The Project Gutenberg EBook of Die gerichtliche Arzneikunde in ihrem Verhältnisse zur Rechtspflege, mit b, by Franz von Ney This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have to check the laws of the country where you are located before using this ebook. Title: Die gerichtliche Arzneikunde in ihrem Verhältnisse zur Rechtspflege, mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Gesetzgebung, Erster Band Zum Gebrauche für Ärzte, Wundärzte und Rechtskundige dargestellt und mit entscheidenden Thatsachen begründet Author: Franz von Ney Release Date: January 16, 2018 [EBook #56382] Language: German Character set encoding: UTF-8 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GERICHTLICHE ARZNEIKUNDE *** Produced by Franz L Kuhlmann, Sandra Eder and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive) +--------------------------------------------------------------------+ | Anmerkungen zur Transkription | | | | Offensichtliche typografische und Fehler bei der Zeichensetzung | | sind stillschweigend bereinigt. | | Etliche Worte sind jedoch unterschiedlich geschrieben, z. B. | | "hiervon" oder "hievon", "Irrsinnes" oder "Irrsinns", "ebenso" oder| | "eben so", des "Irrthumes" / des "Irrthums", "hierzu" / "hiezu". | | Dies wurde wie im Original belassen. | | | | Die Markierung mit Gleichheitszeichen (=) zeigt eine "gesperrte" | | Phrase an, das Einfassen mit Unterstrichen (_) kursiven Druck | | im Original. | | Die Zeichenfolge ^{ } steht für hochgestellt (Superskript). | +--------------------------------------------------------------------+ Die gerichtliche Arzneikunde in ihrem Verhältnisse zur Rechtspflege, mit besonderer Berücksichtigung der österreichischen Gesetzgebung. Zum Gebrauche für Aerzte, Wundärzte und Rechtskundige dargestellt und mit entscheidenden Thatsachen begründet. Von Franz von Ney, k. k. Pfleger zu Gastein, Erster Band. WIEN. Kaulfuss W^{we}, Prandel & Comp. 1847. Multum magnorum virorum judicium credo, aliquid autem et meum existimo. _Seneca._ _Seiner Excellenz_ dem hochgebornen Herrn LUDWIG GRAFEN VON TAAFFE, obersten Justiz-Präsidenten, Herrn der Herrschaft Ellischau und der Güter Kolinetz, Auczin und Wlczkovitz in Böhmen, Grosskreuz des österr. kais. Leopoldordens, Ehren-Bailli und Grosskreuz des Johanniterordens, k. k. wirklichem geheimen Rathe und Kämmerer, Präsidenten der Hofkommission in Justiz-Gesetzsachen, Präsidenten des obersten Gefällsgerichtes, Kurator der theresianischen Ritterakademie, D. d. R., Mitgliede der juridischen Fakultät und emeritirtem _Rector Magnificus_ an der Wiener Universität, Landstand in Niederösterreich, Steiermark, Kärnten, Böhmen, Mähren und Galizien, Mitgliede der Landwirthschafts-Gesellschaften in Wien, Grätz und Laibach, des Schafzüchtervereines in Böhmen, des Museums Francisco-Carolinum für Oesterreich ob der Enns und Salzburg und des geognostisch-montanistischen Vereines von Tirol und Vorarlberg; Ehrenmitgliede der Akademie der bildenden Künste in Wien, der gelehrten Gesellschaft _degli Arcadi_, der _Accademia Tiberina_ und des Cäcilienvereines zu Rom, in tiefster Ehrfurcht gewidmet von dem Verfasser. Euer Excellenz! Die gerichtliche Medizin wurde in den hierüber bisher erschienenen Werken vorzugsweise als ein die Arzneiwissenschaft berührender Gegenstand behandelt, daher das Unternehmen des Verfassers, diesen Gegenstand auch und vorzugsweise von dem juridischen Standpunkte zu besprechen, immerhin als ein gewagtes erscheinen dürfte, welches seine Entschuldigung nur in der anerkannten Nothwendigkeit, diesen wichtigen Gegenstand auch von dieser Seite zu beleuchten, und in dem Umstande findet, dass der Verfasser nicht ohne sich des Beifalles mancher erfahrener Gerichtsärzte zu erfreuen, dabei zu Werke gegangen ist. Indem daher _Euer Excellenz_ dem Verfasser die Gnade zu gewähren geruhten, dieses Werk Ihnen ehrerbietigst widmen zu dürfen, liegt hierin nur ein neuer Beweis von jener huldvollen Nachsicht, mit welcher _Euer Excellenz_ ein redliches Streben, etwas für die Justizpflege Erspriessliches zu leisten, zu würdigen und aufzumuntern gewohnt sind. Geruhen demnach _Euer Excellenz_ diesem Buche, indem Sie demselben erlaubten, mit Ihrem hochverehrten Namen geziert in die Welt zu treten, Ihr Wohlwollen und Ihren Schutz angedeihen zu lassen. Wien, im März 1846. _Euer Excellenz_ gehorsamster Autor. Vorrede. Wenn es irgendwo nothwendig ist, nach einem bestimmten Plane vorzugehen, um zu dem erwünschten Ziele zu gelangen, so ist dies bei gerichtlich-medizinischen Erhebungen der Fall, bei welchen es sich darum handelt, die Grundsätze zweier Wissenschaften, nämlich jene der Medizin und jene des Rechtes, welche weder in ihrem Prinzipe noch in ihrer Anwendung Berührungspunkte darbieten, zu =einem= Zwecke zu vereinigen. Eine nothwendige Bedingung dazu ist, dass diejenigen Personen, welche bei einem solchen Akte die eine und die andere dieser Wissenschaften zu vertreten berufen sind, nicht nur ihr eigenes Fach vollkommen inne haben, sondern auch in derjenigen Wissenschaft, welche der andere Theil vertritt, wenigstens so weit sich diese Wissenschaft auf den Gegenstand bezieht, welcher untersucht werden soll, nicht unbewandert seien, denn ohne dieser Bedingung ist nicht einmal ein =Verständniss=, viel weniger aber eine plan- und sachgemässe Ausführung möglich. Diese erste unabweisliche Bedingung, ein Verständniss zwischen Arzt und Richter herbeizuführen, ist die Aufgabe meines bei _Mörschner_ und _Bianchi_ im Jahre 1845 erschienenen Werkes: „Systematisches Handbuch der gerichtsarzneilichen Wissenschaften, mit besonderer Berücksichtigung der Erhebung des Thatbestandes im Straf- und Civilverfahren für Aerzte und Wundärzte, dann Justiz- und politische Beamte und Advokaten in den k. k. Staaten,” welches den Hauptzweck verfolgte, durch eine in leichte Uebersicht gebrachte Sammlung und Erläuterung der in gerichtsarzneilicher Beziehung in den österreichischen Staaten bestehenden Gesetze und Verordnungen, dem Arzte gewissermassen ein _materia juridica_ für seine Aufgabe als Gerichtsarzt, dem Richter aber die nöthigsten und unentbehrlichsten Winke zu geben, deren Ausserachtlassung Fehlgriffe oder Lücken in der Untersuchung zur unausbleiblichen Folge haben müsste. Durch diese mir gestellte Aufgabe war jedoch zugleich die Grenze ausgesprochen, welche dieses Werk nicht überschreiten durfte, es musste nämlich ein =Handbuch=, d. h. ein so beschaffenes Buch sein, dass man es allenfalls als _vade mecum_ zu gerichtlichen Kommissionen mitnehmen konnte, und musste daher in den Grenzen eines einzelnen Bandes bleiben, denn ein Handbuch in mehreren Bänden ist ungefähr dasselbe, was ein Taschenbuch in Quart oder Folio; auch durfte es den Zweck, eine leichte Uebersicht zu gewähren, nicht verfehlen, welches durch einen grösseren Umfang zuverlässig geschehen wäre. Aus diesem Grunde konnte ich mich bei gewissen Materien, welche, wie z. B. die Erhebung von Gemüthszuständen, so wie jene gewisser Gattungen von Verbrechen, eine umständliche Besprechung fordern, nur auf einige Blätter beschränken, und musste es mir zur besonderen Aufgabe machen, nicht mehr zu thun, als die einschlägigen Verordnungen vollständig zu liefern, und nicht mehr zu sagen, als eben nothwendig war, um den Zusammenhang der Theile von den angeführten einzelnen Gesetzesstellen und die nächsten Beziehungen, in welchen sich dieselben zu ihrer praktischen Anwendung befinden, ersichtlich zu machen. -- Es war eine =Vorarbeit= zu einer Lehre über die gerichtliche Medizin, jedoch eine solche, ohne welche es geradezu unmöglich ist, über diesen Gegenstand etwas Gründliches zu sagen. Obwohl ich mir nun mit der Hoffnung schmeichle, die Aufgabe, welche dieses Werk hatte, wenigstens nicht verfehlt zu haben, so bin ich jedoch vollkommen überzeugt, dass damit nur =ein Theil= Desjenigen, welches für jenen Zweig der Rechtspflege, der die gerichtliche Arzneikunde zum Vorwurfe hat, erreicht, hingegen aber noch das Wesentlichste zu thun, nämlich die Aufgabe zu lösen sei, in einer fasslichen Darstellung die Anweisung zu geben, von welchem Standpunkte sowohl der Arzt als der Richter auszugehen, und welches Verfahren sie zu beobachten haben, um in den =einzelnen Fällen= der gerichtsarzneilichen Erhebungen nach einem =gemeinschaftlichen Plane= zu verfahren, in welchem sich die Grundsätze beider Wissenschaften zu dem einen Zwecke mit entsprechendem Erfolge vereinigen. Diesen Zweck soll nun das gegenwärtige Werk erfüllen. Was mich, ungeachtet der Schwierigkeiten, welche eine solche Unternehmung darbietet, dennoch bestimmte, mich derselben zu unterziehen, ist die Ueberzeugung, dass den zu derlei Erhebungen berufenen Personen diejenige klare Ansicht ihrer Aufgabe und der zu ihrer Lösung geeigneten Mittel zu erhalten nur dann möglich ist, wenn sie ihre Aufgabe vom Standpunkte der Gesetzgebung =desjenigen Staates=, in welchem sie zu wirken berufen sind, auffassen, und dass in allen mir bekannten medizinischen gerichtlichen Werken gerade dieser Standpunkt gewöhnlich als der =untergeordnete= betrachtet wird, während er doch entschieden um so mehr die =Hauptsache= ist, als alle gerichtlich-medizinischen Erhebungen für die =Rechtspflege= bestimmt sind, und der Richter in seiner Entscheidung doch immer nur von dem Standpunkte der =positiven= Gesetzgebung auszugehen, und ihm daher nur ein solches Einschreiten und nur eine solche Darstellung von Seite der ärztlichen Personen zu genügen vermag, welche den Erfordernissen der =bestehenden= Gesetzgebung entspricht. =Ausländische= Werke, so viel Wahres und Verdienstliches darinnen enthalten ist, können doch an und für sich niemals diesem Zwecke, in Bezug auf das =Inland=, vollkommen entsprechen, weil sie entweder nur von einem =allgemeinen= Gesichtspunkte ausgehen, der für die praktische Anwendung in vielen Fällen nicht genügt, oder sich auf die Gesetzgebung =ihres= Staates gründen, welche in einem fremden Staate keine Anwendung leidet; jedoch auch für den Arzt, welcher im Inlande schreibt, bleibt es immerhin eine schwierige Aufgabe, so tief in den Sinn der Gesetze einzudringen, und zugleich die nöthige praktische Anschauung in Bezug auf Anwendung damit zu verbinden, um den nöthigen Anforderungen in den mannigfaltigen, durch das Eigenthümliche der positiven Gesetzgebung eines Staates herbeigeführten