ursache‘ weithin sichtbar am Himmel. Der europäische Mensch ist zum kranken, tückischen, reißenden Tier geworden. Gott, die Menschenliebe, die Güte, die Wahrheit zogen sich entsetzt zurück vor dem vom Wahnsinn gezeichneten europäischen Gesicht!“

Ein Geschworener beugte sich zu seinem Nebenmann. „Bei mir hat er sich oft Zigaretten gekauft . . . In meinem Eckladen.“

Der Vorsitzende betrachtete den Dichter sinnend.

Der ließ die Hände sinken, fiel zusammen und begann mit noch bebender Stimme: „Auf allen Wegen starren dem Menschen offen und versteckt Messerspitzen entgegen, denen er nicht ausweichen kann . . . Trotz aller Anstrengung konnte ich mich nie erinnern, was mir in dem Hohlweg widerfahren ist . . . Ich träumte öfters von einer Leiche, die in dem Hohlweg lag. Sie war schon ganz verwest. Ameisen krabbelten ihr in Augen und Ohren hinein, aus Mund und Nase heraus. Die Leiche lachte fürchterlich, weil die Ameisen sie kitzelten . . . Aber ich weiß bestimmt, daß keine Leiche im Hohlweg lag . . . Etwas Grauenhaftes muß mir da geschehen sein.“

Der Vorsitzende hatte den Dichter fortwährend grübelnd angesehen. Jetzt richtete er sich auf. Auch die Geschworenen bewegten sich.

„Mittagspause“, sagte der Vorsitzende unerwartet, stand auf. „Wir unterbrechen bis drei Uhr“, sagte er, mit der Uhr in der Hand.

6

Die Zuschauer gebrauchten List und Ellenbogen, um schneller durch die Flügeltür hinaus auf den Gang zu kommen, den der Dichter passieren mußte.

Ein scharfes Witzwort fiel. Man lachte flüchtig, drängte energisch weiter. Und mauerte sich an den beiden Wänden entlang, vollkommen still geworden. Denn des Staatsanwaltes schwarze Robe erschien ganz unerwartet und bewegte sich feierlich durch die Menge.

Auf ihn zu kam, vom Treppenabsatz herunter, ein kleiner Referendar, mit einem Klemmer und Leberflecken im zerhauenen Gesicht. „Es hat sich noch ein Belastungszeuge gemeldet.“

„Ah! Wer? Wo ist er?“

„Eine Zeugin. Sie hat angegeben, daß der Schreinermeister, der seinem Sohne die Augen zuleimte, ihn in diesem Zustand auch bloßfüßig auf die heiße Herdplatte gestellt hat . . . Dann heizte der Meister tüchtig nach.“

„Also nichts Neues zum Fall Seiler.“

„Nein. Da kann man dir ja gratulieren. Sichere Sache!“

„Ein komplizierter Fall.“

Der kurzsichtige Kleine kroch in die Staatsanwaltsrobe hinein.

„Wieso? Ist es nicht ganz klar erwiesen, daß er es wegen dieses Hundertmarkscheins getan hat?“

Sie verschwanden, von allen Blicken verfolgt, in dem kalkweißen, menschenleeren Seitengang. Der Staatsanwalt sah auf den Kleinen hinunter, zum Fenster hinaus. „Das eben scheint mir jetzt sehr, sehr fraglich zu sein, nach allem . . . Eigentlich schon nicht mehr fraglich.“ „Nein, nein, verzeihe! Wirklich, so in der Eile kann ich dir das nicht erklären. Das Ganze ist zu . . . weißt du, zu . . . eigenartig.“

„Nämlich die eigene Frau des Schreinermeisters will gegen ihn zeugen. Interessant, wie?“

„Platz machen!“ rief der Polizist.

„Platz da! Platz!“ der auf der andern Seite.

Der Dichter wurde durchgeführt. Der Offizialverteidiger lief mit winzigen Schrittchen über ihn vor, wieder zurück und geriet so in Verwirrung, daß er beim Weitergehen die ungewohnte, lange Robe hob wie eine Frau den Rock.

Niemand lachte. Des Dichters Gesicht und Augen sahen erloschen aus.

Der Staatsanwalt trat vor ihm in die Fensternische zurück, sah ihm nach. „Gefährlicher Geist . . . Kompliziert die Sache.“

„Wirklich? Nicht wegen des Hundertmarkscheins getan?“

Der Staatsanwalt schüttelte energisch den Kopf.

„Ja . . . ja, aber wieso.“

„Schwer zu sagen.“ Er zog die Uhr, wollte sich verabschieden.

„Kann man ihn dann überhaupt nicht zum Tode verurteilen?“

„Kann ich dir nicht sagen, weil ich es selbst nicht weiß.“

„Das ist ja, das ist mir ja ganz neu . . . Und für morgen? Für diesen Schreinermeister hast du also alles beisammen?“

„Hab ich. Bis auf die neue Zeugin . . . Ich muß schnell heim. Hab Hunger. Guten Appetit.“

Die Menge flutete ausweichend um die beiden herum, machte den gekalkten Seitengang schwarz.

Der Verteidiger hatte keinen Appetit.

Er war in der Zelle beim Dichter, dessen Suppe aus verkochtem Brot, mit einer matten Haut überzogen, kalt geworden auf dem Klapptisch stand.

Der Dichter dachte darüber nach, weshalb er nicht das leiseste Verhältnis mehr zu seiner Mutter empfand. Auch sich selbst war er so gleichgültig geworden, daß er nur noch ein gedankliches Interesse daran hatte, sich diesen Zustand unkörperlicher Ruhe zu erklären. Es war ihm, als trenne ihn ein ungeheurer Luftzwischenraum von seinen bisherigen Gefühlen und der Mutter. Er lehnte reglos an der Fensterwand.

Der Verteidiger hatte die ganze Zelle für sich, lief schnell auf und ab. „Mein Rat ist . . . reden Sie nicht mehr von diesen Dingen da, von Kindern und so weiter. Das ärgert uns alle nur. Wahrhaftig, mich auch. Sie sagen: irgendwo auf der Welt liegt eine verweste Leiche in einem Hohlweg und Ameisen . . . Nun, und wenn schon?“ Er blieb stehen. „Nützt Ihnen das was? Nein . . . Weil kein Mensch mit einer lachenden Leiche was anfangen kann.“ Und lief weiter.

Der Dichter redete nichts, hob ein Notizzettelchen auf, das dem Verteidiger aus der Tasche gefallen war, und reichte es ihm.

„Danke.“ Er stopfte es in die Tasche zu den andern, holte noch einmal eine Faust voll Notizen hervor und stieß sie nervös wieder in die Tasche. „. . . Europäisches Geschwür! Wahnsinn! und was noch alles! Kranke, tückische Europäer, die sich zerfleischen . . . Nun und die Chinesen?“

Den Kopf schulterwärts geneigt, lauschte er bei der Tür, trat zum Dichter. „Wenn Sie eingestehen, daß Sie Ihrer Armut . . . dieses dummen Hundertmarkscheins wegen den Lehrer getötet haben . . . vielleicht, vielleicht kann Sie das retten, ich meine, vor dem Äußersten . . . Armut, Not, Elend und so weiter, arbeitslos. Lassen Sie mich nur machen!“

„Wegen des Hundertmarkscheins habe ich es aber nicht getan. Das weiß jetzt sogar der Staatsanwalt.“ Er ärgerte sich, weil er geredet hatte.

Der Verteidiger lauschte. „Also, denen im Gerichtssaal können Sie das ja weiszumachen versuchen, ist Ihr gutes Recht, obschon es nicht klug war . . . aber mir gegenüber ist das glatter Unsinn. Sie sagten sich — Geld ist Geld. Ich brauche welches . . . Glauben Sie denn, ich könnte das nicht verstehen?“

Schritte näherten sich. Der Verteidiger steckte schnell die Daumen in die Westentaschen und ging auf und ab, mit gleichgültigem Gesicht.

Der Schließer trat ein, nahm die Hand zur Mütze und meldete, daß er den Dichter in den Verhandlungssaal zurückbringen müsse.

„Ich weiß doch, was ich weiß“, sagte der Verteidiger noch.

 

Der Dichter stand wieder an seinem alten Platze vor der Anklagebank und hatte den Eindruck, außer ihm sei kein Mensch fortgewesen.

Frisches Interesse kam in die Augen der Geschworenen und Zuschauer, nachdem der Vorsitzende den Gerichtspsychiater gebeten hatte, seine Meinung zu äußern.

„Wesentliches“, begann er, in bescheidener, korrekter Haltung, „habe ich meinem schriftlichen Gutachten nicht hinzuzufügen.“

Nur der Einäugige bemerkte, daß bei diesen Worten die Angstspannung das Gesicht des Staatsanwaltes verließ.

„Daß der Angeklagte versuchen werde, den Prozeß auf . . . auf phantastisch-intellektuelles Gebiet hinüberzuleiten, war vorauszusehen, insofern das, wie ich bei mehrfacher Untersuchung und während längerer Beobachtung erkennen konnte, seinen psychischen Anlagen und vor allem dem Drange entspricht, durch kümmerlich motivierte Behauptungen vom Kernpunkte der Tat abzulenken . . . So versicherte er mir zum Beispiel, daß neunundneunzig Prozent aller Menschen irrsinnig und nur die sogenannten weltfremden oder verrückten normal seien . . . Die moderne psychiatrische Wissenschaft steckt jedoch beileibe nicht mehr derart in den Kinderschuhen, daß es dem zu Beobachtenden durch x-beliebige wirre Aussprüche gelingen könnte, den untersuchenden Arzt zu täuschen. Es gibt im Gegenteil heute schon nahezu mathematisch genaue Stützpunkte, von denen aus der Arzt mit relativ großer Sicherheit das wahre Seelenbild des Kranken nachzuzeichnen vermag.“

Der stumme Kampf zwischen dem Vorsitzenden, der den Doktor die momentane Entwicklungsstufe der modernen psychiatrischen Wissenschaft nicht darstellen lassen wollte, und dem Staatsanwalt, der durch Unterbrechung etwas zu verlieren fürchtete, wurde von dem darauf aufmerksam gewordenen Psychiater bereitwillig beendet.

„Der Großvater des Angeklagten war ein Müllerbursche, der eine sonderbare Leidenschaft für Musik hatte, nämlich viele Jahre lang regelmäßig seinen Wochenlohn mit Zigeunern verjubelte, die ihm aufspielen mußten. Er wurde deshalb der wilde Beethoven genannt. Soll ihm auch zum Verwechseln ähnlich gesehen haben. Er, sowie auch des Angeklagten Schwester, haben Selbstmord begangen, aus Motiven, die nicht klar festgestellt werden konnten . . . Wenn auch des Angeklagten Eltern soweit gesund sind, muß somit doch angenommen werden, daß er etwas erblich belastet ist.“

„Während der Herr Psychiater sein Gutachten abgibt, darf er, wenn irgend möglich, nicht unterbrochen werden“, sagte der Vorsitzende ruhig zum Staatsanwalt, der sprechbereit aufgestanden war.

„Jahrelange Unterernährung und seine lebenslangen Anstrengungen, sich bei nur Volksschulbildung geistigen Besitz zu erwerben, haben des Angeklagten Nervenkraft ruiniert und damitdie so nötigen staatsbürgerlichen moralischen und sittlichen Hemmungen beseitigt.“

Der Dichter sah den Psychiater groß und still an, als der fortfuhr: „So daß gewisse Anzeichen einer geistigen Erkrankung — der dementia praecox — ins Bild passen.“

„Was ist das?“ fragte der Zigarettenhändler den neben ihm sitzenden Geschworenen.

Der wußte es auch nicht.

Der Psychiater kam ihnen zu Hilfe: „Es handelt sich um eine beginnende leichte Verblödung . . . Das Ganze spricht aber höchstens für eine moralische Minderwertigkeit, die Verantwortung nicht ausschließt.“

Der Staatsanwalt rückte seine Mappe gerade, sah auf. „Nach Ihrer Anschauung ist der Angeklagte also voll und ganz für seine Tat verantwortlich zu machen.“

Und der Dichter sagte, plötzlich gereizt: „Nach meiner Anschauung ist Ihre moderne Psychiatrie eine seelische Hochstapelei, die mit exakter Wissenschaft ganz und gar nichts gemein hat.“

Der Vorsitzende wies ihn streng zurecht.

Und der Arzt antwortete dem Staatsanwalt: „Da es sich beim Angeklagten um einen ausgesprochenen Grenzfall handelt, kann ich mich nicht entscheiden, ob infolge seiner vererbten und erworbenen Anlagen mildernde Umstände in Frage kommen dürften. Doch würde ich, gesetzt, ich müßte mich entscheiden, eher Nein sagen als Ja.“ Er verbeugte sich.

Und der Verteidiger rief in das durch Stellungwechseln der Zuschauer verursachte Geräusch hinein mit verzweifelt dünner Stimme: „Zuerst sagen Sie, Sie können sich nicht entscheiden, und dann entscheiden Sie sich doch! Das kann jeder! Ich auch.“

Worauf der Psychiater ein Gesicht machte wie ein Mensch, der ans Verfolgtwerden gewöhnt ist.

 

Kurz und scharf ließ der Staatsanwalt in seiner Schlußrede den Gang der Verhandlung noch einmal aufhellen, streifte öfters mit einem Blick seine Frau, die ein helles Frühlingskleid von unbestimmter Farbe trug, eine große, weinrote Schleife seitwärts am Halse, und die Atmosphäre von Jugend und Gepflegtsein um sich verbreitete.

Beim Erwähnen der Not und der ständigen Geldlosigkeit wurde seine Stimme milder, wieder laut und bestimmt bei der Arbeitsscheu und den Beziehungen zum Straßenmädchen, und als er das Auffinden des erwürgten Lehrers vor der durchwühlten Schreibtischlade und des geraubten Geldes beim Dichter in einem gut gebauten, effektvoll gesteigerten Satz zusammengefaßt hatte, wirkte die ruhige Selbstverständlichkeit seines Tonfalls sehr überzeugend bei der Schlußbitte, die Schuldfrage nach vorsätzlichem, überlegtem Raubmord zu bejahen.

Während der Worte des Staatsanwalts, der Dichter habe moralisch zwei Menschenleben auf dem Gewissen — denn die treue Haushälterin des Lehrers sei vor Schreck erkrankt und gestorben —, hatte der Offizialverteidiger das Monokel abgenommen.

An diesem Ausspruch klammerte er sich an bei seinem Verteidigungsversuch, behauptete, man könne nicht ohne weiteres annehmen, daß dem Dichter auch noch die Schuld am Tode der Haushälterin beizumessen sei, wurde sehr erregt und fand das Monokel nicht. Nervös setzte er seinen Zwicker auf und durchblätterte eine Zeitung:

„Ich muß erklären, daß er gearbeitet hat. In der heutigen Nummer ist sogar etwas von ihm abgedruckt. Ist denn Dichten keine Arbeit? . . . Hier!“

In seiner Ratlosigkeit las er vor:

„Wenn ich gestorben bin,

Wird mein Kind an einem sonnigen

Gartenzaun entlang streifen, sich niedersetzen,

Gefühlvoll und klug

Die Welt betrachten:

Die Ritzen zwischen den Steinen,

Käfer, die auf den Dolden sitzen.

Große Last wartet auf dich,

Mein Kind,

Und Weinen.

Du mußt es tragen

Wie alle.

Möge die gute Besitzerin des Gartens

Meinem Kind

Durch die Stäbe

Eine Hand voll Pflaumen reichen!“

Noch eine Weile blieb es still im Saal. Der Verteidiger sah erstaunt auf, öffnete den Mund, schloß ihn wieder. „Aber ist denn das nicht schön?“

Der Staatsanwalt ging bei seiner Entgegnung auf ihn nicht ein, hob noch einmal hervor, daß der Dichter der unliebsamen Zeugen wegen nach Berlin zurückgefahren sei, gleich in der folgenden Nacht wieder in die Heimatstadt. „Ungesehen schlich er diesmal durch die noch dunklen Gassen zum Lehrerhaus . . . Bei der ausgezeichneten Intelligenz des Angeklagten, der sogar durch seine phantastisch-theoretischen Abschweifungen einen dünnen Faden Logik ziehen konnte, kann dieses Vorgehen nur als planvolle Überlegung gedeutet werden. Darüber, daß der Angeklagte seinen Lehrer, dessen ganzes Leben wirklich nichts als Mühe und Arbeit war, deshalb ermordete, weil dieser ihm vor zweiundzwanzig Jahren ein Glas Milch verweigert hat, will ich wirklich nicht sprechen.“ Er sah mit einem ruhigen Blick an der nickenden Geschworenenreihe entlang und schloß:

„Mit ausschlaggebend für Ihren gerechten Wahrspruch muß das scharf hervortretende Motiv sein, daß der Angeklagte seinen alten Lehrer, der ihn fürs Leben vorbereitete, wegen einer Geldsumme, wegen eines Hundertmarkscheines ermordet hat.“

Er glaubt es nicht und sagt es doch, dachte der Dichter.

„Ich sage es aus meiner tiefsten Überzeugung heraus . . . er hat es nicht wegen dieses dummen Hundertmarkscheins getan!“ rief der Verteidiger heftig.

‚Und der glaubt das nicht und sagt es doch.‘

Der Vorsitzende wippte sich nach vorn, schlug die Aktenmappe zu, sah den Dichter an. „Wollen Sie noch etwas sagen . . .? Wenn Sie noch etwas sagen wollen . . .“

An Stelle des Dichters schien ein fremder Mann zu sprechen. Sein Gesicht war alt und klar. „Wenn ich noch von mir und im Sinne des Staatsanwaltes sprechen wollte, würde ich sagen: er schiebt mir ein falsches Motiv unter. Ich weiß aber, daß es ein Motiv in diesem Sinne gar nicht gibt. Denn für den Menschen besteht ein Motiv nicht so wie für den Hund, der eine Wurst stiehlt, weil er Hunger hat; sondern für ihn ist das Motiv — der Impuls — ein Glied der eisernen Ursachenkette seines ganzen Lebens . . . Deshalb ist nur allein derjenige gerecht, der nicht nach den an der Oberfläche liegenden Motiven urteilt, sondern die Ursachen zu den Motiven sucht und dann verurteilt . . . wenn er es dann noch kann.“

Der Vorsitzende sagte gütig: „Sehen Sie, es liegt nicht in Ihrem Interesse, jetzt noch so ins Allgemeine abzuschweifen . . . Sie sollten nur an sich denken.“

„Für mich habe ich kein Interesse mehr“, sagte der Dichter, mit aus weiter Ferne kommender, vom Wind gereinigter Stimme. „Für mich halte ich meine Verteidigungsrede nicht.“

Die Sätze folgten einander pausenlos und immer schneller.

„Wie denn! Andere zu verteidigen, haben Sie keinen Grund.“

„Dieser Meinung bin ich nicht.“

„Das bleibt Ihnen überlassen. Aber Abschweifungen möchte ich Ihnen nicht erlauben.“

„Was Sie so nennen, ist kein Abschweifen. Ich habe noch etwas zu sagen.“

„Nun?“

„Ich sage, daß allen Menschen die Ursachen des Verbrechens ins Gehirn geschleudert werden, in einem Alter, in dem sie sich noch nicht dagegen wehren können, solange sie Kinder und einer eigenen gedanklichen Kritik noch nicht fähig sind . . . So werden die Menschen schuldig, ohne schuldig zu sein.“

„Alle Menschen sind sich doch aber darüber einig, daß die Kindheit die schönste Zeit ihres Lebens war“, sagte der vollblütige Geschworene.

Der Vorsitzende: „Ich kann Sie wirklich nicht mehr in dieser Weise weitersprechen lassen.“

Und leidenschaftlich der Dichter: „Wo soll ich denn die mit meinem Leben erkaufte Einsicht noch äußern, wenn nicht hier in diesem Saale?“ Seine Ruhe war Erregung gewichen.

Ein von Mann zu Mann weitergegebener Blick halben Zugestehens ließ den Vorsitzenden sich noch einmal zurücklehnen.

Und während hinten die Zeitungsberichterstatter stenographierten für die wartenden Schnellpressen, sprach der Dichter:

„Die Erlebnisse — die ersten Ursachen zu späteren Verbrechen — erscheinen nur den Erwachsenen klein. Das Kind empfindet sie riesenhaft groß, wird furchtbar getroffen und erschüttert. Denn sein ihm angeborener, unbedingter Glaube an das Leben . . ., seine Naivität bekommt die erste Wunde. Das macht das Kind unsicher und empfänglich für neue Verbrechensursachen, an denen es, noch unverwundet, vielleicht vorbeigegangen wäre . . . Ich habe das an mir erfahren.“

Immer noch freundlich, bemerkte der Vorsitzende, hier sei doch nicht von Kindern die Rede.

„Natürlich von Kindern!“

„Aber nein doch! Von Ihnen.“

Der Dichter sagte hartnäckig: „Von Kindern!“

Der Vorsitzende sah die Geschworenen an, als wolle er sagen: hören wir diesem wunderlichen, armen Menschen halt noch eine Weile zu, und lehnte sich zurück. „Bitte!“

„Die falsch und böse behandelten Kinder erleben große Qualen, plötzliche Schrecken . . . und werden doch nicht irrsinnig, wie mancher erwachsene Mensch, wenn ihn ein Unglück unvermittelt trifft . . . Die Natur pariert hier den Stoß . . . sie läßt das Kind vergessen. Sonst gäbe es mehr irrsinnige Kinder als irrsinnige Erwachsene. In allen Städten würden ganze Straßenzüge Kinderirrenhäuser sein.“

„Was wollen Sie eigentlich! . . . Kinderirrenhäuser?“ „Das sage ich . . . Aber nichts bleibt ohne Wirkung. Furchtbar ist das Vergessen. Denn alle bösen Erlebnisse leben, ohne daß es das Kind weiß, in ihm weiter, werden mit ihm groß, bestimmen alle seine Handlungen . . . Wenn ich nicht vergessen hätte, was mir in dem Hohlweg geschehen ist, würde ich vielleicht ein ganz anderer Mensch geworden sein.“

Der Verteidiger schüttelte mißbilligend den Kopf.

„Also, Sie wissen doch, daß es bei mir steht, Ihnen das Wort zu geben und zu nehmen . . . Sie müssen zusehen und nicht mehr von diesen Dingen sprechen.“

In versteinerter Hartnäckigkeit tastete er seinem Gedankengange nach, zog suchend das Gesicht in Falten, daß sich die Augen fast ganz schlossen, sprach sehr langsam: „Diese den Menschen klein scheinenden Ursachen wachsen mit den Menschen, werden eigenmächtig . . . werden eigenmächtig, und zu der Zeit, da das von ihnen . . . besessene Kind anfängt, kritisch zu erleben, ist es schon vollkommen den Ursachen zum Bösen ausgeliefert . . . Das gilt für jeden. Daher kommt es auch, daß fast alle Menschen im Traume die schwersten Verbrechen begehen. Was jeder einzelne — Christus, das junge, unschuldige Mädchen, die großen Dichter, meine Richter und Sie, Herr Staatsanwalt, — schon an sich erfahren haben. Diese Menschen begehen Verbrechen deshalb nur im Traume, weil günstige Erlebnisse, welche die Kraft der Reinigung besaßen, sich ihnen zufällig in den Weg gestellt haben oder weil sie selbst die große Kraft der Güte, die innere Kraft zur Reinigung in sich tragen, oder aber wie Sie, meine Herren Richter und Ankläger, durch machtverleihende Klassenprivilegien vor den zahllosen Ungeheuern, die den Armen treffen, geschützt sind. Ihr eigenes Verdienst ist es nicht, daß — Sie die Richter sind und ich der Mörder . . . Es könnte schrecklich leicht umgekehrt sein.“

Der Staatsanwalt machte eine unwillige Kopfbewegung, seine Frau sah ihn erschrocken an, und der Vorsitzende rief aufgebracht: „Haben Sie noch etwas zur Sache vorzubringen?“

Ohne daß er es rügte, verstärkte sich das Geräusch der unaufmerksam gewordenen Zuschauer. Ein rotbäckiger junger Mann, der neben der Frau des Staatsanwaltes in der ersten Bankreihe saß, antwortete seinem Nachbar: „Nein, in die Kreissäge bin ich gekommen. Drei Finger hats mir weggerissen . . . mitsamt dem Daumen“, und zeigte seine verbundene Hand. Sie roch stark nach Karbol.