Beziehungen zu entsprechen. Es ist also unumgänglich nothwendig, dass auch von Seite der Rechtskundigen hierin etwas geleistet werde. Ob der Verfasser dieses Werkes dieser Aufgabe gewachsen war, möge der verehrte Leser entscheiden, ich vermag nur so viel zu meinen Gunsten anzuführen, dass ich dabei nur den Weg der selbstständigen Forschung wählend, keiner Autorität folgte, keinem Systeme huldigte, sondern mich in meiner Darstellung nur durch diejenige Ansicht leiten liess, welche mir nach der Natur des zu behandelnden Gegenstandes die richtige zu sein schien. Die Thatsachen, welche ich anführte, um die Richtigkeit der vorgestellten Grundsätze zu beweisen, sind darum gewählt, weil ihre Wahrheit aktenmässig erwiesen ist; ich scheute mich nicht die schwierigsten Materien zu besprechen, wo sich mir die Möglichkeit, etwas Gründliches darüber zu sagen, darbot, und eben so wenig anerkannten Autoritäten entgegenzutreten, wenn ich die Ueberzeugung hatte, dass ihre Aussprüche mit den Anforderungen der Gesetzgebung im Widerspruche sind, und glaube daher mich der Hoffnung hingeben zu dürfen, dass, wenn mein Buch, wie es gegenwärtig beschaffen ist, auch vielen gerechten Anforderungen nicht entspricht, es doch im Stande ist, dem Leser Stoff und Veranlassung zu eigenem selbstständigen Nachdenken zu geben, und es dadurch einem grösseren Talente als dem meinigen zur Aufforderung gereichen könne, denselben Pfad mit besserem Erfolge zu betreten, eine Wirkung, welche zu erzielen zuverlässig nicht ohne einiges Verdienst ist. Zitationen von klassischen Autoren glaubte ich vermeiden zu müssen, da nach meiner Ansicht es die Pflicht des Schriftstellers ist, durch seine Darstellung den Leser von der Wahrheit seiner Behauptungen zu überzeugen, eine dem Leser als irrig scheinende Behauptung in den Augen eines denkenden Menschen aber zuverlässig dadurch nicht zur Wahrheit wird, wenn er erfährt, dass auch Andere, als der Schriftsteller, mit welchem er sich eben beschäftigte, in demselben Irrthume befangen waren; und es ihm auch in diesem Falle noch immer unbenommen bleibt, von der in vielen Fällen zuverlässig nicht ungegründeten Voraussetzung auszugehen, dass der Schriftsteller seinen Gewährsmann nicht richtig verstanden habe, oder, wie es schon geschehen ist, unrichtig zitire. Ueber Dinge, welche man aber selbst so darzustellen vermag, dass man mit Grund hoffen kann, den Leser überzeugt zu haben, noch fremde Autoren zu zitiren, ist nach meiner Ansicht nichts weiter, als ein Bestreben, mit seiner Belesenheit zu glänzen, welches Bestreben mir um so mehr überflüssig erscheint, als es für den Leser sehr gleichgiltig ist, zu erfahren, auf welche Art ein Schriftsteller seine Zeit verbringt, oder welche Studien er gemacht hat, um zu gewissen Resultaten zu gelangen, auch wohl Niemand bezweifelt, dass ein Autor, welcher über einen Gegenstand schreibt, auch etwas darüber gelesen habe. Ein Schriftsteller hat nach meiner Ansicht die Pflicht, dem Leser die Frucht, nicht aber die Zweige des Baumes seiner Erkenntniss darzureichen. Der Verfasser. Inhalt. Seite Vorrede VII Die Verfassung gerichtlich-medizinischer Gutachten vom 1 Standpunkte der Rechtskunde betrachtet. Einleitung I. Ueber den Zweck und die Verfassung vom Befunde und - Gutachten im Allgemeinen Unterschied der Rechtswirkung des Gutachtens im - Civil- und im Strafrechte. §. 1 Der Grund der Beweiskraft eines Gutachtens im 3 Strafverfahren ist die Ueberzeugung des Richters von dessen objektiver Wahrheit. §. 2 Der Richter hat die Pflicht, sich wo es möglich ist - die eigene Anschauung von dem _Corpus delicti_ zu verschaffen. §. 3 Ausnahme hiervon. Der Richter ist niemals 5 verpflichtet, dem Gutachten gemäss zu erkennen, so lange er Gründe hat, dessen Richtigkeit in Strafrechtsfällen zu bezweifeln. §. 4 Im Falle eines Zweifels des Richters an der 6 Richtigkeit des Gutachtens in Strafrechtsfällen ist die Behebung des Zweifels zu verlangen. §. 5 Die Erhebung des Gutachtens im Strafverfahren ist 7 ein zwischen Richter und Kunstverständigen gemeinschaftlicher Akt. §. 6 Bei Ausnahmsfällen, in welchen der Richter auf das 8 Gutachten keinen Einfluss nehmen kann, ist die Ursache dieser Ausschliessung durch klare Darstellung im Befunde zu begründen. §. 7 Das Gutachten ist für den Richter bestimmt. 9 Erfordernisse, welchen es daher entsprechen muss. Fehler dagegen. §. 8 Beispiel eines objektiv richtigen, für die 11 Strafrechtspflege aber unbrauchbaren Gutachtens. §. 9 Richter und Kunstverständige sind vermöge ihrer 12 Stellung zu einander berufen, sich gegenseitig zu kontrolliren. §. 10 Die Aufgabe der Kunstverständigen ist immer ein 13 selbstständiges Beobachten des zu untersuchenden Gegenstandes. §. 11 Gerichtliche Fragen. Deren Zweck. Durch dieselben - wird die Pflicht der Kunstverständigen zur selbstständigen Beobachtung nicht aufgehoben. §. 12. Der Grad, wie weit der gegenseitige Einfluss des 14 Richters und der Kunstverständigen zu gehen habe, wird durch die Natur des speziellen Falles, nicht durch die Wissenschaft oder Kunst bestimmt, welche die Kunstverständigen üben. §. 13 Von dem ärztlichen Kunstbefunde. Auch Aerzte stehen 17 in der Kategorie der Kunstverständigen in gerichtlichen Fällen. Instruktionen derselben in den k. k. Staaten. §. 14 Besondere Beschaffenheit der Stellung des Arztes zum 21 Richter in Folge der Beschaffenheit der ärztlichen Bildung. §. 15 II. Verhältniss der gerichtlichen Arzneikunde zur 23 Rechtswissenschaft Legislative und positive gerichtliche Arzneikunde. - §. 16 Folgen der Nichtbeachtung dieses Unterschiedes in 24 den von diesem Gegenstande handelnden Schriften. Irrige Anwendung ausländischer Schriften. Zweck der gerichtlichen Arzneikunde. §. 17 Gegenstände, welche dahin gehören. §. 18 26 Folgen von der abgesonderten Behandlung der 27 gerichtsarzneilichen Wissenschaft von jener des Rechtes. Falsche Anwendung der Gesetze, Folter unter einem anderen Namen. §. 19 III. Ueber die bei Verfassung des ärztlichen Gutachtens bei 31 Kriminalfällen zu beobachtenden rechtlichen Grundsätze Angabe der zur Erstattung eines entsprechenden - Gutachtens im Strafverfahren nothwendig einzuschlagenden Verfahrungsweise. §. 20 Der Arzt hat auf die Ergebnisse des 34 Untersuchungsprozesses die geeignete Rücksicht zu nehmen. Einsicht der Akten. §. 21 Vorläufiges Benehmen mit dem Untersuchungsrichter. 36 §. 22 Gutachten in dem Falle, wo das _Corpus delicti_ gar - nicht oder nur theilweise vorhanden ist. §. 23 Beispiel hierüber. §. 24 38 Gutachten über Nebenumstände. §. 25 40 IV. Ueber den Einfluss der Richters auf die ärztliche 41 Untersuchung und die Abgabe des Gutachtens Soll oder darf der Richter medizinische Kenntnisse - besitzen? §. 26 Wie sind die nachtheiligen Folgen, welche eine 43 medizinische Bildung von Seite des Richters für die Untersuchung haben kann, zu vermeiden? §. 27 Schlussbemerkung 46 Unerlässliche Pflicht der angestellten - Gerichtsärzte, sich mit den Gesetzen vertraut zu machen. -- Eintheilung dieses Werkes. §. 28 I. Abtheilung. =Ueber die gerichtlich-medizinische Erhebung von Gemüthszuständen=. Einleitung 51 Um zu bestimmen, wie weit die Kompetenz des Arztes - und jene des Richters in dieser Art gehe, muss man über den Zweck der Erhebung und die Beschaffenheit des Gegenstandes sich vereinigen. §. 1 Jede Wissenschaft, insbesondere aber die 51 medizinische, ist auf allgemein bekannte Erfahrungen theilweise gegründet. §. 2 Zu welchem Ende die medizinische Wissenschaft bei 53 der gerichtlichen Erhebung von Gemüthszuständen angewendet werde. §. 3 Pflicht des Richters, bei derlei Erhebungen sich von 54 der Richtigkeit des ärztlichen Ausspruches, so weit es ihm möglich ist, zu überzeugen. §. 4 Welche Anhaltspunkte der Richter habe, um 55 Gemüthszustände zu beurtheilen. Gegenseitige Stellung des Arztes und des Richters bei solchen Erhebungen. §. 5 Eigenschaften des ärztlichen Gutachtens, welche die 57 diesfälligen Rücksichten nöthig machen, zu welchem Zwecke der Arzt wissen muss, welche Grundsätze aus der nichtwissenschaftlichen Beobachtung des Menschen sich in gerichtlich-medizinischer Beziehung ergeben. §. 6 I. =Allgemeine Bemerkungen über das Verhältniss des - Menschen zu anderen Geschöpfen der Aussenwelt= Der Irrsinn ist für den Richter nur insofern von - Bedeutung, als er eine gewisse Thätigkeit in der Aussenwelt zur Folge hat. §. 7 Die irreguläre Thätigkeit im Aeusseren ist die 58 einzige mögliche Veranlassung der gerichtlichen Erhebung des Irrsinnes. §. 8 Der Arzt kann seiner Aufgabe dabei nur durch ein 60 genaues, zu dem Ende angestelltes Beobachten der Natur, um die für die richterlichen Definitionen passenden Momente aufzufinden, genügen. §. 9 Entwicklung solcher Momente, welche die Natur dem 62 Nichtarzte in dieser Beziehung darbietet. Eintheilung der Geschöpfe _a_) in unorganische, _b_) organische, _c_) animalische Wesen. Empfindung. Vorstellung. Kunsttriebe. §. 10 Fortsetzung. Reproduktion. _Nexus causalis_. 65 Gedächtniss. Einbildungskraft. Triebe. §. 11 Fortsetzung. Unterschied des Thieres von der Pflanze 68 und vom Menschen. §. 12 Fortsetzung. Vernünftig-sinnliche (animalische) 69 Wesen. Der Mensch. Dessen charakteristische Merkmale. §. 13 Fortsetzung. Sprache. §. 14 - Fortsetzung. Begriffe. §. 15 70 Fortsetzung. Verhältniss der Sprache zu dem 71 Begriffe. §. 16 Fortsetzung. Sittliche Anlage. Deren 72 charakteristisches Merkmal. Freiheit. §. 17 Fortsetzung. Die Anlage zur Sittlichkeit ist bei 74 allen Menschen vorhanden. §. 18 Fortsetzung. Tugend. Ehre. §. 19 75 Fortsetzung. Nachweisung der Art und Weise der 75 Entwicklung der sittlichen Anlage bei dem Menschen. Gewissen. Wille. Nothwendigkeit der Festhaltung des Grundsatzes, dass diese Funktionen nur Aeusserungen derselben Anlage sind. Missverständnisse, welche die Ausserachtlassung dieses Grundsatzes zur Folge hätte. Krankheit des Willens. Unterschied der Reproduktion sittlicher Lehren und sittlicher Vorstellungen. §. 20 II. =Allgemeine Bemerkungen über den Irrsinn vom 82 psychologischen und rechtlichen Gesichtspunkte= Der Zweck der Erhebung des Irrsinns ist die - Richtigstellung des Verhältnisses der inneren Thätigkeit eines Menschen zu dessen äusserer Umgebung. §. 21 Diese Nachweisung muss von Seite des Arztes durch in 85 die Sinne fallende Thatsachen geliefert werden. §. 