„Ein schönes Unglück!“

„Im Gegenteil, ich bin froh . . . Jetzt bekomme ich, solange ich lebe, drei Mark monatlich Unfallversicherung.“

„Und die Hand?“

„. . . Aber alle die Unglücklichen, welche infolge größerer Empfindsamkeit, Empfänglichkeit und übergroßer Armut tiefer infiziert sind und vom Schicksal keine heilenden Erlebnisse geschenkt bekommen haben, werden als willenlose Werkzeuge der eigenwilligen Ursachen zum Bösen . . . dem Leben ausgeliefert. Da müssen sie nun für Handlungen einstehen, die sie gar nicht selbst tun. Denn der Mensch ist nur der Hammer, die Ursache aber die Faust, die den Hammer schwingt . . . und ihn manchmal auf den Schädel eines Nebenmenschen niedersausen läßt.“

Gellend rief er: „Fast alle Verbrechen werden von der falschen Erziehung, der verlogenen Moral, den unsittlichen sozialen Verhältnissen verursacht. Alle Seelen sind verwundet. Die ganze Welt riecht nach Karbol! . . . Man muß daran arbeiten, daß die Ursachen der Verbrechen beseitigt werden; denn sonst wird weiter eingesperrt, geköpft, noch in hunderttausend Jahren.“ Der Satz blieb in der Luft stehen. Alle lasen ihn.

Und der Dichter fragte in maßlosem Staunen: „Sind denn die Menschen dazu da?“

Geschworene schüttelten begriffsstutzig den Kopf. Der Vorsitzende legte seine Uhr entschlossen vor sich hin.

Der Dichter sagte: „Ich kenne einen Irrsinnigen, der reist seit Jahren in der ganzen Welt umher — nach Odessa, Rom — und sucht sich selbst. Den haben die Ursachen so in der Gewalt, daß er sich — sein wirkliches Wesen — ganz verloren hat . . . Jetzt sucht er sich selbst, sein Leben lang. Das gilt für uns alle. Keiner ist, wie er ist . . . Einem verderbenbringenden Wasserwirbel, trichterförmig, riesengroß, gleichen die sozialen Verhältnisse. Oben fahren die Repräsentanten, die Stützen der Gesellschaft im großen Kreise geschützt und gleichmütig langsam die Bahn ihres Lebens ab.“

„In Klubsesseln“, ertönte es von ganz hinten aus dem Zuschauerraum.

Das Gelächter brach jäh ab, als der Vorsitzende„Ruhe!“ brüllte, und zum Dichter: „Jetzt ists genug!“

Es war vollkommen still geworden. „Man sieht sie Importen rauchen“, sagte noch jemand nachträglich.

Der Kontakt war hergestellt zwischen dem Publikum und seinem Sprecher.

Der sah nicht mehr gefesselt aus, stand groß und kalt im Saal, sprach hart. „Aber unten wird der Trichter eng, immer enger, und das Wasser rast im Kreis! Unten werden die Menschen herumgewirbelt, gegeneinander geschleudert. Eine ungeheure Reibung findet statt — der furchtbare Kampf ums nackte, nackte Leben! . . . Die falsche Moral, einem unaufhörlich quellenden, giftigen Nebel gleich, erfüllt den Trichter, verwirrt die Seelen, verdeckt die natürlichen Wege. Millionen zwingt man, die Armut da unten zu ertragen, im Elend zu verblöden und unterzugehen! Andere Millionen Unglückliche drängen hinauf, wo die Kreise groß sind, wo das Leben ist. Aber die Oberen und der Rhythmus des furchtbaren Wirbels drücken nach unten. Und dieser Wunden schlagende Rhythmus der sozialen Verhältnisse ist nur durch Verbrechen zu unterbrechen . . . Dann wird verurteilt und geköpft.“

„Aber das ist ja krasseste Phantasie. Das anzuhören, haben wir nicht die Zeit.“

Da rief der Dichter, plötzlich wieder flammend: „Mein Leben ist verloren, diese fünf Minuten sollen mein sein.“

Die Köpfe der zwei Gerichtsdiener zuckten scharf ins Profil, auf ihn zu.

Ein dunkler Tumult hatte sich im Zuschauerraum erhoben; die scharfe Stimme des Vorsitzenden ging darin unter. Er wollte schon den Befehl geben, den Saal zu räumen.

„Eines Tages“, sagte der Dichter, und es wurde ganz still, „. . . stoßen die in diesem Wirbel empfangenen Ursachen einen Strahl Gift ab . . . und dies, nur dies ist des Menschen Motiv zum Verbrechen, zum Mord. Denn ich sage Ihnen: das Motiv ist nur das vorletzte und die Tat nur das letzte Glied der Ursachenkette.“ Seine Stimme wurde tonlos:

„Schuld? . . . So ist der Mensch geworden, weil sein Vater so war, seine ganze Umgebung: verwirrt, arm, gedemütigt, verwundet und deshalb böse. Schuld ist das ganze Menschengeschlecht. Am Einzelnen bricht die Schuld aller nur aus!“

„Deshalb rufe ich euch an, ich rufe euch alle an, ich schreibe euch mitten ins Herz hinein: verachtet fernerhin nicht die, so in Zuchthäusern ihr Leben verbringen müssen oder unterm Richtbeil sterben. Sie leiden und sterben für euch, durch euer aller Schuld.“

„Und Sie, Herr Staatsanwalt, Ankläger und deshalb Schuldigster dieser Welt! selbst Sie sind so unschuldig wie jene, denn auch Sie wurden den Ursachen ausgeliefert, die Sie zum Staatsanwalt, die Sie schuldig machten.“

„Ja, ich bin fertig.“ Runde Flecken brannten auf seinen Backenknochen.

 

Im Geschworenenzimmer hing ein Christus und sah schmerzlich auf die zwölf hinunter.

Der vollblütige Obmann war ein Färbereibesitzer, ein schwerer Herr, fast ohne Hals; entsprechend klang seine Stimme: „Dem kann wohl kein Gott mehr helfen.“ Vorsichtig näherte er seiner Nase eine blaue Emaildose und mußte die Augen schließen vor dem starken Duft. Dann atmete er auf. Es roch nach Staub im Zimmer.

Der Einäugige hatte seine Ruhe vollkommen verloren. Alle saßen. Nur er lief im Zimmer schnell auf und ab.

„Da ist nichts wegzudeuteln“, antwortete der Nachbar dem Obmann, der wieder die Dose seiner Nase näherte. Feierliche Verlegenheit der neuartigen Situation gegenüber ließ das Schweigen fortbestehen.

Da fielen ein paar Stichworte. Und die Geschworenen begannen angeregt die Hauptpunkte noch einmal durchzusprechen.

Mitten hinein sagte der Zigarettenhändler plötzlich:

„So ein ruhiger, bescheidener Mensch. Bei mir hat er sich oft seine billigen Zigaretten gekauft. Ist auch manchmal schuldig geblieben. Ganz schüchtern . . . Und jetzt so was.“

„Ja“, sagten nacheinander einige sinnend. Dann schwiegen wieder alle.

Ein Alter stand auf, öffnete das Fenster der Sonne, setzte sich sofort wieder auf den steifen Stuhl, und hinter seinem kahlen Kopfe breitete der unbewegliche Adler an der Lehne wieder die hölzernen Flügel aus. „Einen Menschen ermorden,“ sagte der Kahle, „hundert Mark rauben und einen Teil davon nach der Tat an jemand senden — auch dieses Moment spricht . . . psychologisch betrachtet, glatt dafür, daß die ganze Sache lange vorher überlegt war . . . Sofort nach der Tat, nota bene!“

Man nickte. Der Zigarrenhändler sagte etwas. Und auf Befragen des Obmanns hin wiederholte er: „So ein schüchterner Mensch!“

Der Einäugige sagte: „Die Sache stimmt nicht“, und lief gleich wieder weiter umher, unruhig wie ein Mann, der sich großer Verantwortung bewußt ist, aus der Berufstätigkeit herausgerissen und plötzlich vor eine Sache gestellt wurde, die er nicht übersieht. „Man brauchte Zeit . . . viel Zeit.“

Alle blickten interessiert, der kahle Psychologieprofessor erstaunt auf ihn.

Der Einäugige sagte noch einmal: „Vorher überlegt? Lange vorher? . . . Nein.“

Da fügten die anderen den Beweis dafür, daß es kein Affektmord sei, schnell und eindeutig zusammen.

„Davon ist nichts wegzudeuteln“, schloß der Kahle bestimmt, zuckte bedauernd die Schultern, sah den Einäugigen fest an.

Der rief: „Das ist es ja. Weiß der Teufel! Aber noch keine fünf Minuten lagen zwischen Affekt und Tat.“

„Ja, will ich schon erklären. Man muß diesem . . . Dichter doch glauben, daß er gegen seinen Lehrer etwas hatte. Pardon, ihn hat dieses Jugenderlebnis eben angegriffen. So etwas gibts. Einen anderen hätte es vielleicht kalt gelassen. Auf jeden Fall kann man das ebenso annehmen wie das Geldmotiv . . . glaube ich. Sitzt er bei seinem Lehrer in der Stube . . . kommen die zwei Schüler — die Geschichte kennen Sie ja —, er muß die Prügelei mit ansehen.“ Der Einäugige lief beim Sprechen fortwährend umher; die Blicke der Geschworenen folgten ihm von Ecke zu Ecke. „Und diese Szene, kann man schon glauben, erregte seinen Haß. Wenn . . . jetzt die Sache vor sich gegangen wäre . . . sofort, dann hätten wir einen Affektmord.“

Erstaunt sahen die Geschworenen den Einäugigen an, weil er sich an die Stirn schlug.

„Aber dieser Mensch, ich möchte sagen . . . sammelt seinen Zorn, hält dem Lehrer erst noch den bewußten Schulausflug vor und bringt ihn dann erst um. Also überlegt. Überlegt! . . . Daran ist vielleicht nur seine verfluchte Blutarmut schuld.“

„Bitte, gewiß. Ich, als Arzt, weiß das. Ein vollblütiger Mensch greift gewöhnlich zu im Affekt. Zu viel Kopf, Gedanken. Weiß der Teufel . . . zu viel Überlegung!“

Der Obmann sagte: „Also auch in diesem Falle wäre es kein Affektmord. Das meinen Sie doch, wie?“ Alle stimmten ihm bei.

Widerstrebend auch der Einäugige. „Wenn er es auch nicht wegen des Geldes getan hat . . . Mord bleibt Mord. Irrsinnig ist er nicht.“

Der kahle Psychologieprofessor wandte sich von jetzt ab achtungsvoll fast nur an den Einäugigen.

Der lief umher, die Hände auf dem Rücken. „Hätte er nur ein viertel Pfund Blut mehr in seinem ausgemergelten Körper gehabt, dann bekäme er ein paar Jahre und hätte Zeit, sich über seine Ursachentheorie klar zu werden.“ Er sah den Obmann an: „Jetzt — Kopf. Ich sehe keine andere . . . gesetzliche Möglichkeit. Ich sehe keine. Sehe keine!“ und lief weiter.

Niemand wußte etwas zu sagen.

„Wissen Sie denn auch, mit wem Sie gefahren sind?“ unterbrach ein gedankenabwesender Geschworener das Schweigen. Er war viel jünger als alle anderen. Sie sahen ihn verständnislos an.

Er errötete, lächelte ein wenig und erzählte eine Geschichte. Damals sei er noch Reisender gewesen in seiner Branche. „Da mußte ich meine Touren meistens zu Fuß machen.“

Unwillkürlich hörten sie ihm zu. Der Einäugige lief mit gesenktem Kopf umher.

„Da holte mich ein sonderbarer, ein ganz sonderbarer Wagen — schon mehr ein Karren — auf der Landstraße ein. Ich war müde, dunkel wurde es auch schon. Kurz und gut, der Fuhrmann ließ mich aufsitzen. Der pfiff manchmal, leise und unheimlich, und kitzelte dabei sein schwarzes Pferdchen mit dem Peitschenstiel beim Nacken. Nun, vor der Stadt stieg ich ab . . . ‚Wissen Sie denn auch, mit wem Sie gefahren sind?‘ fragt er mich.