22 Die Thatsache, welche zum Behufe der Erhebung des 86 Irrsinns richtig zu stellen ist, ist, dass eine bestimmte Thätigkeit nicht normal gewesen sei. Was unter einer nicht normalen Thätigkeit zu verstehen ist. §. 23 Die Veranlassung jeder nicht normalen Thätigkeit - eines Menschen in rechtlicher Beziehung ist Zwang oder Irrthum. §. 24 Wie ist Irrthum möglich? Mangelhafte Beschaffenheit 87 der Sinneswerkzeuge. §. 25 Fortsetzung. Mangelhafte Reproduktionsthätigkeit. §. 89 26 Die Straflosigkeit einer sonst sträflichen Handlung - wird durch Nachweisung des Statt gefundenen Zwanges oder Irrthums begründet. §. 27 Diese beiden Momente können, durch Erwägung der 90 äusseren Verhältnisse, oder durch Erhebung der individuellen Beschaffenheit des Subjektes richtiggestellt werden. §. 28 Dieses Resultat wird in letzterer Beziehung durch - die Erhebung des Irrsinns bezweckt. §. 29 Der Zweck der gerichtlichen Erhebung des Irrsinns - ist daher die Nachweisung, dass der Mensch vermöge seiner individuellen Beschaffenheit sich in Bezug auf eine bestimmte That im Zustande des Zwanges oder Irrthums befunden habe. Das Mittel dazu ist die Beobachtung desselben, mit Anwendung der Grundsätze der medizinischen Wissenschaften. §. 30 Irrige Ausdrücke in Bezug auf den Irrsinn, in seiner 92 gerichtlich-medizinischen Bedeutung. Grade des Irrsinns. §. 31 Der Ausdruck =Seelenstörung=. Innige Verbindung 94 der Psyche und des Körpers. §. 32 Der Ausdruck =Verstandeskrankheit=. §. 33 95 Der Ausdruck =Gemüthskrankheit=. §. 34 96 Der Ausdruck Krankheit des =Gefühls=. §. 35 97 Der Ausdruck Krankheit des =Willens=. §. 36 98 Der Ausdruck Krankheit der =Vernunft=. §. 37 99 Der Ausdruck Krankheit der =Sinne=. §. 38 - Ueberflüssigkeit einer Definition des Irrsinns in 100 gerichtlich-medizinischer Beziehung. §. 39 Angabe derjenigen Momente, durch deren Darstellung 101 das ärztliche Gutachten bei Erhebung des Irrsinns dem richterlichen Zwecke entspricht §§. 40, 41, 42 III. =Aus Grundsätzen des Rechtes zu nehmende Rücksichten bei Erhebung des Irrsinns=. A. Im Strafverfahren 104 1. Der Fall dass an Jemanden, welcher vor Gericht - gestellt wird, sich Spuren von Irrsinn äussern. §. 43 2. Erhebung zum Behufe der Ausmittlung der 106 Zurechenbarkeit der That. §. 44 Fortsetzung. Es ist für den Richter nicht möglich in 107 allen Fällen, alle Momente durch Fragen anzugeben. §. 45 Wann die Nothwendigkeit der Einleitung eines 108 besondern Aktes der Erhebung des Geisteszustandes zur Ausmittlung der Zurechenbarkeit eintrete. §. 46 Der wesentlichste Moment, worüber der Ausspruch 110 gewärtigt wird, ist, ob der Thäter in dem Augenblicke, wo er die That verübte, nicht im Stande war, sich in Bezug auf diese That, nach Vorstellungen, welche mit der äusseren Objectivität übereinstimmen, zu bestimmen. Nothwendiges Verfahren zu diesem Zwecke. §. 47 Wechselseitiger Einfluss des Arztes und Richters 111 dabei. §. 48 Verschiedenheit der Rechtswirkung eines auf 114 apodiktische, und eines auf hypothetische Grundsätze der Wissenschaft sich gründenden Gutachtens. §. 49 3. Erhebung des Gutachtens zum Behufe der 116 Urtheilverkündigung. §. 50 B. Im Civilverfahren 117 Zweck und rechtliche Wirkung eines solchen - Gutachtens. §. 51 IV. =Ueber die Erhebung zweifelhafter Gemüthszustände=. Allgemeine Bemerkungen 124 Geisteskrankheit ist nicht die einzige Veranlassung, - durch welche ein Gemüthszustand zweifelhaft wird. §. 52 Die Schwierigkeit der diesfälligen Erhebung liegt in 126 der Verschiedenartigkeit der Arznei- und Rechtswissenschaft. §. 53 Fortsetzung. In der Arzneiwissenschaft als solcher, - sind nach ihrem Zwecke diejenigen Momente, auf welche es bei der gerichtlichen Erhebung der Seelenzustände ankommt, nicht gegeben. §. 54 Um die Grundsätze der Arzneiwissenschaft auf die 128 gerichtliche Erhebung von Gemüthszuständen anzuwenden, müssen vor Allem die aus den positiven Gesetzen sich ergebenden Forderungen berücksichtigt werden. Bestimmungen des österreichischen Strafgesetzes. §. 55 Das Mittel, diese Bestimmungen zu erfüllen, ist das 130 Studium der menschlichen Natur im Allgemeinen. §. 56 Unrichtigkeit und Schädlichkeit der Ansicht, dass 131 zur Aufhebung der Sträflichkeit, immer die Nachweisung einer absoluten Unzurechnungsfähigkeit erfordert werde. Frage, auf deren Beantwortung es ankommt. §. 57 Die Geisteszustände müssen vor Allem vom rein 132 menschlichen Gesichtspunkte betrachtet werden. §. 58 Diesfällige Erfahrungssätze. Die Triebe des Menschen 133 äussern sich mehr in der Vorstellungsthätigkeit, als beim Thiere. §§. 59, 60, 61 Fortsetzung. Verschiedenartige Aeusserung des 136 Geschlechtstriebes bei dem Menschen im Vergleiche mit dem Thiere. §. 62 Das Leben des Menschen ist vorzugsweise ein 137 geistiges. §. 63 Rückwirkung des geistigen Lebens auf körperliche 139 Zustände. Rechtliche Folge hieraus im Allgemeinen und in Bezug auf gewisse Zustände, als: Affekte, Leidenschaften, Schwärmerei etc. §. 64 A. Affekte 142 Allgemeines Merkmal dieses Zustandes. §. 65 - Jeder Affekt bedingt nothwendig eine ihm 143 entsprechende Thätigkeit, sofern deren Ausübung nicht durch entgegengesetzte Vorstellung gehemmt wird. §. 66 Nur der Beweis des gänzlichen Mangels wirklich 144 vorhandener, hinlänglich intensiver, dem Affekte entgegengesetzter Vorstellungen kann die Straflosigkeit der verbrecherischen That begründen. Lieferung dieses Beweises aus der Beschaffenheit der menschlichen Natur überhaupt. §. 67 Beweis aus der individuellen Stimmung im Augenblicke 146 der That. Einfluss der Vorstellung des Sittlichen. §. 68 Fortsetzung. Gründe der Unwirksamkeit von sittlichen - Vorstellungen. Krankhafte Verstimmungen. §. 69 Einfluss des Affektes auf die Unzweckmässigkeit der 148 äusseren Thätigkeit. §. 70 Wie die Erhebung des Einflusses des Affektes in 149 Bezug auf eine bestimmte That zu geschehen hat. §. 71 B. Leidenschaften 150 Was ist Leidenschaft? §. 72 - Die Leidenschaft, als ein durchaus psychischer 153 Zustand, kann nur nach psychischen Gesetzen beurtheilt werden, und hebt als solche niemals die Zurechnung auf. §. 73 Eine Leidenschaft kann unter gewissen Umständen 155 Gemüthszustände zur Folge haben, welche die =sittliche= Zurechnung aufheben. §. 74 Inwiefern derlei Zustände die strafrechtliche 156 Zurechnung aufheben können. §. 75 Grundsätze, welche sich für die 158 gerichtlich-medizinischen Erhebungen von Zuständen, denen eine Leidenschaft zu Grunde liegt, hieraus ergeben. §. 76 C. Schwärmerei 163 Merkmale dieses Zustandes. Ob es denkbar ist, dass - Jemand aus dem Bestreben, einen sittlichen Zweck zu erreichen, eine ihm als unsittlich bekannte Handlung verübe, und ob ein solches Vorgeben die Vermuthung einer Geistesverwirrung begründen könne. §. 77 Strafbarkeit einer, wenn auch im Zustande der 166 Schwärmerei verübten rechtswidrigen Handlung. §. 78 Vergleichung mancher durch Schwärmerei 168 hervorgebrachten Zustände mit jenen des Traumes. Pöschlianer. §. 79 Charakteristisches Merkmal der im Zustande der 172 Schwärmerei begangenen unzurechenbaren Thaten. §. 80 D. Blödsinn - Rechtliche Bedeutung dieses Zustandes. §. 81 - Art und Weise der Erhebung. §§. 82, 83 173 Dummheit. §. 84 176 E. Monomanie. Fixe Idee. §. 85 - F. Melancholie. _Mania occulta._ §. 86 177 G. Berauschung. §. 87 178 H. Unwiderstehlicher Hang zu gewissen Verbrechen 181 Um zu erfahren, ob ein Hang zu einem bestimmten - Verbrechen möglich sei, muss man die Beschaffenheit des Verbrechens selbst untersuchen. §. 88 Pubertätsentwicklung, Hysterie etc. als 182 veranlassende Ursachen eines solchen Hanges. §. 89 Aufzählung der Verbrechen nach dem österreichischen 183 Strafgesetzbuche, und Erörterung, warum bei manchen Verbrechen ein Hang zu deren Begehung unmöglich sei. Bezeichnung derjenigen Verbrechen, zu welchen denkbarer Weise ein besonderer Hang Statt finden kann. §. 90 1. Verbrechen, welche durch den Geschlechtstrieb 187 veranlasst werden. Unzucht wider die Natur. §. 91 Nothzucht. §. 92 189 2. Tödtung und Verletzung. Unterschied des 190 psychologischen Motives bei gewaltsamen und bei künstlichen Tödtungen. §. 93 3. Hang zum Diebstahl. Verschiedenheit der Motive, und zwar: _a_) Lust zum Besitze. §. 94 192 _b_) Neigung zu dem Genusse, weil er verboten ist. 194 §. 95 _c_) Vergnügen an Beseitigung der Schwierigkeiten. 197 §§. 96, 97 4. Brandlegung. §. 98 198 Anwendbarkeit dieser Unterscheidungen zum Behufe der 200 Rechtspflege. §. 99 I. Dämonomania. §. 100 201 K. Verstellter Wahnsinn. §. 101 207 Schlussbemerkung. §. 102 209 V. =Kriminalfälle mit Erhebung des Irrsinnes.= A. Der wahnsinnige Brandstifter _Joseph G._ 210 B. Der Brudermörder _Kaspar Roth_ 233 C. _Matthäus Grotz_, ein Epileptiker, erschlägt seinen 258 leiblichen Vater D. Der phränologisch untersuchte Brandleger _J. Kläger_, 285 nebst Bemerkungen über das Heimweh Die Verfassung gerichtlich medizinischer Gutachten, vom Standpunkte der Rechtskunde betrachtet. Der nachfolgende Aufsatz möge als Einleitung zu dem übrigen Inhalte dieses Buches dienen, dessen Zweck die möglichst praktische Anschaulichmachung der Aufgabe sowohl, als deren Lösung erscheint, welche dem Arzt und Richter bei gerichtlichen Akten gegenseitig gegeben ist. Obwohl ich mich hierin bestreben werde, mich von jeder blossen Theorie möglichst fern zu halten, und so viel möglich die =Sache=, nicht eine blosse Argumentation dem verehrten Leser zu geben, so fordert es doch das Wesen der Sache selbst, welche hier verhandelt werden soll, vor Allem diejenigen =Begriffe und Abstractionen= vorzuführen, welche zur Vermittlung zwischen zwei so verschiedenen Gegensätzen, wie das =Recht=, ein reines Abstractum, und der =medizinischen= -- nämlich einer auf concrete Fälle basirten -- Wissenschaft, unumgänglich nöthig sind. Ich glaube daher, vor Allem Einiges über die =Verfassung gerichtlicher Gutachten= sagen zu müssen, wobei ich mir die Bemerkung erlaube, dass dasjenige, was ich hierüber zu sagen habe, dem verehrten Leser den Gegenstand von einer Seite darstellen und beleuchten werde, welche, wie ich hoffe, nicht nur den Gegenstand Jedem klar zu machen, sondern vielen meiner Leser eine ganz =neue= Ansicht der Sache eröffnen wird. I. Ueber den Zweck und die Verfassung vom Befunde und Gutachten im Allgemeinen. §. 