‚Ich bin der Scharfrichter.‘

Ich sage Ihnen, meine Herren . . .“

„Hätte er es gleich getan, im ersten Zorn . . . Zu wenig Blut“, unterbrach der Einäugige.

Der junge Geschworene war beleidigt. „. . . Da brauchte er ja nur ein ganz anderer Mensch zu sein, dann würde er jetzt vielleicht in einem . . . in einem Postbureau sitzen und gar nicht daran denken, einen Menschen umzubringen.“

Einige lächelten. Der kahle Psychologieprofessor nicht. Auch die anderen wurden gleich wieder ernst und fühlten momentan einen schwereren Druck in der Brust. Der junge Geschworene saß vorgebeugt, sagte langsam: „Es ist wirklich nicht leicht.“ Und als er sich seufzend aufrichtete, setzten sich auch die anderen gerader.

„Dann säße er vielleicht in einem Bureau . . . wenn er ein anderer Mensch wäre, wenn er . . . in anderen Verhältnissen aufgewachsen wäre, wie zum Beispiel . . . wir.“ Der Einäugige blieb zum ersten Male stehen, an der Stirnseite des Tisches, gegenüber dem Obmann. „Der . . . der Dichter meint, er sei so geworden, wie er ist, wegen dieser Ursachen. Sei ihnen gegenüber ganz machtlos . . . also schuldlos.“

Der Obmann sagte: „Auf dieses Thema sollten wir . . . sollen wir uns denn darauf einlassen? Verzeihung, was meinen die Herren?“ schloß er ängstlich.

„Kaum! Unmöglich!“ wurde gerufen. Die meisten machten empörte Gesichter. Einer rief wütend: „Das Ganze ist ja Unsinn“, und sah sich erschrocken um, weil er wütend geworden war.

Der Psychologieprofessor blickte, die Hand am Kinn, nachdenklich über den Christus weg zur Decke. „Da könnte ja wirklich jeder Mensch jeden Menschen umbringen . . ., der Herr Staatsanwalt hat recht.“

„Natürlich, das ist Unsinn . . . diese Ursachen“, sagte der Zigarettenhändler, ließ aber seine Unterlippe unzufrieden hängen. „Er war so ein einfacher Mensch, nett eigentlich.“

Der junge Geschworene wiederholte: „Unmöglich, die haben mit dem praktischen Leben nichts zu schaffen. Nicht wahr?“

Aber der Einäugige sprach schon. „Diese Ursachen bestehen ja . . . im Groben. Nur hat seine Theorie einen Riß: ein Vater hat zwei Söhne, beide haben eine vollkommen gleiche Erziehung. Und doch wird der eine ein brauchbarer Mensch — Landpfarrer etwa —, der andere ein bösartiger Verbrecher.“

Die Stimme des Einäugigen wurde eindringlich, hartnäckig; es schien, als wolle er sich selbst von etwas überzeugen, gegen seine innere Stimme: „Der Urquell des Bösen ist nicht in Erlebnissen zu suchen, sondern in der Natur. Die Natur selbst ist bös und gut. Und die Quelle, die Urquelle des Bösen und Guten — des Moralischen — liegt hinter dem Kreise des vom Menschen Erkennbaren . . . Kain und Abel.“

Das hatte er wie im Selbstgespräch gesagt. Durch ein Stuhlrücken wurde er erschreckt, sah verstört die Geschworenen an. Da kehrte die Hartnäckigkeit in sein Gesicht zurück. „Weshalb die Quelle des Bösen — dieses unerforschbar Mystischen im Leben — gerade diesen und diesen und jenen Menschen schuldig werden läßt, werden wir nie wissen. Aber verantworten muß sich der Schuldige den Mitmenschen gegenüber, die sich schützen müssen, so gut sie können. Die Welt ist unvollkommen . . . Wer die Ursachen des Bösen in der bestehenden Ordnung sucht und sieht, kann nicht anklagen, nicht verurteilen.“ Etwas Ungelöstes blieb in seinem Gesicht zurück.

Der Psychologieprofessor sagte zu ihm: „Die Theorie des Angeklagten bedeutet offenbar nichts anderes als Revolution. Der Himmel behüte uns vor Verantwortungslosigkeit.“ Er wartete darauf, was der Einäugige dazu sagen würde, und sah ihm erstaunt ins weiß gewordene Gesicht, sah, wie die Röte zurückkehrte und es im Gesicht zu arbeiten begann.

„Sich Geld geben lassen . . . von einer Prostituierten! Da hört doch eigentlich alles auf“, sagte der junge Geschworene. „Sie heiraten wollen!“

Alle schwiegen, beobachteten jede Bewegung des Einäugigen und unausgesetzt forschend sein Gesicht.

Der Akt der einstimmigen Verurteilung des Dichters zum Tode ging fast ohne Worte vor sich.

Auch der Zigarettenhändler sah den Einäugigen dabei an, die Unterlippe mürrisch nach außen gerollt, und nachdem der mit hastigem Entschlusse für Mord gestimmt hatte, tat er es ebenfalls, worauf sein Mund sich zufrieden schloß.

Als die Männer sich schon erhoben hatten, sagte der Kahle noch zum Einäugigen: „Diese Theorie der vergessenen Kindheitserlebnisse ist eine erst vor wenigen Jahren aufgekommene neue Richtung. Modernste Seelenanalyse. Ungreifbar wie Luft, verstehen Sie, nach allen Seiten hin zu drehen. Wir Psychologen der alten Schule wissen wenigstens das eine, daß wir nicht viel wissen; aber diese Neuen glauben auf einmal, alles zu wissen. Und das ist die große Gefahr. Große Gefahr. Wo diese Theorie mit der Praxis zusammentrifft . . ., gibts immer ein Unglück.“ Seine Hand zuckte zurück in die Hüfte.

Schnell faßte er den verstörten Einäugigen beim Ärmel. „Ganz privat, als Psychologe, möchte ich Ihnen eine Frage vorlegen . . . Glauben Sie nicht, daß der Angeklagte mit der ganzen Intensität seines Wesens sich vielleicht diese neue Theorie nur deshalb zu eigen gemacht hat . . . nachträglich, weil nach seiner Meinung nur sie noch die einzige entfernte Möglichkeit barg, für das Verbrechen nicht verantwortlich gemacht zu werden?“

Die Geschworenen waren schon durch die Flügeltür gegangen.

Der Kahle bekam keine Antwort und lief den anderen schnell nach.

Zögernd betrat der Einäugige als Letzter den Saal.

7

Der Dichter wartete auf die Revision.

Muskellos hatte er nach der Verhandlung den Saal verlassen, sich in der Zelle auf die Pritsche gesetzt, langsam, gestorben. Die Schritte des Wärters verhallten.

Da glimmte im Dunkel einer ungeheuren Ferne ein Lichtchen auf, zog als immer riesenhafter werdende Flamme auf ihn zu. Und der Dichter wurde wieder lebendig, brach los von der Pritsche, stand. „Da wird alles anders kommen, bei der Revision“, rief er, sprach weiter, erregt und begeistert mit den Händen mit, dachte alles herbei und schritt dazu schnell vom Fenster zur Tür, hin, her.

Oft stand er mit einem Ruck. Die Augen halb geschlossen, umfaßte er einen Punkt des kommenden Revisionsprozesses, lief weiter, unaufhörlich. Tagelang.

Nur in seinen Träumen wurde das Urteil entsetzlich an ihm vollstreckt. In den folgenden Nächten wieder. In einer Nacht siebzehnmal; dabei sah er auf dem Dache des Justizgebäudes als Lichttransparent das Wort „Training“ verlöschen — aufleuchten.

Sofort nach dem Erwachen fuhr er in die Sträflingskleider. Und rannte beschäftigt und ausgefüllt auf und ab.

Kam ihm, wenn er eben fensterwärts schritt, von der Tür her der Gedanke in den Rücken, in Wirklichkeit hingerichtet zu werden, befand er sich augenblicklich mitten im Revisionsprozeß. Und verteidigte sich glänzend, siegte, und der Vorsitzende rief erstaunt: Weshalb haben Sie das denn nicht schon das erste Mal gesagt? Wenn die Sache so liegt, ja dann — — —. Der Dichter war nachsichtig zu den Richtern, erklärte ihnen alles.

Aber als der Verteidiger eintrat, wagte der Dichter nicht, ihn zu fragen.

Er fragte ihn noch immer nicht.

„Wie zu erwarten war, wurde die Revision verworfen.“ Der Verteidiger sagte auch noch: „Es tut mir leid.“

„So?“ sagte der Dichter.

„So?“ sagte er, nachdem der Verteidiger schon gegangen war, und zuckte dabei mit dem Kopf nach vorne.

Entkräftet saß er auf der Pritsche. „Das glaube ich nicht“, sagte er und zog den langen Speichelfaden wieder in den Mund zurück. Dann zog er ihn nicht mehr zurück.

Ein Tag wurde so lang wie ein Menschenleben. Der Dichter blieb hocken. Die Zeit stand. Das Herz tat dumpf weh, als wäre jeder Herzschlag ein drückendes Berühren von einem Hammer aus Gummi.

Und in der Nacht schlief er nicht.

Langsam kroch die Morgendämmerung in die Zelle. Er konnte nicht durch sie hindurch atmen. Im Halbschlaf schien sie ihm ein riesengroßes, sich schwer bewegendes, graues Tier zu sein.

Zugleich mit ihr kam der Geschworene lautlos durch die verschlossene Tür, stellte sich in die Ecke und blickte mit seinem einen Auge unverwandt den Dichter an.

„Gut, daß Sie kommen, sonst hätte ich Sie heute noch besucht“, sagte der Dichter. „Denn meinen Traum von heute nacht muß ich Ihnen erzählen.“

„Deshalb bin ich ja zu Ihnen gekommen. Meine Frau hat mir den Traum ganz falsch erzählt. Sie sagte, es sei eine Eiche gewesen.“

„Nein, nein, der Lehrer sagte ja selbst, daß es eine Buche ist. Sonst hätte der ganze Schulausflug keinen Sinn für Achtjährige. Eher für Achtzigjährige. Alle standen im Wald beim Hünengrab. Ich stieg auf die Buche, bis in die oberste Spitze. Aber die dünnsten Zweige trugen mich noch. Ich sah direkt in die Sonne, und sie blendete mich nicht. Ich war wild-glücklich, lachte und sang. Da nahm die gewaltige, dunkle Hand mein Herz, stopfte es mir ins Gehirn und schloß meinen Kopf wieder. Von jetzt an fühlte ich das Netz in meinem Gehirn. Die schwarze Kreuzspinne saß in der Mitte. Kam ein Gedanke ins Netz, dann stürzte die Spinne auf ihn los und saugte seinen Sinn aus. Diese zahllosen, ausgesaugten Gedankenleichen verursachten mir einen unaufhörlichen Druck hinter der Stirn, mit dem ich viele Jahre lang durch eine ungeheuerliche Einsamkeit schwankte. Sie wurde immerzu zerrissen von Kampf- und Notschreien. Und plötzlich geschah das Schrecklichste — mein Wille ging von mir weg, ohne mich zu grüßen. Ich hatte kein Empfinden und gar kein Fleischgefühl mehr; es war mir, als hätte ich Nebel im Gehirn — da packte mich so eine besinnungslose Kinderwut, und ich erwürgte im Traum meinen Lehrer . . . Was sagen Sie dazu?“

„Ihr Wille mochte wahrscheinlich nichts mehr mit Ihnen zu schaffen haben, weil Sie ihm zu böse sind“, sagte der Einäugige. „So habe ich es auch meinem Dienstmädchen erklärt.“

„Ihrem Dienstmädchen hätten Sie das nicht sagen sollen . . . Die erzählt es dem Vorsitzenden für die Revision.“

„In meinem Hause verkehren viele Willen, auch der Ihre. Deshalb mußte ich es doch dem Mädchen erzählen für den Revisionsprozeß.“

„Dann bin ich verloren.“

„Ja, da Sie im Traum den Lehrer . . . noch einmal umbrachten, sind Sie natürlich verloren; denn daran bemerkt auch der Vorsitzende, daß das Böse in Ihnen ist . . . Gegen das Böse können Sie gar nichts tun. Ihr wirklicher Wille hat sich neben meinem Hause eine Villa gebaut. Und Sie grüßt er nicht einmal mehr. Seine Frau hat ein weißes Gesicht und dunkle Augen. Das Schlafzimmer . . . schön beleuchtet.“

„Und ich werde hingerichtet?“ schrie der Dichter und fuhr aus dem Schlafe, denn die Zellentür öffnete sich.

Der Wärter ließ den Einäugigen eintreten und blieb an der Tür stehen.

Der Dichter sprang auf von der Pritsche. Traumschnell war er in die Wirklichkeit zurückgekehrt, sah den Einäugigen an und dachte ganz langsam: Judas Ischariot kommt zu mir? . . . Verstanden und doch verraten! „Sind Sie schon länger da?“ fragte er mißtrauisch.

Und der Einäugige senkte den Blick. „Nein, ich bin eben erst gekommen“, sagte er und dachte — er vergleicht mich mit Judas Ischariot.

Tagelang hatte er sich eingeschlossen, um darüber klar werden zu können, weshalb er den Drang nicht zu überwinden vermochte, den mit seiner Hilfe zum Tode verurteilten Menschen in der Zelle zu besuchen.

Auch jetzt, da er bedrückt vor dem Dichter stand, hätte er noch nicht sagen können, weshalb er gekommen war.

„Habe ich Ihnen meinen Traum nicht erzählt? . . . Ich habe eben im Traum den Lehrer noch einmal umgebracht . . . Was ist das? In Wirklichkeit würde ich es doch nicht tun. Auch damals habe nicht ich es getan. Der Dämon führte die Hände. Ich bin unschuldig . . . Ihr ermordet mich!“

Der hat sich diese Theorie nicht angeeignet, um sich durch sie zu retten, dachte der Einäugige. Der Psychologieprofessor hat unrecht.

Da stieg zum ersten Male klar die Frage in ihm auf, ob er vielleicht unrecht damit getan habe, einen Menschen dem Tode zu überliefern.

„Bin ich deshalb gekommen?“ hatte er gefragt, ohne es zu wollen. Erschrocken blickte er den Dichter an, auf dessen verwüstetem Gesicht diese Frage höhnisch beantwortet stand.

„Ich habe umsonst gelebt, denn einstimmig wurde ich verurteilt. Ihre Stimme hat mein Leben nutzlos gemacht . . . Verstanden und doch verraten! Ein furchtbares Verbrechen.“

Der Kampf zwischen den beiden ging nur um diesen einen Punkt. Noch einmal stieg Kraft im Dichter auf, für diesen Kampf.

Da trat ein Mann ein. Das ging alles ohne Worte vor sich. Bei den Schläfen begann er. Dann scherte er von der Stirn weg mit seiner Maschine einige Bahnen bis zum Wirbel. Zuletzt scherte er den Nacken. Ganz kahl. Und ging.

Es fühlte sich kühl an, als der Dichter seinen Nacken berührte. Die Möglichkeit, mit dem Einäugigen zu kämpfen, war weg. Sein Herz wurde groß vor Angst, füllte die ganze Brust aus.

Da verzog langsam Hohn sein Gesicht. Die Hand im Nacken, den Blick auf den Einäugigen gerichtet, fragte er böse lächelnd: „Wieviel wiegt denn so ein abgeschlagener Menschenkopf? Mit allem Fleisch daran? Mit den Lippen? Wenn er noch warm ist . . . Vier Kilo? Fünf Kilo vielleicht?“

Der Wärter drehte sich zur Wand, stauchte aus einem Fläschchen Schnupftabak auf seinen Daumen, und während er ihn geräuschvoll in die Nase schaffte, sagte der Dichter bewußt grausam: „Die Kopfkugel stürzt . . . in den Kasten, schlägt auf . . . Dann kollert sie und bleibt liegen. Macht noch eine Viertelsdrehung und liegt still . . . im Profil. Im Profil.“ Er nahm die Hand weg vom Nacken und betrachtete seine Finger, sah den Einäugigen an. „Ob dann die Augen zu sind? Oder sind sie offen? Blind? Oder sehen Sie noch eine Sekunde lang? . . . Lang! Sie müssen das doch wissen, Sie haben mich ja verurteilt . . . zum Tode.“

Der Einäugige machte eine Bewegung zur Tür hin.

„Bleiben Sie noch!“ rief der Dichter, so flehend, in Angst vor dem Alleinsein, daß der Einäugige stehen blieb. Und die Verwandlung des Hohnes zum furchtbarsten Entsetzen beobachten konnte.

„Man sagt, daß das Gehirn so eines Kopfes noch eine Weile . . . funktioniert. Denkt? Der abgeschlagene Kopf lebt noch eine Weile? Denkt seinen letzten Gedanken zu Ende? Oder kann man einen Gedanken . . . mit dem Beil entzwei schneiden? Ein Beil kann das nicht! . . . Sie sind zu mir gekommen, um mir zu helfen. Und können es nicht.“

Der Einäugige sah wie ertappt auf.

Und der Dichter schrie: „Können nicht helfen! Nicht helfen! . . . Zu spät!“

Beide Hände an den Hinterkopf gepreßt, schrie er: „Mit ungeheurer Kraftanstrengung denkt der abgeschlagene Kopf seinen angefangenen letzten Gedanken zu Ende und brüllt allen Menschen lautlos ihre Schande ins Gesicht . . . Auch Ihnen! Rache! brüllt er. Rache! brüllt der Mund. Und die Gerechten, die herumstehen, hören es nicht.“

Auch der Wärter nahm seinen Schritt zum gefährlich und wild aussehenden Dichter wieder zurück und stand mit dem Einäugigen still, als der Dichter mit ganz veränderter Stimme vibrierend ruhig sagte: „Ich aber weiß — was ein gesetzlich abgeschlagener Menschenkopf spricht, wird nie verhallen, wird furchtbar gehört. Seine Worte treiben Roheit und Rache in die Herzen der Menschen hinein. Ins Sägemehl geflossenes Menschenblut spricht zum noch pulsierenden Blut. Denn alles Menschenblut ist göttlich miteinander verwandt. Und deshalb wird der Mord, den die Gesetzesmänner an mir begingen, sich tausendfältig rächen. Wird tausend Morde erzeugen.“

„Weißt du das? Der abgeschlagene Menschenkopf ist ein furchtbar mächtiger, gefährlicher Kopf. Denn er wird den Menschen ewig sichtbar bleiben, wie er im Profil im Kasten liegt. Die Bestie im Menschen wird mit den gesetzlich abgeschlagenen Menschenköpfen gefüttert . . . Das ist die Rache des Hingerichteten.“

Sein Gesicht war vom Fleisch abgefallen und spitzig geworden.

Der Einäugige brach sich los von seinem Bann, dachte müde: die Hose ist ihm ja viel zu lang, und erstarrte wieder, als der Dichter sagte: „Die Gerechten, die herumstehen, glauben, ein abgeschlagener Menschenkopf sei ein abschreckendes Beispiel.“

„Glauben Sie das auch?“ fragte er, näherte sich dem Einäugigen und blickte ihn an wie die Katze den Vogel, der sich nicht zu rühren wagt. „Ich sage dir, mein Blut, wenn es das Sägemehl rot macht, wird das Blut aller Menschen zur Rache zwingen. Zwingen! Denn es ist nur ein Blut.“

Da warf er die Arme in die Höhe, daß sie in einem Bogen wie über die ganze Welt hin verharrten. Prophetisch hell rief er: „Und als der erste Menschenkopf gesetzlich abgeschlagen war, wurde es vor Rache dunkel auf der Erde, denn allen Menschen trat das Blut in die Augen, da es sich wieder vereinigen wollte mit dem gesetzlich vergossenen Blut.“

Plötzlich tat er einen wilden Schritt zur Tür hin.

Der Wärter sprang auf ihn zu. Und ließ die Hände wieder sinken, als der Dichter haßerfüllt sagte: „Gehen Sie noch nicht? . . . Verräterchen“, sagte er leise und verächtlich.

Da verließ der Einäugige wortlos die Zelle.

Der Dichter wandte sich langsam, gezogen, zum Fenster, sah auf den ruhigen Sonnenflecken am Boden und dachte, plötzlich ganz abwesend: Die Sonne ist mir ein wunderbarer Vogel, der gestorben daliegt.

Der Wärter fragte: „Also, wollen Sie sie sehen?“

„Hier liegt sie und ist gestorben.“

„Ich meinte, Ihre Mutter ist draußen.“

Da machte er eine Bewegung, als versuche er, einer Kanonenkugel auszuweichen.

Und rief in Entsetzen: „Ich kann doch meine Mutter nicht sehen!“

„Sie steht draußen.“

„. . . Ich muß doch meine Mutter noch einmal sehen.“

„Ein kleines Frauchen.“

„Meine Mutter kann ich doch jetzt nicht ansehen!“

„Jetzt ist sie einmal da . . . Hat die weite Reise gemacht.“ Des Wärters Hände sanken wieder langsam zu den Schenkeln.

„Wann . . . sterbe ich denn?“

„Ja . . . das weiß ich noch nicht.“

„. . . Einmal noch muß ich doch meine Mutter sehen.“

Mit langgezogenem „O“ schrie er dem Wärter nach: „Halt! Unmöglich!“

Da stand sie unter der Tür, mit ihrer schwarzen Mantille, einem Kapotthut, der mit Bändern unterm Kinn festgebunden war. Wie ihre vergrößerte Photographie, die der Dichter schon als Kind gekannt hatte. Nur das gestickte Reisesäckchen war nicht mit auf dem Bilde.

Das kann doch auch der Teufel nicht wollen, dachte er und wollte zurückweichen, ging auf sie zu, da sie sich ihm näherte.

„Ja, was soll ich sagen“, sagte sie, hielt ihm die kleine, abgestumpfte Hand hin, und er sah die neuen, ganz besonderen Falten an, die sich in diesen Wochen in ihrem Gesichte gebildet hatten. Auch ihre Kopfhaltung und ihr klagender Blick drückten aus, daß die Hoffnung, ihm helfen zu können, in Machtlosigkeit und Qualen gestorben war.

„Bist müde?“ — Das ist nicht das Richtige, dachte er sofort.

„Ja, ich setz mich ein bißchen daher.“ Sie drückte erst vorsichtig auf die Pritsche und setzte sich dann auf die Ecke.

„Wie gehts dem Vater?“

Da sah sie wieder auf die Hände in ihrem Schoß. „Och, wenn der nur seine Zeitung hat . . . Grüßen läßt er dich.“ Die Tränen tropften nacheinander auf die braunen Handrücken hinunter.

„Grü . . . grüß ihn auch!“ Er konnte nicht weinen.

„Er hat g’sagt: hundert Mark hätten wir auch noch für dich aufbringen können.“

„So“, sagten seine Lippen.

„Gelt, deswegen hast du’s nicht getan,“ sagte sie tonlos. „Er war ja nie sehr g’scheit, solang ich ihn auch kenn . . . Ich glaub, es ist halt dein Schicksal. Es konnt halt nicht anders sein. Denn ich weiß doch, daß du nicht schlecht warst . . . Aber an Gott glaub ich nimmer. Hab gebetet. Umsonst.“ Auf die Handrücken tropften ununterbrochen langsam Tränen, die sie manchmal mit der Handfläche abwischte, ohne hinzusehen.

„Die Leute sagen, oft täts was helfen, wenn man sich vor den Wagen des Kaisers wirft.“

Er beobachtete ihr Weinen und wartete darauf, daß sich wieder der Tropfen von den Wimpern löse und falle, wunderte sich, daß ihre Stimme nicht gebrochen klang, und dachte, sie hat sich schon daran gewöhnt, während des Weinens zu sprechen.

„Aber der Kaiser ist verreist. Ganz weit in Dänemark . . . Das ist im Norden.“

Allmählich hatte sich im Dichter der das Weinen verhindernde Druck verteilt.

„Einen Brief hab ihm ich geschrieben . . . Aber ob ihn der Kaiser kriegt hat?“

Da fiel sein Gesicht in ihren Schoß. Die angesammelten Tränen vieler Jahre kamen in Fluß, getrieben und gestoßen von brüllendem Heulen.