1. Es ist ein grosser Unterschied zwischen einem Gutachten im Civilverfahren und einem Gutachten im =Strafverfahren=, nicht sowohl nach seinem =Inhalte= -- denn dieser muss in beiden Fällen wahr und sachgemäss sein -- als nach seiner =Veranlassung=, =Zweck= und =Wirkung=. Im =Civilverfahren= wird das =Gutachten= oder überhaupt ein =Kunstbefund= nur dann =erhoben=, wenn eine =Partei= durch die Nachweisung, dass irgend eine Sache eine gewisse Eigenschaft habe oder nicht habe, irgend eine Leistung von einem Dritten zu erlangen, oder sich irgend einer Verpflichtung zu entschlagen hofft. Die =Veranlassung= dieses Gutachtens ist daher das Einschreiten der =Partei=; dessen =Zweck=: der Partei als =Beweismittel= zu dienen; dessen =Wirkung= -- in dem Falle, als das Gutachten dasjenige sagt, was die Partei beweisen soll, und es sonst die in der Gerichtsordnung vorgeschriebenen Eigenschaften hat -- als =Beweismittel= vor dem Richter zu =dienen=. Der Richter hat dabei keine andere Obliegenheit, als nachzusehen, ob das Gutachten wirklich das =Nämliche= sagt, was es nach der Behauptung des =Beweisführers= sagen soll, wenn der Gegner gegen dessen formelle Eigenschaft keine giltigen Einwendungen vorgebracht hat. Dasjenige, was scheinbar die Hauptsache ist, nämlich ob das Gutachten seinem Inhalte nach =wahr= ist, geht den =Richter= gar nicht, sondern nur die =Gegenpartei= an, welche allenfalls einen Gegenbeweis liefern und sich dadurch gegen die Folgen, welche die =Unwahrheit= des Gutachtens für sie haben könnte, wenn =sie will=, schützen kann. Unterlässt die Partei den Gegenbeweis, oder liefert sie ihn nicht genügend, z. B. dadurch, dass sie beweist, dass die Kunstverständigen nicht beeidet waren, dass sie nicht das rechte Objekt in Augenschein genommen haben u. s. w., so ist das Gutachten =giltig=, und der Richter =muss= selbst im Falle, wo =er= von der =Widersinnigkeit des Gutachtens überzeugt=, ja sogar im Stande wäre, =selbst= den Beweis zu liefern, dass es durchaus =falsch= ist, =gerade so urtheilen=, wie es das nach seiner festen Ueberzeugung durchaus =falsche= Gutachten =bedingt=. Dies ist nun, so sonderbar es dem Nichtjuristen auch vorkommen mag, durchaus =nothwendig=, denn die Parteien führen =untereinander=, nicht =mit dem Richter= Prozess, die Parteien sind daher schuldig, dem Richter ihre Beweise und Gegenbeweise =vorzulegen=, deren =Werth= oder =Unwerth= der =Richter nur= nach den in der =Gerichtsordnung= vorgeschriebenen =Formen= beurtheilen kann. -- Sind bei einem Beweismittel die =Formen= in der Ordnung, so ist es Sache der =Gegenpartei=, die Unrichtigkeit des =Inhaltes=, wenn sie kann, zu beweisen. Thut sie es =nicht=, so ist es ihre =eigene= Schuld, wenn der Richter von der Unrichtigkeit des vom Gegner aufgeführten Beweismittels nichts auf =ämtlichen= Wege, d. i. =aktenmässig= erfährt. -- Was aber nicht in dem =Prozessakte= steht, ist für den urtheilenden =Richter= so viel als =gar nicht= vorhanden, sondern der Richter =urtheilt= oder =verurtheilt= aus keinem =andern= Grunde, als weil nach der =Aktenlage= dieses und kein =anderes= Urtheil möglich ist. §. 2. Ganz anders ist es im =Strafverfahren=, besonders dort, wo kein Anklagsverfahren, sondern ein Inquisitions- (Untersuchungs-) Verfahren Statt findet. Hier ist der Richter nicht nur dahin verantwortlich, dass sein Urtheil demjenigen, was im =Untersuchungsakte= steht, entspreche, sondern auch =dafür=, dass =Alles=, was zum Beweise der grössern oder geringern =Schuld= oder =Schuldlosigkeit= dient, auch in den Akt =komme=, und dass nichts, was nicht =objektiv wahr= ist, als wahr dargestellt werde. Der =Grund= dieser vom Civilverfahren ganz verschiedenen Stellung des Richters liegt =darin=, weil es sich hier =nicht= darum handelt, ein =Beweismittel= für irgend ein Recht, welches Jemand anspricht, =dahin= zu prüfen, ob es die in der =Gerichtsordnung= angegebenen Eigenschaften habe, sondern vielmehr =darum=, einem =Menschen= nie Uebel zuzufügen, um auf =seinen=, und durch =Abschreckung Anderer= auch auf =deren Willen= zu wirken, damit sie gewisse Handlungen unterlassen, die der Staat nicht dulden kann. Die =Zufügung= eines solchen Uebels wäre daher nicht nur =ungerecht=, sondern auch ganz =zwecklos=, wenn Jemand, welcher ein Verbrechen =nicht= begangen hat, =gestraft= würde, weil er vielleicht gar niemals den =Willen= hatte, eine solche That zu begehen, und auch Andere darin, dass Jemand für eine That gestraft wird, die er =nicht= begangen hat, nichts weiter als eine Ungerechtigkeit sehen würden. Es kann also =nur= der Umstand, dass Jemand =wirklich= ein Verbrechen begangen hat, der Grund sein, aus welchem Jemand =bestraft= werden kann. §. 3. Bei strafgerichtlichen Erhebungen kommt jedoch auch noch folgendes Verhältniss zu berücksichtigen: Der Zweck einer solchen Erhebung ist immer die Ausmittlung der Beschaffenheit einer =That=, somit eines Ereignisses, welches in dem Augenblicke, wo die Untersuchung Statt findet, bereits der =Vergangenheit= angehört, dessen Ausmittlung somit niemals durch =unmittelbare= Wahrnehmung, sondern nur =dadurch= möglich ist, dass man entweder Zeugen vernimmt, welche gesehen haben, wie die eben vorliegende Wirkung entstanden ist, oder durch genaue Untersuchung der eben vorliegenden =Wirkung=, mit Zuhilfenahme =anderer= Erfahrungen, auf die Ursache =schliesst=. Ob man nun auf diese Art die wahre Entstehungsart der vorliegenden Thatsache erfährt, wird im ersten Falle davon abhängen, dass die Zeugen =richtig= beobachtet haben und die Wahrheit sagen =wollen=, im letztern Falle, dass man =alle= jene Merkmale, welche die Thatsache darbietet, und welche so beschaffen sind, dass sie einen Schluss auf die Ursache gewähren, nicht nur wahrnimmt, sondern auch =richtig= beobachtet und mit solchen Erfahrungen in Verbindung bringt, welche einen =richtigen Schluss= auf die =Veranlassung= gestatten. Findet man z. B. den Leichnam eines Menschen, so folgt aus diesem Umstande nichts weiter, als dass jener Mensch gestorben ist; will man jedoch wissen, was seinen Tod veranlasst hat, so kann man Leute befragen, welche bei seinem Tode zugegen waren; findet man solche Zeugen nicht, oder gewährt ihre Aussage keinen genügenden Aufschluss, so erübrigt noch immer die =Untersuchung= des Leichnams. -- Liefert diese das Resultat, dass der Mensch eine Flintenkugel im Herzen habe, so gibt dieser Umstand, verglichen mit der =Erfahrung=, dass eine solche Erscheinung niemals eintrete, wenn nicht ein =Schuss= Statt gefunden, wodurch die Kugel an den Ort gebracht wurde, an welchem sie gefunden wurde, das Resultat, dass Derjenige, dessen Leichnam hier liegt, einen =Schuss erhalten habe=, und die =weitere= Erfahrung, dass ein Schuss durch das Herz immer =tödtlich= sei, liefert den =Schluss=, dass der Tod dieses Menschen die =Folge= des beigebrachten Schusses sei. Hieraus erhellt nun, dass =nur dann= der Schluss von der Wirkung auf die Ursache von Seite des =Richters= als richtig anerkannt werden kann, wenn er die =Ueberzeugung= hat, dass in den Akten wirklich =alle= Merkmale vorkommen, welche die Thatsache wirklich darbietet, dass dieselben durchaus =richtig= geschildert, und dass die =Erfahrungen=, welche zu dem Zwecke, um die Ursache der vorliegenden Wirkung zu ergründen, in Anwendung gebracht wurden, ebenfalls =richtig= seien, und keine derlei Erfahrung, welche zu dieser Vermittlung nothwendig war, =ausser Acht= gelassen wurde. Die Ueberzeugung, dass allen diesen Erfordernissen Genüge gethan wurde, erwirbt sich der Richter am natürlichsten dadurch, dass er =sich selbst= die =Anschauung= von der noch vorhandenen =Wirkung= verschafft, und so viel es ihm möglich ist, seine =eigenen= Erfahrungen zur Ausmittlung der Ursache anwendet. Zu dieser =eigenen= Beobachtung ist nur der Richter, so weit es ihm möglich ist, =verpflichtet=, welche Verpflichtung auch von der Gesetzgebung anerkannt ist, da bei Erhebung des Thatbestandes im §. 244 ausdrücklich vorgeschrieben ist: „Alles, was von den, das Verbrechen darstellenden, Stücken (_corpora delicti_) gefunden wird, stückweise genau zu beschreiben und dem Akte beizulegen, sofern dieses thunlich ist.” Der Grund dieser gesetzlichen Anordnung ist kein anderer, als jener, weil es für den Menschen =unmöglich= ist, eine =sicherere= und =festere= Ueberzeugung, als auf dem Wege der =eigenen Anschauung= zu erhalten, denn wo diese einmal eingetreten ist, =muss= jede dem Resultate derselben entgegengesetzte Ansicht nothwendig als eine =unrichtige= betrachtet werden. Da nun der Richter verbunden ist, sich die möglichst =feste= Ueberzeugung von der objektiven =Wahrheit= der Thatsachen zu verschaffen, welche sein Urtheil im Strafverfahren bestimmen sollen, so =kann= kein Zweifel obwalten, dass er bei jeder solchen Erhebung nicht nur berechtigt, sondern =verpflichtet= ist, so viel es nur geschehen kann, sich durch =eigene= Anschauung seine Ueberzeugung zu gründen. §. 4. Von dieser Regel machen auch diejenigen Erhebungen, welche zu ihrer vollständigen und richtigen Beurtheilung besondere =Kunstkenntnisse= erfordern, mit wenigen Beschränkungen, =keine= Ausnahme, denn auch =derlei= Erhebungen sind in der Regel so beschaffen, dass =Vieles davon= ein Gegenstand der blossen =Sinneswahrnehmung= ist, und =viele= Beziehungen in Betreff der Wirkung zur Ursache auch durch Anwendung der =gewöhnlichen= Lebenserfahrung können ausgemittelt werden. Auch bei Erhebungen, welche =Kunstkenntnisse= erfordern, ist daher weder die =Intervention=, noch die =eigene= Beurtheilung des Richters =ausgeschlossen=, und eine =Ausnahme= tritt nur =insofern= ein, als es überhaupt =unmöglich= ist, =ohne= Kunstkenntnisse auch dasjenige nur =wahrzunehmen=, was beobachtet werden soll. Ein solcher Ausnahmsfall tritt insbesondere bei der Touchirung geheimer weiblicher Theile ein. Hier kann nur Derjenige, welcher mit der Anatomie dieser Theile genau bekannt ist, seine Aktion so einrichten, dass er eine Abnormität oder sonst ein besonderes Merkmal =gewahr wird=, und diese Kenntnisse können nur bei dem =Arzte=, nicht aber bei dem Richter vermuthet werden, daher der Letztere hievon sich ausschliessen =kann=, und insofern auch ausschliessen =muss=, als ein solcher Akt, zwecklos vorgenommen, eine unnütze Beleidigung des Schamgefühls der untersuchten Personen wäre, auf dessen Respektirung dieselbe das unbestrittene =Recht= hat. Würde aber das Urtheil der =Kunstverständigen= mit der selbst erworbenen Anschauung des Richters, oder mit dessen auf eigene Erfahrung gegründeten Schlüssen im =Widerspruch= sein, so ist der Richter ebenso =berechtigt=, als =verpflichtet=, die Richtigkeit des Ausspruches der Kunstverständigen =in Zweifel zu ziehen=, weil, wie bereits oben bemerkt wurde, =Niemand im Stande ist=, eine fremde Ansicht auch =dann= für wahr zu halten, wenn sie der =eigenen= Sinnenwahrnehmung und der eigenen Erfahrung =nicht entspricht=; der Richter ist daher schon in seiner Eigenschaft als =vernünftiges Wesen= verpflichtet, von seiner Ansicht =nicht eher abzugehen=, als bis ihm von den Kunstverständigen =nachgewiesen= wird, dass und in welcher Art und Weise er sich in einem =Irrthume= befinde. §. 