Einige Male strich sie schnell über seinen Hinterkopf und hielt sofort wieder den zuckenden Körper fest.

Den beiden gegenüber lehnte der Wärter an der Wand, die Hände auf dem Rücken, und sah zu Boden.

„Ganz kahl geschoren hast du dich?“ sagte sie und streichelte im Kreis.

Mit einem Ruck hob er das verheulte Gesicht: „Geh jetzt, Mutter, geh jetzt!“ Und stand auf.

„Dann geh ich halt“, sagte sie erschrocken und sah ihn an.

„Geh!“ klagte er.

„Jesus, ich geh.“ Sie lief gleich zum Reisesäckchen, sah ihren Sohn an und sagte ängstlich: „Aber die Pritschen sollen ja so hart sein“, öffnete das Säckchen und zog ein kleines, weißes Kissen heraus. „Legst dein Kopf da drauf . . . Es ist ganz frisch überzogen . . . Ich geh schon.“

Mit letzter Gewalt zwang er sich, ruhig das Kissen zu nehmen.

„Dann halt adjö . . . Jetzt sterb ich halt auch.“ Da lächelte sie wunderbar.

Der Wärter wippte sich los von der Wand.

„O du gute Mutter, o du gute Mutter“, konnte der Dichter sagen und auch lächeln.

„Och, du lieber Gott“, sagte sie unter der Tür, „du lieber Gott“, und trippelte hinaus.

Er sah auf die verschlossene Tür, setzte sich auf den Boden. „Da, da, da.“ Bei jedem „da“ sank sein Kopf tiefer zwischen die Kniee. „Tatataratata.“

So blieb er hocken.

 

Der Einäugige lief in den Gängen des Zuchthauses umher und kämpfte mit sich, um seinen Entschluß zu fassen, bevor er hinaus in die Helle trat. Manchmal blieb er stehen mit seinen Gedanken und sagte immer wieder dieselben Worte: „O ja, natürlich, ich muß mich entscheiden — ein Lump mit leichtem Gewissen werden oder die Konsequenz ziehen . . . Die Konsequenz“, wiederholte er langgezogen.

Seitdem er die Zelle verlassen hatte, deckte sich sein scharf zu denken fähiges Gehirn glatt mit einem neuen, tiefen Verantwortungsgefühl, das der Dichter angesprochen und herausgefordert hatte. Er schob die Tatsache, daß er dem Gesetze nach dem Dichter gegenüber im Recht blieb, als vollkommen nebensächlich zur Seite und war bemüht, sich klar sein Problem zu stellen.

„Die andern Elf sind überzeugt, im Recht zu sein. Dann sind sie ja für sich im Recht . . . Gut für sie. Aber ich, ich habe da etwas erkannt . . . nur ein bißchen zu spät, ein bißchen zu spät. Würde jetzt nicht mehr dazu helfen, daß im Namen des Rechtes von einem Menschen . . . einem Menschen der Kopf heruntergeschnitten wird . . . im Namen des Rechtes. Hab aber dazu geholfen. Was ist da zu tun? He?“

Automatisch blieb er vor des Oberstaatsanwaltes Tür stehen. „Umsonst. Es wird zu spät sein.“ Und trat ein.

„Ja, das vom Herrn Verteidiger eingereichte Begnadigungsgesuch ist abgelehnt. Bitte.“

„So?“

„Nein! Da ist nichts mehr zu machen.“

„Und wenn . . . wenn aber . . .“

Schon mit der höflichen Abschiedsverbeugung: „Und wenn die ganze Welt einstürzt.“

„Dann ist . . . meine eingestürzt.“ Die geölte Tür schloß sich sanft hinter dem Einäugigen. „Keine Hilfe mehr?“

Die Mutter trat aus der Zelle. „Wo ist denn der Nausgang, Herr?“

Er blickte sie abwesend an, nickte langsam: „Gibt keinen.“ — Ich, für mein Persönchen, fühle mich ein bißchen schuldig, daß der hingerichtet wird . . . Daß der hingerichtet wird —.

„Gehts da naus?“

„Ja, da hinaus. Sie sind die Mutter? Wie?“

„Och, du lieber Gott.“ Ihr jetzt schlaffes Reisesäckchen streifte am Boden, als sie den dämmerigen Gang entlang trippelte.

„Nur nicht ausweichen, das ist die Mutter.“ Er fühlte, wie die Last sich vergrößerte, und ging neben der Mutter her.

Auch noch auf der Straße, wo die Automobile sausten.

Wenn sie stehen blieb, um einen Übergang zu gewinnen, blieb auch er stehen. „Und der bleibt zurück in der Zelle . . . bis ihm der Kopf abgeschnitten wird. Das soll abschrecken. Zweck. Hauptzweck.“ Da empfand er tief, daß Roheit nie das Gegenteil, sondern wieder Roheit erzeugt und deshalb nicht abschrecken kann. „Wird tausend Morde erzeugen, hat er gesagt. Und tausend ungerechte Richter . . . Ungerechte Richter. Das ist mein Fall, sieh mal.“

„Soll ichs Ihnen tragen?“

Sie gab ihr Reisesäckchen nicht her; nahms zur Brust hoch.

Und wie stehts da mit dem andern Hauptzweck, nämlich, daß die Gesellschaft sich schützen muß? . . . So gut sie kann, habe ich gesagt, dachte er und sah in die Luft. „Da Roheit — Roheit, und Hinrichtungsmorde — Hinrichtungsmorde erzeugen?“

Jemand grüßte ihn tief; er bemerkte es nicht. „Die Ursachen des Bösen, der Roheit, der Morde wegräumen, hat er gesagt, denn sonst wird weitergeköpft, noch in hunderttausend Jahren . . . Und jetzt wird er geköpft. Und ich? . . . Ich bin sein Judas Ischariot.“ Er fühlte eine schmerzliche Heiterkeit in sich entstehen, wie Menschen sie empfinden, die endlich entschlossen sind, etwas Unabwendbares, Schweres auszuführen.

So sah er auf die Mutter hinunter.

Die humpelte eilig quer über den Asphalt. Das Auto kam in voller Fahrt auf sie zu. Der Chauffeur wich nach rechts aus, sie gleichfalls. Die Gummi schleiften und rauchten, als er den Wagen scharf nach links riß — während sie gleichfalls nach links sprang und er zugleich mit ihr wieder die rechte Seite zu gewinnen suchte. Hin. Her. Zuletzt konnte sie nur noch den Oberkörper nach links und nach rechts schwenken, immer in der Richtung des zickzackfahrenden Autos — da setzte der Einäugige auf sie zu, und sie schwebte am Leibe des Einäugigen knapp vor dem Auto in Sicherheit.

Jetzt erst schrieen die Passanten erschrocken auf. Und der Wagen war schon um drei Häuser weiter, ehe ihn der Chauffeur zum Stehen bringen konnte.

„No, jetzt so was“, sagte sie. Sofort kehrten ihre Gedanken zum Sohn zurück. Sie murmelte: „Och, du lieber Gott“, und wollte weitergehen, da wurden ihre Kniee weich.

Der Einäugige rief nach dem Auto. Der Chauffeur entschuldigte sich.

„Ja, mit so was fahr ich nicht.“

Er mußte eine Droschke nehmen.

„Jetzt wär ich tot“, sagte sie im Wagen. „Wärs vorbei.“

Hab ich zum Ersatz seine Mutter gerettet . . . Nein, nein, das ist ganz ohne Belang. „Ganz ohne Belang“, sagte er und machte eine Handbewegung.

„Wär ich tot . . . Mir wärs lieber.“

Er dachte — schon allein deshalb.

„Sind Sie einer vom Gericht, Herr?“

„Da haben Sie ihm Unrecht getan. Großes Unrecht“, wiederholte sie, als sie, vom Einäugigen halb getragen, die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hinaufstieg.

„Das weiß ich besser.“ Sie saß im Lehnstuhl, das Reisesäckchen vor den Füßen. „Ich hab ihn doch aufgezogen, Herr.“ Sie besann sich, während er auf der Spiritusflamme zwei Eier für sie kochte, und sagte: „Wissen Sie, wie er ist? . . . Ritterlich ist er, ritterlich.“

Ich auch, dachte er und lächelte wie ein Knabe von hundert Jahren.

Das Arbeitszimmer stand voll Reagenzgläser, Meßzylinder, Kolben, Apparate, Bakterienbrutöfen, unter denen die blauen Gasflämmchen gleichmäßig brannten. Hinter einer spanischen Wand stand ein großer Röntgenapparat. Der Gelehrte beschäftigte sich hauptsächlich mit bakteriologischen Experimenten und führte nur nebenher seine Arztpraxis weiter. Es war warm wie in einem Bad und roch nach Medizin.

Der Einäugige sah in den Kochtopf, sah den Dichter. Das Wasser warf schon Bläschen.

„Wenn Sie die Eier mit kaltem Wasser zugesetzt haben, dann sind sie wachsweich, wenns Wasser kocht, ja . . . Och Gott.“

„Mit diesem Bewußtsein weiter Menschen behandeln, essen, spazieren gehen?“ Ein Gefühl lief ihm durch den ganzen Körper. Er machte eine bejahende Verbeugung vor der Konsequenz. „Seine Stimme geben, ist leicht, geht schnell, ist Leichtsinn . . . aber mit dem Beil einem angeschnallten, wehrlosen Menschen auf den Nacken schlagen — — —. Zum mindesten müßte jeder, der einen Menschen zum Tode verurteilt, bereit sein, den Kopf auch selbst abzuhauen mit dem Beil . . . Aber da wäre er kein Mensch, und es wäre genau so richtig, wenn der Hinzurichtende . . . ihm den Kopf abschlüge . . . Und dann, das wird ja ganz zur Nebensache — ob der Dichter mit seiner Auffassung recht hat oder der Staat mit seiner. Auf keinen Fall darf einem Menschen gesetzlich der Kopf . . . der Kopf abgeschlagen werden . . . gesetzlich.“

„Jetzt sterb ich halt auch . . . Ich hab ihn doch geboren. Hätt ihn nicht in die Welt setzen dürfen, Herr.“

„Sieh mal an,“ sagte er glanzvoll, „wie wunderbar sie das Problem der Verantwortung löst.“ Wieder lief ihm ein Gefühl durch den Körper, das den letzten Widerstand auflöste. Dann wurde er ruhig.

Während sie die Eier aß, schrieb er auf einen Zettel, kein Mensch habe das Recht, einem Menschen den Kopf herunterschlagen zu lassen. Das sei ihm furchtbar klar geworden. Er wolle mit dem Bewußtsein, einem Menschen den Kopf heruntergeschlagen zu haben, nicht weiterleben.

Sie war aufgestanden. Und hatte ihr Säckchen in die Hand genommen. „Was mach ich denn? Was mach ich denn?“ fragte sie vor sich hin.

Er beauftragte seinen Diener, die Mutter zur Bahn zu bringen.

Unter der Tür sagte sie: „Och, du lieber Gott. Was mach ich denn . . . krieg ich denn den Zug noch?“

„Sie wirds vielleicht weiterschleppen“, sagte er, als sie gegangen war, „noch ein paar Jahre“, und ging zum Giftschrank, nahm die Morphiumschachtel heraus.

Gedankenabwesend öffnete er den Brutofen, in dem er Thyphusbazillen züchtete, und schraubte, als er auf dem im Ofen hängenden Thermometer bemerkte, daß die Temperatur zu hoch war, noch die Gasflämmchen kleiner.

Er fand keinen zweiten Löffel, säuberte den, mit dem die Mutter Eier gegessen hatte, ließ Wasser in das Glas laufen. Automatisch kontrollierte er noch einmal die Temperatur im Brutofen, nahm eine Zuchtplatte heraus und betrachtete das gefärbte Bakterienbild, schraubte die Gasflämmchen wieder um eine Kleinigkeit höher.

Als er dann, mit der Schachtel in der Hand, vor sich hin sah, empfand er nicht das leiseste Körpergefühl, gab mit dem Löffel das Morphium ins Wasser, trank es aus und setzte sich in den Lehnstuhl.