5. Obwohl es nun nach dieser Ansicht der Sache keinem Zweifel unterliegen kann, dass der Richter, auch bei einem =Kunstbefunde=, nicht von der =Mitbesichtigung= und =Mitbeurtheilung= ausgeschlossen sein kann, so ergibt es sich doch aus der Natur der Sache, dass sowohl die Wahrnehmung, als auch die Beurtheilung des Gegenstandes von Seite der Kunstverständigen in vielen Fällen =weiter= gehen =könne= und =müsse=, als jene des =Richters=, denn ein in gewissen Wahrnehmungen =geübtes Auge= sieht an demselben Gegenstande offenbar =mehr=, als das =ungeübte=, und ein Mensch, dessen Studien ihm =Erfahrungen= geliefert haben, die dem Andern =mangeln=, wird in vielen Fällen =anders= urtheilen, als =jener, dem= diese Erfahrungen mangeln, weil er durch die letzteren in die Lage gesetzt ist, die =Mangelhaftigkeit des Resultates=, welches Jener aus seinen =beschränkten= Erfahrungen abstrahirte, =einzusehen=. In dieser Beziehung kann es daher =keinem= Zweifel unterliegen, dass in einem Falle, wo die Kunstverständigen anders urtheilen, als der Richter, die =Wahrscheinlichkeit= dafür spreche, dass die Kunstverständigen =Recht=, der Richter aber =Unrecht= habe. Mehr als diese =Wahrscheinlichkeit= folgt jedoch aus dieser Differenz =nicht=; da nun der Richter besonders dort, wo es sich darum handelt, eine =Strafe= auszusprechen, nicht blos =Wahrscheinlichkeit=, sondern =Gewissheit= bedarf, so folgt, dass der Richter bei einer solchen Differenz zwischen =seinem= Urtheile und jenem der Kunstverständigen =niemals= verhalten werden kann, sein Urtheil, gegenüber des andern, unbedingt =aufzugeben=, sondern nur, dass er verlangen muss, dass die Kunstverständigen ihm vorerst seine Bedenken =heben=, d. h. ihm nachweisen, =inwiefern= und =warum= seine Ansicht =irrig= sei. So könnte z. B. in dem Falle, wo Jemand bei einem Wortwechsel einen unbeträchtlichen Stoss erhielt, auf einen Heuhaufen hinfällt und darauf vom Schlage gerührt starb, der Richter den Ausspruch eines Arztes, =dass der Tod eine Folge des Fallens auf den Grashaufen sei=, niemals als =wahr= annehmen, sondern er müsste hier =das Zeugniss seiner eigenen Sinne= und jenes =seiner= Erfahrung: dass man auf einen Grashaufen fallen und sich dabei ganz wohl befinden kann, so wie die fernere Erfahrung, dass man auch =ohne= alle =äussere Verletzung vom Schlag gerührt werden kann=, dem ärztlichen Ausspruche =entgegensetzen=, und müsste daher an dessen Wahrheit so lange =zweifeln=, bis nicht diese Bedenken behoben sind. Der Fall, von dem hier die Rede ist, hat sich =wirklich= ereignet. Der Arzt begründete seine Ansicht dadurch, dass der nachher Verstorbene vom Trunke und Zorn bereits aufgeregt war, und bei seinem hohen Alter und sonstigem apoplektischen Habitus eine geringe Erschütterung ihm den Schlagfluss zuziehen =konnte=. Es darf wohl nicht bemerkt werden, dass =dieser= Erklärung keine rechtliche Folge gegeben wurde, da der Umstand, auf den es hier einzig und allein ankam: ob der Tod eine Folge des Werfens auf den Grashaufen gewesen sei, und ihn =ohne= dieses Ereigniss nicht eben so der Schlag getroffen hätte, nicht im Mindesten richtig gestellt war, ja sogar durch die in Folge ämtlicher Aufforderung von dem Arzte selbst abgegebene Erklärung, dass es auch möglich gewesen wäre, dass den so Behandelten auch ohne Auffallen auf den Grashaufen der Schlag gerührt haben möchte, jedes Bedenken gehoben wurde. §. 6. So wie es aber keinem Zweifel unterliegen kann, dass der Kunstbefund den Richter, =so weit dessen Einsicht reicht=, von seiner objektiven Richtigkeit =überzeugen= muss, wenn demselben eine =rechtliche= Folge gegeben werden soll, so wenig kann es einem Zweifel unterliegen, dass auch der Kunstverständige =verbunden=, und daher auch =berechtigt= sei, alle diejenigen Wahrnehmungen, welche der =Richter= gemacht hat, oder welchen der Richter =irgend einen Einfluss= auf =seine= Beurtheilung einräumen zu können glaubt, zu =beobachten= und in ihrer Bedeutung zu =würdigen=, da =ohne= diese Vorsicht =ein Irrthum des Richters= nothwendig auch einen =Irrthum im Kunstbefunde= mit sich bringen muss, der Natur der Sachen nach aber der mit den nöthigen Vorkenntnissen =nicht= versehene Richter auch in Bezug auf Gegenstände, welche sich auch wohl durch die gewöhnliche Sinnenthätigkeit wahrnehmen lassen, =leichter= in einen =Irrthum verfallen=, oder aus =Mangel der hinlänglichen Erfahrung= leichter zu einem =Fehlschlusse= verleitet werden kann, als der ihm hierin bedeutend =überlegene= Kunstverständige. Hieraus folgt nun, dass die =Erhebung eines Kunstbefundes im Strafverfahren= ein Akt sei, bei welchem, so weit es nur möglich ist, der Richter den =Kunstverständigen= und dieser wiederum den =Richter controlliren= muss, und daher eigentlich ein ihnen Beiden gemeinschaftlicher Akt sei. §. 7. Es gibt jedoch, wie bei §. 4 bemerkt ist, Ereignisse, deren Beschaffenheit von der Art ist, dass man =ohne= besondere Vorkenntnisse weder die =Richtigkeit= des gewonnenen Resultats =beurtheilen=, noch auch die =Bedeutung= der zur Gewinnung dieses Resultates eingeleiteten =Operationen würdigen= kann. Diese Stellung ist von Seite des Richters gegenüber dem =Kunstverständigen= allerdings =möglich=. Diese Möglichkeit bildet jedoch nicht die =Regel=, sondern den =Ausnahmsfall=, und muss daher wie jede andere Ausnahmsregel, und zwar hier um so mehr =bewiesen= werden, weil der Richter =verpflichtet ist=, so weit er es vermag, sich seine =eigene= Ueberzeugung zu gründen. Dieser Beweis, dass es für den Richter =unmöglich= ist, sich eine weitere Ueberzeugung zu verschaffen, kann nun nur durch den möglichsten Grad von =Klarheit= in der von den =Kunstverständigen= zu verfassenden =Darstellung= geliefert, und jedem Bedenken des Richters dadurch entgegengearbeitet werden, wenn der Richter selbst bei der Vornahme einer ihm sonst =unbekannten= Operation, auf das =Vorkommen= gewisser =in die Sinne fallender Erscheinungen=, auf deren Vorkommen =Schlüsse= gegründet werden wollen, =aufmerksam= gemacht, und so auf diese Weise die nach den gegebenen Umständen =mögliche= Kontrolle herbeigeführt wird. Es scheint nun allerdings ein Widerspruch zu sein, wenn man die =Deutlichkeit= der Beschreibung zum Beweise der =Unverständlichkeit= einer Sache fordert, allein es ist ganz und gar kein Widerspruch in dieser Behauptung, denn =dass= sich über Sachen, welche für jeden, der die Sache =sieht=, vollkommen verständlich sind, Beschreibungen machen lassen, =aus denen kein Mensch klug wird=, hat zuverlässig jeder meiner verehrten Leser schon erfahren. -- Der Grund, dass die Beschreibung in einem solchen Falle nicht verstanden wird, liegt aber dann nicht in der =Unbegreiflichkeit der Sache=, oder in dem Mangel von Auffassungsfähigkeit desjenigen der sie nicht versteht, sondern in der =mangelhaften Darstellung=. -- Der Beweis nun, dass die gelieferte Darstellung des Kunstbefundes =nicht= die Schuld trage, wenn der Richter ihre objektive Richtigkeit nicht zu würdigen verstehe, kann daher nur in ihrer vollkommenen Deutlichkeit bestehen. §. 8. Eine solche Darstellung ist nur für den =Richter=, nicht aber für einen =andern Kunstverständigen= bestimmt. Soll sie daher dem Erfordernisse der =Deutlichkeit= entsprechen, so muss deren Verfassung mit dem Bestreben Statt finden, alle jenen Begriffe, welche dem Richter zu deren Verständlichkeit noch mangeln, zu =ergänzen=; diese Aufgabe ist bei weitem nicht so schwer zu erreichen, als es dem ersten Anblicke nach =scheint=, wenn der Kunstverständige sich anders den =Zweck= vor Augen hält, welche jede gerichtliche Erhebung =erreichen soll=. Es ist dieser Zweck kein anderer als der, dem Richter das Verständniss zu eröffnen, =ob die vorliegende Erscheinung in irgend einer Beziehung mit dem Strafgesetze= und in =welcher= Beziehung sei, d. h. =welches= Strafgesetz auf dieselbe angewendet werden kann. Der Kunstverständige bedarf zu diesem Zwecke nichts weiter als die Strafgesetze, welche =möglicher Weise= angewendet werden, zu kennen, und etwas nachzudenken, welche vermittelnden Begriffe ihm =seine Studien= geliefert haben, um diese Verbindung einzusehen, und diese Begriffe dann in einer =fasslichen Darstellung= zu Papier zu bringen. Dasjenige, dessen Kenntniss er =nur seinen Studien= verdankt, =mangelt= dem Richter, er muss also in seiner Darstellung von demjenigen, welches ein Gegenstand der =sinnlichen= Wahrnehmung und gewöhnlicher Lebenserfahrung ist, und daher auch von dem Richter aufgefasst wird, =ausgehen=, und seine Darstellung so weit =verfolgen=, bis er =dahin= kommt, das Resultat seiner Darstellung mit =Ausdrücken= zu geben, in welchen der Richter die in den Worten des Gesetzes enthaltenen Begriffe= wieder zu erkennen vermag=. Je =näher= daher die Ausdrücke des Kunstbefundes den in dem Gesetze enthaltenen Ausdrücken kommen, desto =brauchbarer= wird der Kunstbefund sein, und je mehr es den Richter in =Ungewissheit lässt=, ob dasjenige was der =Kunstverständige= gefunden haben will, sich unter die Worte des Gesetzes subsummiren lassen, um =so weniger= wird es seinem Zwecke entsprechen. Zur Erreichung dieser Aufgabe genügt es aber nicht, dass etwa nur die =Schlusssätze= des Befundes Ausdrücke enthalten, in welchen der Richter die Worte des Gesetzes wieder erkennt, sondern es muss auch die ganze =Entwicklung des Ideenganges= in einem solchen Operate so beschaffen sein, dass der Richter auch alles dasjenige, =was er selbst= von der Sache gesehen, oder was ihm seine =eigene= Erfahrung bestätigt, =wieder zu erkennen=, und zugleich zu beurtheilen vermag, ob =nicht etwas vorkomme=, was hiermit im =Widerspruche= ist, ob nicht etwas =ausgelassen= sei, welches ihm seine eigene Beobachtung geliefert hat, oder etwas =vorkomme=, von dessen Dasein er sich noch die unmittelbare, ihm bisher noch mangelnde eigene Anschauung =verschaffen kann=. -- Die Nothwendigkeit, auch diesem Erfordernisse zu genügen, ergibt sich aus demjenigen, was eben bei §. 3. und 4. gesagt wurde. Gegen diese Ansicht wird nun insbesondere in =ärztlichen= Befunden nicht selten auf eine Weise verstossen, dass man zu dem Gedanken verleitet wird, dass die Aussteller solcher Gutachten den Umstand, dass solches für den =Richter= bestimmt sei, gänzlich =ausser Acht lassen=; man findet solche Befunde (freilich ganz entschieden gegen den Inhalt des §. 18. der Instruktion für die Aerzte bei Vornahme gerichtlicher Leichenbeschau) mit =lateinischen und griechischen= Ausdrücken angefüllt, welche dem Aktuar, der sie niederschreibt vorbuchstabirt werden müssen, für den Richter aber nicht mehr leisten, als wenn ein leerer Raum an dieser Stelle gelassen worden wäre, was wirklich auch manchmal geschieht, wenn der Aktuar sich geschämt die Vorbuchstabirung zu verlangen, dem Ganzen die Krone der Unbrauchbarkeit aber dadurch aufsetzen, dass sie mit einem technischen Ausdrucke schliessen, z. B.: es erhellt, dass der N. N. an einer _apoplexia sanguinea_ verstorben sei. Diese Nothwendigkeit ergibt sich aber noch mehr durch die Betrachtung, dass man niemals im Stande ist mit Gewissheit zu sagen, ob man die Ansicht eines Dritten auch =richtig verstehe=, wenn man nicht auch die Ideenfolge zu gewahren vermag, welche ihn zu dieser Ansicht geführt hat, denn es ist sehr möglich, dass jener Dritte mit den von ihm gebrauchten Worten am Ende noch =andere Begriffe= verbindet, als Derjenige, der von seiner Ansicht Gebrauch machen soll. Dadurch können die grössten, und für die Strafrechtspflege =schädlichsten= Missverständnisse entstehen. -- Es ist also schon aus dieser Rücksicht die dringendste Aufgabe für den Kunstverständigen, alles zu beobachten, wodurch einem solchen Missverständnisse vorgebeugt wird. §. 9. Um ein Beispiel zu geben, wie ein Gutachten =richtig=, und doch für den Richter, und daher für den Zweck, für welchen es ausgestellt ist, ganz =unbrauchbar= sein kann, wenn der Ausstellende nicht den Grundsatz befolgt, dass er die Ausdrücke so wähle, dass sie jenen, deren das Gesetz sich bedient, möglichst nahe kommen, möge die Textirung eines über einen Todtfall durch Ertrinken abzugebenden Befundes berücksichtigt werden. Niemand stirbt am =Ertrinken=, d. i. am Trinken des Wassers, und doch ist dies der vulgare Begriff, den daher der Richter =möglicher Weise= theilen kann, welcher vulgare Begriff dieser Todesart sich praktisch dadurch ausspricht, dass der gemeine Mann, wenn er nicht besser belehrt ist, im Falle wo Jemand aus dem Wasser gezogen wird, nichts Dringenderes zu thun weiss, als den Verunglückten umzustürzen, um ihn von der vermeintlich eingedrungenen Wassermenge zu befreien. Der Arzt, der ein solches Gutachten abzugeben hat, wird nun natürlich diese Ansicht nicht theilen und wird daher sein Gutachten nicht dahin abgeben, der Mensch sei =ertrunken=, sondern er wird nach Massgabe des Sektionsbefundes aussprechen, der Mensch sei am =Schlagflusse=, oder an der Erstickung durch Hemmung der Respiration etc. gestorben. Damit ist aber dem =Richter=, welcher möglicher Weise mit dem Zusammenhange, in welchem sich der Schlagfluss mit dem Untergehen im Wasser befindet, nicht bekannt ist, =nicht= gedient, denn so lange nichts weiter hervorgeht, als dass ein Mensch am =Schlagflusse= gestorben ist, lässt sich noch immer die Möglichkeit denken, dass der Tod ganz =unabhängig= von der Handlung eines Dritten, durch welche jener Mensch in das Wasser gerieth, erfolgt sein könne. -- Hier muss daher der das Gutachten abgebende Arzt, um dem Zwecke der Erhebung zu genügen, noch =weiter= gehen und erklären, dass die =Ursache= dieses Schlagflusses bei diesem Individuum =lediglich= von dessen Lage im Wasser entstanden sei, oder dass die Hemmung der Respiration eine =nothwendige Folge= der entweder durch besonders angewandte Gewalt, oder des durch die natürliche Schwere des Menschen Statt gefundenen =Untergehens= sei, und erst =diese= Erklärung wird dem Richter den gehörigen Aufschluss geben, um auf die Thatsache, bezüglich auf den =Urheber= derselben, das Gesetz anwenden zu können. §. 10. Wenn man nun die gegenseitige Stellung, welche zwischen einem Kunstverständigen und dem Richter obwaltet, genau bezeichnen will, so ergibt sich Folgendes: _a_) Der Richter ist berufen alles dasjenige mit =eigenen= Sinnen zu gewahren, was auf diese Art zu gewahren möglich ist, und hat daher die Pflicht, vom Kunstverständigen zu verlangen, dass er ihm jede Entdeckung, =wo es möglich ist=, so vor Augen bringe, dass er sich von deren =Wirklichkeit= überzeugen kann; er ist ferner befugt, von dem Kunstverständigen zu verlangen, dass er alles =untersuche=, was ihm (dem =Richter=) zu untersuchen =nöthig= scheint, und dasjenige, was er (der Kunstverständige) gefunden hat, so (schriftlich) darstelle, dass dem Richter dessen =Bedeutung= in rechtlicher Beziehung vollkommen klar werde. _b_) Dort aber, wo der Kunstverständige in Folge seiner, dem Richter =mangelnden=, Vorkenntnisse Erhebungen zu machen für nöthig findet, muss er sie einleiten, zwar nicht =ohne= den =Richter= auf die Nothwendigkeit dieser Einleitung =aufmerksam= zu machen, jedoch auch ohne zu erwarten, dass der Richter ihm einen ins Detail gehenden =Auftrag= gebe, weil dieses ohne Vorkenntnisse nicht möglich ist; sondern er hat =von sich selbst zu wissen und zu thun, was nöthig ist=. _c_) Der Richter kann und muss ferner von dem Kunstverständigen verlangen, dass er auch ihn, den =Richter=, in seinen Erhebungen =controllire=, nämlich mit Anwendung seiner Kenntnisse beurtheile, ob die Beobachtungen des Richters auch =allseitig= und =richtig= waren, denn wo einmal eine Sache =Theile= hat, die sich mit der blossen Sinnenwahrnehmung =nicht= erkennen lassen, ist es bei =einem= Menschen immerhin möglich sich in etwas zu irren, oder etwas zu übersehen, wo die =blos sinnliche= Wahrnehmung eines =andern=, der jedoch in dieser Art von Beobachtung eine grössere Uebung hat, allerdings genügt hätte. §. 11. Der =Kunstverständige= kann von dem Richter fordern, dass er ihm alles angebe, was =er= von der Sache gewahrt, und ihm alle jene Beziehungen der Thatsache zum Gesetze andeute, welche nach seiner, des Richters, Ansicht daran =möglicher Weise= zu finden sein können. Da jedoch diese =Möglichkeit= der Angabe nur so weit geht, als die =Kenntnisse= des Richters von der Sache überhaupt reichen, diese aber dort, wo Vorkenntnisse nöthig sind, welche dem Richter abgehen, nicht anders als =mangelhaft= sein könne, so folgt von selbst, dass die Aufgabe des Kunstverständigen immer =weiter= geht, als der Richter sie ihm zu =geben= vermag, dass er daher keineswegs =blos= an die ihm vom Richter angedeuteten Beziehungen sich zu halten, sondern =selbst= nachforschen, und daher mit Gegenwärtighaltung des =richterlichen= Zweckes, =selbstständig= die Daten zu verfolgen habe, um die möglichste Vollständigkeit der Erhebung zu erreichen. (§. 10.) §. 12. Durch dasjenige, was im vorigen Paragraphe gesagt worden ist, ergibt sich von selbst die Obliegenheit des Kunstverständigen gegenüber den =Fragen= des Gerichtes. Hier herrscht nun insbesondere bei manchem Gerichtsarzte noch immer die ganz =falsche= Ansicht, dass dort, wo gerichtliche Fragen gestellt werden, sich das Gutachten auch auf Beantwortung dieser =Fragen= zu =beschränken= habe. Durch diese Ansicht wird nun der Richter in ein höchst unangenehmes _dilemma_ versetzt; denn stellt er =keine= Fragen, so erfährt er vielleicht gerade das =nicht=, was nach =seiner= Ansicht zu erfahren =nothwendig= ist, und =stellt= er Fragen, so ist er in Gefahr, dasjenige =nicht= zu erfahren, was nach der vielleicht vollkommen richtigen Ansicht =des Kunstverständigen= ihm zu erfahren =nothwendig= wäre, und um welches er auch gefragt =hätte=, wenn ihm die =Möglichkeit=, diesen Umstand zu erfahren, =vorgeschwebt= hätte. Der einzige Weg, welcher zu einem vernünftigen Ziele führen kann, besteht daher nur darin, dass der Kunstverständige sich =vor= der Untersuchung mit dem gesetzlichen Zwecke, welchen dieselbe haben kann, =vertraut= mache, die =richterlichen= Fragen sodann zwar nicht unbeantwortet lasse, sich dadurch aber nicht =hindern= lasse, die Sache =selbstständig= aufzufassen und sein Gutachten =so= abzugeben, dass dessen Ausdrücke den Worten des =Gesetzes= möglichst =nahe= kommen, wie dies oben bei §. 6. bemerkt wurde[1]. [1] Sieh hierüber auch mein Systematisches Handbuch der gerichtsarzneilichen Wissenschaft (§. 38.). Wien bei _Mörschner's_ Witwe, und _W. Bianchi_. Das Gutachten wird übrigens nur dann vollständig sein, wenn es die in der alten grammatikalischen Formel enthaltenen Punkte nach Möglichkeit beantwortet. _Quis_, wer ist beschädigt, wie ist seine individuelle Beschaffenheit; _quid_, was ist ihm geschehen; _ubi_, unter welchen Lokalumständen; _quibus auxiliis_, mit welchem Werkzeug etc.; _cur_, (gehört mehr in die richterliche Amtshandlung); _quomodo_, wie wurde bei der Beschädigung etc. verfahren; _quando_, wie lange ist es her, also z. B. wie lange ist es her, dass der Todte todt ist. §. 