Das Herz begann stark zu klopfen. Er legte beruhigend die Hand darauf, schloß langsam die Augen; die Atemnot ging schnell vorüber. Eine wunderbare Freude zog in ihn ein, verband ihn mit dem Dichter, der ihn in freudigem Staunen ansah.

Ihre Unterhaltung war, jenseits aller Logik, blitzend und neu. Sie allein standen leuchtend hell, von schwerem Dunkel umgeben. Ihre hellen Hände sprachen mit. Da sahen sie einander noch einmal herzlich an, mit einem jenseitigen Lächeln der ungeheuersten Liebe. Dann empfand der Einäugige sanften, wiegenden Frieden und schlief ein.

 

Zur selben Zeit, da der Wärter das Essen in die Zelle brachte, wurde der Einäugige tot in seinem Lehnstuhl gefunden.

„Er weiß vielleicht gar nichts davon,“ flüsterte der Dichter im Rücken des Wärters, „aber ich sehe es seinem Gesicht an, daß er denkt: zu was denn dem noch Essen geben.“

Auch an der Art, wie er das Geschirr auf den Tisch stellte und auf die Tür zuging, glaubte der Dichter zu bemerken, daß der Wärter es für überflüssig halte, ihm noch Essen zu geben.

Der Wärter war schon sehr alt und sprach selten ein Wort.

„Wann . . . ist es denn?“

„Was?“

„. . . Wann?“

„Morgen früh.“

„Morgen . . . früh?“

„Essen Sie, das ist Blumenkohlsuppe. Meine Frau hat sie gekocht.“

„Blumenkohlsuppe.“

„Essen Sie! Die ist gut.“ Der Wärter ging.

Der Dichter sah auf die Suppe hinunter, zum Fenster, auf die Suppe hinunter. „Die esse ich morgen früh“, sagte er und lachte schallend. Entsetzt schnellte er herum: „Was! War da jemand?“ Da zog er den Kopf ein, stand eine Weile so, ohne zu atmen, und brüllte mit der Luft, die endlich aus seinem Munde fuhr: „Ich werde nicht irrsinnig!“ stellte sich mit dem Gesicht gegen die Wand und sagte zu sich und zur Wand: „Ich werde nicht irrsinnig. Ich werde nicht irrsinnig.“ Seine Kinnbacken mahlten.

Mit all seiner Kraft, mit angespannten Muskeln zwang er sich, die Blumenkohlsuppe zu essen.

8

Es war drei Uhr früh. Für sechs Uhr war die Hinrichtung angesetzt.

Die Zelle war schmal wie ein Gang. Die Machtlosigkeit hatte den Dichter an die Mauer gestellt. Bauch, hochgestreckte Arme und die gespreizten Hände gegen die Mauer gepreßt, den Kopf tief im Nacken, sah er empor, riß die Arme herunter, schnellte herum, sank in Kniebeuge und begann zu schreien.

Den Körper allmählich aus der Kniebeuge in die Höhe drückend, schrie er immer lauter, ging zum Brüllen über, brüllte einen Ton, solang ein Atemzug reicht, wild, jammervoll, und brach jäh ab, gereckt auf den Fußspitzen stehend, die Finger fast bei der Decke.

Der Priester trat ein.

Der Dichter stürzte auf ihn zu, in die Kniee. Die gefalteten Hände vor der Brust verkrampft, sagte er: „Helfen.“

Der Priester sagte: „Der liebe Gott. Er hilft“, und kniete auch nieder.

Schweigend und unbeweglich knieten sie einander gegenüber, daß ihre gefalteten Hände sich berührten.

„Was denn?“ fragte der Dichter irr.

„Der liebe Gott.“

„Gott? . . . weg!“ brüllte er. „Keine Zeit! Keine Zeit! . . . Helfen! . . . Hn?“ Und sprang auf. Regungslos sah er zur Wand, ohne etwas zu sehen, hatte die Empfindung, als überzogen sich seine Augen mit einem milchigen Häutchen. Und blickte nach innen. Sah eine hügelige Flußlandschaft: es ist Sommer, früheste Morgendämmerung. Dämpfe steigen vom Wasser auf, von den Wiesen. Ein Floß gleitet langsam flußabwärts. Der Flößer, nur in Hose und Hemd, mit breiter, vorgewölbter Brust, läßt den Fahrbaum ins Wasser gleiten und geht, Brust gegen ihn gestemmt, ein paar Schritte mit. Bis er hochgehoben wird und, mit der Brust auf der Fahrbaumkrücke liegend, frei in der Luft schwebt. Dabei singt er laut in den erwachenden Morgen hinein.

Der Dichter blickte auf das Bild aus seiner Jugend. Plötzlich sang er schallend das Flößerlied:

„Der Fluß ist meine Eisenbahn,

Die Stämme das Kupee.

Ich lege bei den Wiesen an,

Wo ich ein Mädchen seh.

Schwarz muß sie sein!

Braun kann sie sein!

Und wenn eine Blonde am Ufer steht

Und wenn sie auch nicht mit dem Sacktuch weht

— — — Ich falle ein.“

„Heilige Maria, Mutter Gottes, du bist die Gebenedeite unter den Weibern“, betete der erschrockene Priester lauter und flehend.

„He?“ lachte der Dichter wild. „Denn verflucht ist die Frucht aller Weiber!“

Da lag er vor dem Priester auf dem Bauche wie ein Knabe, der Verstecken spielt, und fragte kindlich, ob der Priester die Kleider mit ihm wechseln wolle.

Unvermittelt wurden seine Sinne wieder klar. Und als er aufgestanden war, glänzten seine Augen mild, wie wenn ein Lichtschein auf Öl fällt. „Jetzt ist es drei Uhr,“ sagte er unendlich traurig, „vier Uhr vielleicht? Vier Uhr? . . . Ich sehe alles. Ich kann Häuser denken, einen grüßenden Mann, einen Käfer, ein Kind, das Butterbrot ißt . . . Und um sechs Uhr? Was ist dann? Sag, was ist dann? Ruhe? . . . Ruhe ist! etwas. Wird gar nichts sein? Gar nichts? . . . Ich werde um sechs Uhr ermordet! Da bin ich doch schon tot. Jetzt schon tot! Lebe . . . und bin schon tot. Unverhoffter Mord ist wunderbarste, himmlische Güte . . . Ich werde um sechs Uhr ermordet!“

Er sah durchs Fenster zum schon leise dämmernden Himmel und sagte: „Die Jesus Christus ermordet haben, waren gütig. Gütig verhöhnten sie ihn: wenn du Gottes Sohn bist, so steige herab vom Kreuz, und wir wollen dir glauben . . . Eine Hoffnung höhnten sie ihm hinauf zum Kreuz. Er hat hoffen dürfen bis zum letzten Augenblick. Ich sehne mich nach seinen Qualen . . . Ich werde um sechs Uhr ermordet!“

Plötzliche Wut riß ihn herum. Zum betenden Priester, der entsetzt zurückwich: „Gehen Sie!“ sagte er verhalten drohend.

Der Priester streichelte dem Dichter vorsichtig, milde den Arm.

„Gehen Sie!“ brüllte er einige Mal schnell hintereinander, die Fäuste an die Schläfen gepreßt. „Keine Zeit! Zeit!“

Der Priester erhob sich unschlüssig, suchte nach einem Gruße, fand keinen. Und ging ohne Gruß. Vor der Tür sagte er verwirrt: „Guten Morgen.“

Der Dichter stand einen Augenblick in fassungslosem Staunen, das jäh ein Grauenschauer verdrängte, als die Tür ins Schloß gefallen war. Ratlos sah er an der Wand aufwärts zur Decke, an der Längswand entlang zum Fenster, ohne den Körper mitzudrehen, bis er das Gleichgewicht verlor und fast gestürzt wäre. Dann setzte er sich, legte die Arme verschränkt auf den Tisch und ließ langsam den Kopf darauf nieder.

Es war noch kein Ton zu hören im ganzen Gebäude. Keine Uhr schlug. Der Nachthimmel war schon grauer geworden.

Die Todesfurcht hielt des Sitzenden Rücken krumm gebogen. Die Luft hinter ihm, der Gefängnishof, die ganze Erde hob das Beil und hielt es erhoben.

Die Augen stier offen, legte er ganz langsam den Kopf mit der Wange auf die Tischplatte, um die Stellung zu probieren. Der Gedanke, die Wange müsse furchtbar geprellt werden, ließ ihn den Kopf schnell auf die andere Seite legen und so den Hieb erwarten. Der Hieb kam nicht. Da brach erleichternder Schweiß aus, weil der Hieb nicht kam. Und der Dichter war überzeugt, daß der Hieb überhaupt niemals kommen werde, daß einem Menschen der Kopf nicht abgeschlagen werden würde.

„Den ganzen Kopf abhacken? Da es doch . . . Goethe gibt und Straßenbahnen. Das kann nicht sein. Kein Mensch gibt sich dazu her, mit dem Beil einen Menschenkopf herunterzuschlagen. Da würde ja niemand dabei zusehen wollen. Was würden die Mütter und Frauen von den Menschen sagen, die dabei zusehen. Was würden die zuschauenden Zeugen für Väter sein zu ihren Kindern . . . Es wird ganz anders vor sich gehen. Auf einmal werde ich tot sein.“

Als er aufstand und sich das in den Kopf gestiegene Blut verteilte, packte ihn wieder die Gewißheit.

Es war ganz still. Der Dichter wußte nicht, ob es noch eine Stunde, zwei Stunden, einige Minuten bis dahin waren. „Was denn?“ fragte er. Es blieb still. Da sah er zum Fenster. Der Ausschnitt des Fensters, von den Gitterstäben durchkreuzt, war rosenrot. Unbeweglich blickte er auf das unbewegliche Rosenrot.

Ganz von fern, noch kaum hörbar, erklang ein Räderknirschen, wurde deutlicher, zum eintönigen Klappern eines Wagens auf dem Pflaster; er konnte den Hufschlag der schweren Pferde unterscheiden. Fast unter seinem Fenster hielt der Wagen, in dem die Hinrichtungsgegenstände waren. Er hörte die Pferde einige Mal stampfen. Dann war es still. Eine Männerstimme sagte etwas. Er hörte ein Brummen als Antwort, das Abladen, und flüsterte: „Die unschuldigen Pferde — die unschuldigen Menschen.“ Mit einem furchtbaren, wortlosen Schrei schnellte er herum:

Der Wärter trat ein. Und brachte dem Dichter etwas Stärkendes zu trinken. Eine Auswahl auf einem Tablett: Tee, Schokolade und eine halbe Flasche Wein. Unterm Arm trug er ein frisches, noch warmes Weißbrot. „Trinken Sie lieber Rotwein? . . . Das brauchen Sie nur zu sagen.“

„So?“ sagte der Dichter und bewegte sich, rückwärts gehend, bis zur Fensterwand, preßte sich dagegen an wie ein Kind, das nicht essen will. „Ich soll das trinken?“ sagte er, ohne die Hände von der Wand zu lösen. Jetzt nahm er eine weg und deutete: „Da hinein? Zum Mund? . . . Und später? Was wird damit?“

Der Wärter goß das Glas voll Wein, hielt es gegen das Licht und stellte es auf das Tablett.

Plötzlich wurde dem Dichter die Schädeldecke kalt. Er griff sich an den Hals. Mit beiden Händen befühlte er das Fleisch. „Den Hals durchschneiden? Den ganzen Hals? . . . Diese dicke Stange Fleisch durchhacken?“

Der Wärter legte das Brot gerade. „Es ist noch warm“, sagte er.

„Den Kopf . . . wegschneiden? Den ganzen Kopf! . . . Mit den Augen . . . Die ganzen, lieben Augen? Das . . . kann . . . nicht . . . sein. Nein nein nein nein nein!“ Da lag er auf den Knieen und umklammerte die des Schließers.

Der machte sich los und sagte, das sei bald vorüber. Er solle sich halt zusammennehmen, da helfe alles nichts.

Schnell schob er das Tablett in die Tischmitte, weil der schwankend aufstehende Dichter es sonst mit seiner Achsel heruntergeworfen hätte.

„So? Hilft nichts?“ Etwas zog seinen Blick zum Fenster. Die Sonne griff um die Eisenstäbe herum, legte sich aufs Fenstersims und platzte auf das Nickeltablett; ein dünner Strahl blitzte an der Wand herunter, schräg über den Zellenboden und verfing sich in der Ecke.