13. Keine Wissenschaft oder Kunst lässt sich denken, welche =gar nicht= auf solchen Erfahrungen beruhte, welche nicht jeder Mensch machen könnte, und wirklich gemacht hat, und welche daher nicht solche Resultate aufzuweisen hätte, welche rein aus =dieser= Erfahrung des gewöhnlichen Lebens geschöpft sind; man braucht eben nicht Astronomie studirt zu haben um zu wissen, dass die Tage im Dezember kürzer sind als im Juli, ein Satz, von dessen Wahrheit der grösste Astronom unmöglich eine festere und richtigere Ueberzeugung haben kann, als der nächst beste Leinweber. Umgekehrt aber werden die =Kunstverständigen= eben so die Aufgabe haben, in dem Falle, als der Gegenstand, um den es sich handelt, von ihnen als ein solcher erkannt wird, welcher sich von den gewöhnlichen Begebnissen =entfernt=, auch die =Beobachtungen des Richters= einer =besonderen= Aufmerksamkeit zu unterziehen, um die Gewissheit zu erlangen, dass sie nicht etwa wegen Mangel an Sachkenntniss =ungenau= oder =unrichtig= seien. Dasjenige Moment, welches in einem und dem andern Falle über den Grad und die Beschaffenheit dieses gegenseitigen Einflusses entscheidet, ist jedoch in =jedem= Falle die =specielle Beschaffenheit= des vorliegenden =Gegenstandes= im Allgemeinen, und in dem =speciellen Falle= in Bezug auf die Art und Weise, wie sich diese Einflussnahme =praktisch gestalten wird=, der =Grad= und das =Verhältniss der Bildung=, in welchen sich Richter und Kunstverständiger zu einander befinden. Es lässt sich nämlich nicht sagen, dass weil etwa irgend ein Gegenstand die Beiziehung von =medizinischen= Kunstverständigen fordert, der Richter ihren Aussprüchen =blindlings= folgen müsse, weil sie als =medizinische Kunstverständige= urtheilen, sondern es lässt sich nur so viel sagen, =keine= Beurtheilung des Richters ist =gültig=, so lange dieselbe von den Kunstverständigen nicht =bestätiget wird=, und eben so kein Ausspruch der =Kunstverständigen ist gültig=, so lange demselben ein auf eigener Sinnenwahrnehmung oder =erprobten Erfahrungen= gegründetes =Bedenken= des Richters =entgegensteht=, und dasselbe durch Nachweisung des =Irrthumes=, auf welchem es beruht, nicht =beseitiget= ist. Je mehr Kenntnisse der Richter von dem Fache der Kunstverständigen hat, um so mehr wird er aber in der Lage sein zu entdecken, ob, und wo allenfalls noch eine =Mangelhaftigkeit=, oder ein =Irrthum= in dem Befunde vorhanden ist und um so mehr wird er auf =Ergänzung= zu dringen im Stande sein, und eben so, je weiter die =Rechtskenntnisse= des Kunstverständigen gehen, um so mehr wird er vermögen zu beurtheilen, ob und was von dem =Richter= allenfalls in seiner rechtlichen Bedeutung =irrig aufgefasst=, oder zu erheben =übersehen wurde=. Es wird daher der Einfluss eines mit den Rechten =vertrauten= Kunstverständigen offenbar =weiter= gehen, und sich in vielen Fällen wohlthätiger äussern, als dies =ohne= dieser Voraussetzung möglich ist, und =umgekehrt=. Das österreichische Strafgesetzbuch hat dieses Verhältniss offenbar ganz richtig aufgefasst, indem es im §. 240 I. Th. hierüber erklärt: „Ist das Verbrechen von solcher Art, dass, um die Beschaffenheit desselben aus den Merkmalen gründlich zu erforschen, besondere wissenschaftliche oder Kunstkenntnisse erfordert werden, so ist =ein= dergleichen Kunstverständiger, und wenn es ohne bedenklichen Verzug geschehen kann, sind deren =zwei= beizuziehen.” Ueber den Zweck dieser Beiziehung spricht sich nun der §. 241. dahin aus: „Wenn der Kunstverständige nicht schon beeidet ist, soll er dahin beeidet werden, dass er nach Eid und Pflicht _a_) den Gegenstand genau zu untersuchen, und _b_) alles was davon (dem Richter) zu wissen nöthig ist, wahrhaft und bestimmt anzugeben habe.” Zu wissen =nöthig= von einem Kunstverständigen ist aber _a_) ob dasjenige, was der Richter als =objektiv richtige= Thatsache annimmt, sich auch nach den zahlreichern und gründlichern Beobachtungen der Wissenschaft als solches =bestätige=; _b_) ob nicht etwas vom Richter =unbemerkt= gelassen wurde, was zur Sache gehört, und =worin= dieses =bestehe=, was der Richter nach eigener Lebenserfahrung hätte beurtheilen =können=; _c_) ob =sonst= Merkmale vorhanden sind, welche =ohne= Beihülfe der Kunst oder Wissenschaft, welche der Kunstverständige übt, =unbemerkt geblieben= wären; _d_) eine solche Darstellung dieser Merkmale, dass der =Richter= das Verhältniss, in welches durch diese Merkmale die untersuchte Thatsache zum Gesetze gestellt wird, =aufzufassen= in den Stand gesetzt wird; _e_) und endlich die Angabe, was nach dem in Folge der nach Massgabe der Punkte _a_, _b_, _c_, _d_ gewonnenen Resultate =weiter= in der Sache zu thun und einzuleiten ist. Das Erforderniss _d_) ist wesentlich, -- denn wenn der Richter mit dieser Beziehung der Merkmale =nicht= bekannt gemacht wird, so dienen sie zu =keiner rechtlichen Beurtheilung=, und die Darstellung bleibt daher =mangelhaft=, weil sie ihren Zweck nicht =erreicht=. Im Gegensatze wird die von dem Kunstverständigen gemachte Darstellung um so =vollständiger= sein, =je mehr= sie die =Bedeutung= der Merkmale in solcher Art =entwickelt=, d. h. je =näher= deren Beziehung zum Gesetze gebracht wird. So wird das Gutachten über einen Sectionsbefund einer Vergiftung =unvollständig= sein, wenn es nichts weiter enthält als die Angabe: es erhellt, dass der N. N. an in den Magen eingedrungenes Vitriolöl, welches nach toxikologischen Grundsätzen unter die Gifte gehört, gestorben sei. Es wird aber vollständig sein, wenn es zugleich noch enthält, dass bei dem Umstande, wo dieses Vitriolöl im konzentrirten Zustande im Magen vorgefunden wurde, diese Substanz aber von der Art ihre Wirkung auf die Geschmackswerkzeuge äussert, dass ein =unbemerktes= Verschlucken desselben nicht möglich ist, der Verstorbene aber noch einige Zeit nach sichtbar gewordener Wirkung der Vergiftung =gelebt=, und sich weder =geäussert=, dass es ihm durch einen Dritten mit Gewalt beigebracht wurde, obwohl er nicht ausser Stande war sich zu äussern, noch auch =Spuren= eines geleisteten Widerstandes sichtbar sind, endlich auch von ihm, ungeachtet des durch die Verschluckung nothwendig sogleich eingetretenen heftigen Schmerzes =Hülfe nicht gesucht= wurde, so lässt sich =nicht denken=, dass diese Verschluckung durch =gewaltsame= Einwirkung eines Dritten, oder =zufällig= geschah, sondern es lässt sich nicht anders annehmen, als dass er =absichtlich= diese Substanz verschluckt habe, wahrscheinlich um durch die allgemein bekannte tödtliche Wirkung des Verschluckens dieser Substanz seinem Leben ein Ende zu machen. §. 14. Dass nun =Aerzte= und =Wundärzte=, wenn sie bei gerichtlichen Fällen interveniren, in die Kategorie der =Kunstverständigen= gehören, wird wenigstens keinem =Juristen= zweifelhaft sein. -- Für den =Arzt= mag dieser Gedanke insofern etwas minder Zusagendes haben, weil er sich dadurch gewissermassen auf gleiche Stufe mit einem Handwerker, welcher, sofern er ein Gutachten in einem gerichtlichen Akte abzugeben hat, ebenfalls =Kunstverständiger= genannt wird, gestellt sieht[2]. Allein diese Rücksicht ist denn doch wohl von keiner Bedeutung, und wird wohl bei einigem Nachdenken Niemand verletzen, so wenig es für den Präsidenten einer hohen Behörde ein Gegenstand des Anstosses sein wird, ein =Diener des Staates= zu heissen, weil auch ganz =untergeordnete=, jedoch ebenfalls bei einer Staatsbehörde angestellte Individuen =Staatsdiener= sind; beide =dienen dem Staate=; so gut als ein Arzt, und ein Handwerker ihre =Kunst= bei einem gerichtlichen Akte nach ihrem besten Wissen =zum gerichtlichen Zwecke anwenden=, und in =dieser Verpflichtung= daher allerdings auf =gleicher= Stufe stehen; die Kunst, die sie =üben=, und die =Rangordnung=, welche sie sonst in der bürgerlichen Gesellschaft einnehmen, wird immer im höchsten Grade =verschieden= bleiben; da man also in dieser Rücksicht keinen Grund hat, Aerzte =nicht= unter die Kunstverständigen zu zählen, so ist wohl kein Zweifel vorhanden, dass alles, was wir bisher von dem =Kunstverständigen= gesagt haben, auf die in gerichtlichen Akten beigezogenen Aerzte und Wundärzte =vollkommen Anwendung= leide. [2] Einiger Unterschied wird jedoch auch in dem Ausdrucke gemacht, dessen sich das Gesetz bedient; es unterscheidet nämlich zwischen =wissenschaftlichen= und =Kunstkenntnissen=, welche letztere ein =Kennen=, d. i. ein Ausüben, einer gewissen Fertigkeit bedeuten. In der Stellung der betreffenden Personen zum Gericht, ist diese Unterscheidung jedoch von keinen gesetzlichen Folgen. Dennoch wird kein vernünftiger Mensch zweifeln, dass zwischen den Beurtheilungen eines =Arztes=, welcher ein Gutachten über einen wichtigen Fall abgibt, und dem Gutachten eines =Schusters=, welchem ein gestohlenes Paar Stiefel schätzt, ein =wichtiger= Unterschied sei; allein der Unterschied liegt nicht =darin=, dass der Arzt =gegenüber dem Gerichte= sich in einer =andern= Stellung befände, sondern darin, weil die =Wissenschaft=, welche er ausübt, =eigene= Beziehungen zwischen =ihm= und dem =Gerichte= herbeiführt, welche bei einem =gewöhnlichen= Kunstverständigen entweder =gar nicht=, oder in einem viel =geringeren= Grade vorhanden sind. Gerade die Wichtigkeit dieser =letzten= Rücksicht, so wie der Umstand, dass diejenigen Fälle, in welchen die Intervention ärztlicher Personen erfordert wird, bei der Strafrechtspflege nicht nur sehr =mannigfaltig= und =zahlreich=, sondern auch nicht selten von =grösster Erheblichkeit= sind (man denke an die auf Mord, Todtschlag, Nothzucht etc. gesetzten strengen Strafen), und der weitere Umstand, dass denn doch bei den Aerzten und Wundärzten nicht =unbedingt= eine solche =Vertrautheit mit der strafgesetzlichen Erhebung= vorausgesetzt werden kann, dass ohne nähere Anleitung in =jedem= Falle ein =solches= Gutachten zu gewärtigen ist, welches dem richterlichen Zwecke =vollkommen entspricht=, veranlasste die Gesetzgebung, diesem Mangel durch =eigene Belehrungen=, insbesondere in Bezug auf jene wichtigen Fälle, wo der Tod eines Menschen erfolgt ist, abzuhelfen, in welchen die =für den Richter= wichtigsten Momente, auf die der Arzt seine Aufmerksamkeit zu richten, und die Art und Weise, wie deren Darstellung Statt zu finden hat, näher bezeichnet werden. Eine solche Erläuterung war die mit Hof-Dekret vom 18. September 1733 erlassene, und in die peinliche Gerichtsordnung vom Jahre 1768 Beilage Nr. 2. aufgenommene Instruktion, welche in Ermanglung einer später erschienenen noch galt, als das gegenwärtige Strafgesetzbuch vom Jahre 1803 eingeführt wurde. Obwohl nun diese Instruktion bei den Fortschritten, welche die Arzneikunde überhaupt und insbesondere die =gerichtliche= Arzneikunde seit jenem Zeitpunkte gemacht hatte, den =neueren= Anforderungen nicht mehr entsprechen konnte, so verdient doch die Art und Weise, wie sich diese Instruktion über die Beurtheilung der =Tödtlichkeit von Verletzungen= ausspricht, bemerkt und anerkannt zu werden. „Bei der Untersuchung eines Leichnams,” heisst es, „sind alle innerlichen Gegenden zu öffnen, um zu sehen, ob =dieser= Mensch =lediglich= von der überkommenen Wunde =unumgänglich= habe verscheiden müssen,” und bei Vergiftungen, „wie viel Gift dieses =Individuum in specie= umzubringen erfordert wurde.” Es war daher schon damals durch gesetzliche Autorität ausgesprochen, dass nicht die =absolute=, sondern die =individuelle= Legalität das =charakteristische= Merkmal sei, welches bei gerichtlichen Erhebungen entscheide, ein Umstand, welcher seither in vielen gerichtlich medizinischen Schriften vielfältig =ausser Acht= gelassen, und dadurch jene heillose Verwirrung der Begriffe herbeigeführt wurde, deren nachtheilige Wirkungen sich noch bis zum gegenwärtigen Zeitpunkte erstrecken, da es ungeachtet der diesen Gegenstand sachgemäss behandelnden Schriften eines =Henke= noch immer Aerzte gibt, von welchen man, wo sich nicht eine =absolute= Tödtlichkeit der Verletzung auffinden lässt, vergebens einen für den Richter =brauchbaren= Ausspruch erwartet. Ueber die =Stellung des Arztes zum Richter= enthält diese Instruktion nichts weiter als die Verordnung für Aerzte und Wundärzte, derlei Untersuchungen allezeit in Gegenwart der dazugezogenen Gerichtsmänner vorzunehmen. Im Jahre 1814, kundgemacht mit Hofkanzlei-Dekret vom 19. Jänner 1815, erfolgte eine =neuerliche Instruktion für gerichtlich angestellte Aerzte und Wundärzte in den k. k. Staaten, wie sie sich bei gerichtlichen Leichenbeschauen zu benehmen haben=. Diese Instruktion enthält eine umständliche Bezeichnung des, bei gerichtlichen Sektionen sowohl im =Allgemeinen=, als in Bezug auf =gewisse Todesarten=, z. B. Schuss, Stich oder andere Verwundungen, Vergiftungen, bei Leichnamen neugeborner Kinder etc., zu beobachtenden Verfahrens, und der dabei zum Behufe des gerichtlichen Zweckes zu berücksichtigenden Momente, in Bezug der Stellung des Arztes zum Richter aber wird §. 