„Wie . . . viel . . . Uhr . . . ist es denn . . . jetzt?“

„Dreiviertel sechs . . . Trinken Sie vielleicht doch lieber Rotwein?“

„Sechs!“ Da verwirrte sich in seinem plötzlich heiß werdenden Gehirn der Begriff von Uhr und Ur, von Ursache und Zeit. Er sagte in entsetztem Staunen: „Ursache ist . . . Uhrsache.“ Langegezogen, immer wilder anschwellend, brüllte er: „I . . . . . . . . . i!“

Seine Wangen wurden sichtbar schmal, denn seine Augen öffneten sich weit. Er sagte nachdenklich: „Zeit . . . Uhr . . . Ursache“, dachte angestrengt nach, und sein Gesicht begann zu strahlen, als habe er nach vielen Jahren endlich eine Lösung gefunden. Verklärt sah er den Schließer an: „Das ist ja wunderbar. So wunderlich einfach — Zeit und Uhr gibt Ursache“, rief er. „Ah! . . . Zeitursache!“

Er trat zur Wand, streichelte schmeichelnd den Sonnenstreifen, bewegte den Zeigefinger hin und her und sagte: „Zeitursache . . . Schwarzwälderuhr . . . Perpendikel dikel dikel tom.“

„Glauben Sie, daß gegürtete Schmerzen fett sind?“ Er hob das kleine, weiße Kissen vom Boden auf und hielt es dem Schließer hin: „Legen Sie dann dem seinen Kopf da drauf und schicken Sie ihn meiner Mutter als Paket. Die Pritschen sollen ja so hart sein . . . Zeitursache.“

Der Schließer sah auf die Uhr und ging zur Tür, blieb stehen, und ein schon einmal entsendeter Blick schien wieder in seine Augen zurückzufahren, als er den Dichter ansah. „In dreißig Jahren mein Siebzehnter . . . Irrsinnig wurden sie doch alle in der letzten Nacht . . . bevor sie hingerichtet wurden.“ Er ging noch einmal zur Pritsche zurück, klappte sie in die Höhe. „Der eine frißt eine ganze Gans auf aus Irrsinn, der andere beichtet — aus Irrsinn, der dritte tobt, einer ist still wie ein Kind — auch nur aus Irrsinn. Und der hier findet sich ein Wort und glaubt, das hilft ihm . . . Vielleicht hilfts ihm.“ Er verließ die Zelle.

„Gegürtete Schmerzen sind fett. Aber was ist das: eine nackte Negerin reitet auf einem schneeweißen Pferd, und neben ihr reitet ein nacktes weißes Mädchen auf einem schwarzen Pferd. — Das kann man sich gar nicht gleichzeitig vorstellen.“

„Geht nicht? Negerin auf Schimmel“, deutete er und kniff die Augen zusammen, „nacktes weißes Mädchen auf Rappen. Ja, natürlich, das ist Zeit . . . ursache.“ Erleichtert atmete er auf.

Da sahen seine Augen die allen bösen Ursachen entstiegene einfache Stadt. Wunderbar breite Straßen, rosa Marmorhäuser, von ziselierten Säulen flankiert, mit flachen Dächern. Weite Plätze von ungeheurer Flachheit und herrlicher Säulenarchitektur. Viele Statuen nackter Mädchen stehen auf hohen Postamenten. Eine Schar vierzehnjähriger Mädchen mit nackten, sonnenbraunen Oberkörpern, Knieröckchen und Sandalen radeln die glatte Straße hinunter, mit lachenden Backen, und verschwinden. Die Straße ist leer. Leises silbernes Singen ertönt.

Er lächelte selig. „I streun jetz e bißle am Wasser rum.“

Der Schließer trat wieder ein. Mit ihm ein zweiter Schließer, der Priester, der Staatsanwalt, noch eine Anzahl Menschen, so daß die schmale Zelle plötzlich voller schwarzgekleideter Männer war. An der Tür stand der junge Offizialverteidiger mit frischem Gesicht, den glänzenden Zylinder in der Hand.

Der Dichter stand auf, machte den Eingetretenen eine höfliche Verbeugung, lächelte, ging auf sie zu und streckte ihnen beide Hände herzlich zum Empfang hin.

Die Schließer drehten sie nach hinten und legten Handschellen daran.

Der Dichter ließ es lächelnd geschehen, sprach unterdessen seitwärts zum Staatsanwalt gewandt: „Bitte, entschuldigen Sie nur, das damals . . .“

Der Staatsanwalt verbeugte sich und sagte errötend: „Bitte?“

„Nein nein! Entschuldigen Sie . . . Sie sind natürlich vollkommen unschuldig. Das Ganze ist ja nichts weiter als Zeitursache.“

Er wies mit schiefgeneigtem Kopf fragend zur Tür und ging voran.

Durch die Gänge, die von roten Gasflammen schwach erleuchtet waren. Niemand sprach ein Wort. Nur das vielfüßige Getrampel war hörbar.

Der Dichter mußte die Augen schließen; niemand sah, daß er über die Frühlingssonne heiter lächelte, die den ganzen Gefängnishof erhellte.

Der kahle Psychologieprofessor strich sich über den Kopf, als er aus der Tür in den Hof trat, und setzte seinen Zylinder auf; denn es war trotz des Sonnenscheins morgenkühl. Er war der einzige von den Geschworenen, der sich als Zeuge für die Hinrichtung gemeldet hatte.

Während der Urteilsverlesung blickte der Dichter interessiert das Beil auf dem in der Sonne stehenden Block an, der einen blauen Schlagschatten warf. Wo das fünfzig Pfund schwere Beil am Ende des langen, weiß gescheuerten Buchenstiels begann, war es schmal, dann lud es in edlem Schwunge halbmeterbreit aus.

Der Priester kniete in der Nähe des Blockes und betete leise, tief zur Erde gebeugt.

Der Scharfrichter, im Frack und weiß behandschuht, nahm das Beil vom Block, hing es in sein Ellbogengelenk und stellte sich wieder gegenüber den reglos und schwarz im Halbkreis stehenden zwölf Zeugen auf.

Da sah der Dichter, daß der Block eine Höhlung hatte für das Gesicht, damit nur der Hals des Hinzurichtenden aufliege, und sagte nachdenklich: „Die Nase muß ihm trotzdem zerquetscht werden.“

Über seine Stirne wetterleuchteten ferne Gedanken.

Mit einem Ruck wandte sich der Psychologieprofessor gerade noch zeitig genug um und verließ eilig die Richtstätte.

Für ihn stellte sich ein Gefangener als Ersatzzeuge ein — dumpfes Gepolter ertönte aus einer Zelle des zweiten Stockes, wo ein wegen Doppelmordes angeklagter Sträfling mit einem Riesensatz versuchte, das Fenstergitter zu haschen, und immer wieder zurückfiel. Bis es ihm endlich gelang. Sein bärtiges Gesicht zitterte vor Anstrengung, da er sich ständig in ausgeführtem Klimmzug halten mußte, um die Hinrichtung mit ansehen zu können.

Frauen können verlangen, daß sie auf dem Rücken liegend hingerichtet werden . . . und Männer auf dem Bauch, dachte der Dichter.

Alle hatten die Zylinder abgenommen.

„Jetzt?“ fragte der Dichter neugierig, als die Gehilfen auf ihn zurraten.

Tiefes Nachdenken verschönte seine Augen. „Ich möchte wissen, ob die Herren auch heute mittag den Suppenteller gewohnheitsmäßig mit der zusammengerollten Serviette auswischen werden.“

Die Gehilfen packten den Dichter an den Schultern. Er sah sie erstaunt lächelnd an, weil sie ihm weh taten. Dann preßten sie sein Gesicht in die Höhlung.

Er roch etwas Süßsäuerliches, bekam keine Luft mehr. Plötzlich wurde er noch einmal klar, wußte, was mit ihm geschehen sollte. Da sammelte sich alle Kraft seines Lebens in den Schultern. Die Helfer wurden hin und her geschleudert. Sein Gebrüll zischte aus der Höhlung heraus. Ein Helfer glitschte aufs Knie; seine Lippen verschwanden vor Kraftanstrengung.

Alle Zeugen sahen zu, rührten sich nicht.

Der Scharfrichter nahm das hocherhobene Beil wieder zur Brust. Es war dem Dichter gelungen, das Gesicht aus der Höhlung herauszubringen — sein wortloser Brüllton prallte gegen die Gefängnismauern. Die Helfer knallten sein Gesicht wieder in die Höhlung zurück, daß der Nacken krachte. Das Gehirn des Dichters begann im Kopfe zu kreisen, schnellte einen letzten Gedanken ab. Er wollte noch überlegen, ob der Mensch vielleicht nur aus Gewohnheit böse sei. „Ist alles nur Gewohnheit?“

Da stürzte das Blut schon vom Halsstumpf weg, in großem Bogen sich selbst nach, entsetzt, als wolle es sich wieder in den Körper zurückholen. Das Sägemehl wurde rot.

Der Kopf fiel in den Kasten, kollerte und blieb liegen, machte noch eine Viertelsdrehung und lag still, im Profil.

Erschrocken hoben die Zeugen die Gesichter, horchten auf den gurgelnden Ton, den das Stimmband des Dichters noch abgab. Der Ton klang wie ein Wort.

Da zuckten alle Köpfe nach der Seite herum und in die Höhe, wo das Gesicht des immer noch im Klimmzug hängenden Doppelmörders zitterte. Der rief noch einmal: „Bravo!“ Dann verschwand das Gesicht.

Die Zeugen blickten den Rumpf des Dichters an, der am Block kniete. Der Halsstumpf spie in der Mitte Blut aus, stoßweise, wie ein verkümmerndes Springbrünnchen, trieb große rosa Blasen.

Der Kopf lag einen Meter weit entfernt schmal und blaß in der Mitte des Kastens. Die Augen glänzten noch blau.

Der Helfer griff mit beiden Händen nach dem Kopf, zog eine langsam wieder zurück, faßte so spitz wie möglich nur das Ohr und hob den schweren Kopf daran hoch, legte ihn an die Stirnwand des Kastens. Der andere Helfer schleppte den Rumpf herbei. Zusammen paßten sie Schnittfläche an Schnittfläche, daß ein blutiger Schaumkranz hervorquoll und der Dichter wieder ganz war.

Der Staatsanwalt setzte zuerst den Zylinder auf. Dann zogen alle schweigend die Zylinder voreinander, verbeugten sich tief.

Sie verließen einzeln die Richtstätte.

Gedruckt
in der Roßberg’schen Buchdruckerei
in Leipzig

Leonhard Frank

Die Räuberbande
Roman
25. Tausend. In Leinen M. 6.—

„Mit Recht hat dies Buch den Ruhm des Verfassers begründet. Die Sachlichkeit der Darstellung steht in feinem Gegensatz zur Romantik des Geschilderten; die viel verzweigten Empfindungen der heranwachsenden Seelen, die Ärmlichkeit der Umgebung und die Bewegtheit des Stadtbildes sind in wunderbaren Zusammenklang gebracht. Am plastischsten wirkt die Gestalt des Oldshatterhand, fast wie ein Brückenheiliger weist sie bedeutungsvoll in höhere Sphären hinüber.“

Der Deutsche Buch-Club

Das Ochsenfurter Männerquartett
Roman
20. Tausend. In Leinen M. 6.—

„Von allen meinen Büchern wurde am ungerechtesten behandelt ‚Das Ochsenfurter Männerquartett‘. Es ist mein schönstes Buch. Es ist das am wenigsten gekaufte meiner Bücher. Die Schuld liegt wahrscheinlich an mir selber: die Buchhändler erklären, der Titel sei schlecht und schrecke die Frauen ab. Sie wissen nicht, daß Kenner von diesem heiteren Buch sagen, es enthalte die schönste Liebesgeschichte der modernen Literatur.“

Leonhard Frank

Die Ursache
Drama in vier Akten
Geheftet M. 2.50, gebunden M. 3.—

Karl und Anna
Schauspiel in vier Akten
Geheftet M. 2.50, gebunden M. 3.50

Im Insel-Verlag zu Leipzig






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or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    gbnewby@pglaf.org

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
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Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
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