14. ein =williger Gehorsam=, alle obrigkeitlichen Befehle auf das genaueste zu vollziehen, damit der Zweck der gerichtlichen Leichenbeschau in keiner Hinsicht verfehlt werde, als eine =nothwendige Eigenschaft= der =Obduzenten= erklärt. Es wird ferner in §§. 9 und 16 die Führung des Protokolls sowohl durch die Obduzenten, als durch die Gerichtspersonen, welche als =die eigentlichen legalen Zeugen= dieses Aktes erklärt werden, und die =Vergleichung= dieser Protokolle miteinander, -- „=damit so lange der Gegenstand der Untersuchung noch vorhanden ist, das Vergessene oder Mangelnde auf der Stelle nachgetragen, das Unrichtige berichtigt, und so den Abweichungen abgeholfen werde, die sich ausserdem würden gefunden haben=” -- angeordnet. Endlich wird §. 17 der =Fundschein= als diejenige schriftliche Ausarbeitung erklärt, welche von den Medizinalpersonen über die =Art und Weise der Untersuchung=, und über die =Resultate= derselben als =Beantwortung= der von Seite des Gerichts über den Gegenstand der Untersuchung =vorgelegten Fragen= an die betreffende Behörde einzusenden ist. Dieser Fundschein hat nach §. 21 das =Gutachten=, d. i. die Darstellung derjenigen Resultate, welche aus den aufgefundenen Daten und Erscheinungen der Leichenbeschau selbst, nach physisch medizinischen Grundsätzen gefolgert werden können, zu enthalten, um die von Seite der Obrigkeit über den Gegenstand der Untersuchung =vorgelegten Fragen= zu beantworten. Durch diese Instruktion ist nun klar ausgesprochen, dass jede Handlung der Medizinalpersonen dabei dem =richterlichen Zwecke= zu dienen habe. Würde diese Weisung in =dem Sinne=, wie die Instruktion dieselbe =ertheilt=, immer =befolgt=, so könnte der Fall eines =mangelhaften= oder =verfehlten= Gutachtens wohl =nicht= eintreten, allein leider lassen sich in dieser letzten Obliegenheit manche Aerzte dadurch =irre= machen, dass sie durch die letztangeführte Stelle sich =berechtigt=, ja auch =verpflichtet= glauben, ihr Gutachten lediglich auf die Beantwortung der gerichtlichen Fragen zu =beschränken=, und selbst =dann= nicht =weiter= zu gehen, als die =Fragen= lauten, wenn die =Veranlassung= dazu in den Erhebungsdaten =offenbar enthalten ist=, oder wenn die Fragen des Richters den Fall auch offenbar nicht =erschöpfen=, weil es dem =Richter= hiezu an der nöthigen, ohne medizinische Vorkenntnisse oft gar nicht möglichen, =Sachkenntniss= gefehlt hat. Dass eine solche Ansicht dem Sinne des Gesetzes =nicht= entspreche, erhellt nicht nur aus den Worten der zitirten §§. 240 241 des Strafgesetzbuches, und aus der Natur der Sache, sondern wenn man die einzelnen §§. der Instruktion gehörig erwägt und vergleicht, so findet man darin die =direkte Aufgabe= für den Arzt, ein Gutachten auch =dann= in gewissen Fällen auszusprechen, wenn es auch vom Richter =nicht= verlangt wäre. Solche =Fragen=, welche sich der Arzt auch =ohne= Aufforderungen des Richters =von Amtswegen= zu stellen, und daher von Amtswegen zu =beantworten= hat, sind vermöge dieser Instruktion folgende: Ob einzelne Verletzungen noch bei =Lebzeiten= oder erst =nach dem Tode= zugefügt worden (§. 51) und nicht etwa ein =Produkt der Fäulniss= sind (§§. 74, 78), oder ob die als eine Wirkung der Fäulniss sich scheinbar zeigenden Beschädigungen nicht etwa ein =Produkt einer Verletzung= sind (§. 58), ob nicht aus der Beschaffenheit des Körpers selbst sich etwa eine vorzügliche =Disposition= ergibt, durch welche die =nachtheilige Folge= der schädlichen Einwirkungen =erhöht= wurde, (§§. 51. 62. 63. 66. 68. 69. 70. 71. 72. 73. 74. 79. 80. 81. 82. 83. 84. 85. 86. 87), ob nicht eine =andere= Todesart als =jene=, welche die =Verletzung= zur Folge hätte haben können, vorhanden ist (§§. 56. 62. 66. 68. 69. 70. 72. 73. 78. 79. 87), ob keine =Hilfe= gegen die tödtliche Folge durch Kunst möglich war (§§. 52. 86), ob nicht besondere, auf eine =bestimmte Todesart= hinweisende, =früher nicht bekannte= Erscheinungen vorhanden sind (§§. 51. 52. 53. 56. 58. 59. 60. 64. 66. 69. 70. 71. 74. 75. 76. 88. und 91). Bei Vergiftungen hat auch (§. 94) =der Arzt selbst= Nachfrage bei dem Angehörigen des Verstorbenen anzustellen, und die Akten einzusehen. Dass die =Todesursache= vor allem aufgefasst und daher im Gutachten =besonders bezeichnet= werden müsse, erhellt aus dem Inhalte des §. 92. Es folgt daher, dass der Arzt nicht nur nach dem Sinne der obzitirten zwei §§. des Strafgesetzbuches, welche durch diese Instruktion keineswegs =aufgehoben=, wohl aber näher =erörtert= sind, sondern durch den Inhalt der Instruktion =selbst=, zu einer =selbstständigen= Auffassung des vorliegenden Faktums =berechtigt= und =verpflichtet= sei, und dass er wohl die Pflicht habe, die gerichtliche Frage =vorzugsweise= zu =berücksichtigen= und zu =beantworten=, sich aber durch dieselben nicht im mindesten =abhalten= lassen dürfe, =alles= was er =selbst= als zur Sache gehörend von Wichtigkeit findet, zu =erheben= und in seinem Gutachten =anzuführen=. §. 15. Wie kann nun der Arzt wissen, welche Erhebungen und welche Aussprüche =sachgemäss= sind, und den allerdings möglichen Umstand vermeiden, dass er nicht durch =zu viel= sagen =Missverständnisse= oder =Unrichtigkeiten= für die =richterliche= Beurtheilung herbeiführt? Die einfachste Beantwortung dieser Frage wäre nun wohl die Hinweisung des Arztes auf die Befolgung der Instruktion, allein abgesehen davon, dass diese Instruktion nur von =Sektionen= handelt, und daher die Untersuchung an =lebenden= Personen nicht berührt, wird jeder erfahrene Arzt, und jeder geübte Richter, mit der Behauptung einverstanden sein, dass fast =jeder besondere= Fall seine =Eigenthümlichkeit= habe, deren richtige Auffassung eine Gewandtheit erfordert, welche keine =Belehrung zu geben=, sondern nur deren Aneignung zu =erleichtern=, vermag, welche daher nur die Folge einer besondern =natürlichen Anlage= oder vielfältigen =praktischen Uebung= sein kann. Aus dieser Rücksicht wird es immer ein missliches Unternehmen bleiben, durch =allgemeine= Grundsätze haarscharf angeben zu wollen, wie weit der Einfluss des =Richters= und wie weit jener des =Arztes= bei einer gerichtlichen Erhebung gehen soll, denn sind =beide= ihrem Fache vollkommen gewachsen, so werden sie sich sehr leicht über die Sache =einverstehen=, und das Gutachten wird so ausfallen wie es sein =soll=, ohne dass man in vielen Fällen der gelieferten Arbeit auch nur =ansehen= wird, wie viel dazu dem =Richter= und wie viel der =Arzt= beigetragen hat. Ist aber der =Richter erfahren= und der Arzt noch =ungeübt=, so wird der Richter, wenn die Sache gut ausfallen soll, den =Arzt= auf mancherlei =aufmerksam= machen, und seine Aeusserungen daher =sorgfältiger= überwachen müssen, als wenn er sich einem =erfahrenen Gerichtsarzte= gegenüber befindet, und ebenso wird ein =erfahrener Gerichtsarzt= gegenüber einem =ungeübten= Richter sich nicht darauf verlassen, von diesem =alles= zu erfahren, was er allenfalls von ihm erfahren =sollte=, sondern ohne eine Aufforderung abzuwarten =selbst nachforschen=, ob und was allenfalls zu wissen Noth thut. Sind aber beide Theile schwach, so wird der Umstand, ob die Begutachtung auch eine in jeder Beziehung entsprechende sein wird, immer höchst =problematisch= bleiben[3]. [3] Ein jeder Streit über die ärztliche und richterliche Kompetenz bei einer gerichtlichen Erhebung setzt immer voraus, dass der eine oder der andere Theil, oder beide ihrem Fache =nicht gewachsen= sind, denn kein Richter kann den Arzt =hindern=, alles zu sagen was er zu sagen für =nöthig= findet, und kein Arzt den Richter alles zu =fragen= was er zu =fragen= für nöthig findet. Wird etwas =Ueberflüssiges= vom Arzte gesagt, so steht es dem Richter frei, durch passende Fragen den Arzt dahin zu bringen, dass sich für jeden, der den Aufsatz liest, von selbst der Umstand, =dass= es überflüssig war, ergebe. Zu =viel zweckmässige= Fragen zu stellen ist =unmöglich=, und sind =unzweckmässige= Fragen gestellt, so muss sich deren Unzweckmässigkeit durch eine der =richtigen= Auffassung des Falles entsprechende Darstellung =von selbst= ergeben, ohne dass es eines =Streites= hierüber bedarf. Der Verfasser dieses Aufsatzes ist weit davon entfernt zu glauben, dass irgend eine Abhandlung über diesen Gegenstand den Mangel an praktischer Uebung hierin zu =ersetzen= vermag, allein =so viel= ist möglich, durch Darstellung des =richtigen= Verhältnisses manche =unrichtige= Ansicht, welche störend auf die richtige Auffassung der praktischen Fälle einwirkt, zu =beseitigen=. -- Solche Gegenstände sind insbesondere: 1. Die Darstellung des richtigen Verhältnisses der gerichtlichen Medizin zur Strafrechtspflege und 2. eine aus der Natur der Sache hergeleitete Darstellung über die Art und Weise, wie die Befunde und Gutachten verfasst werden müssen, um dem richterlichen Zwecke zu entsprechen. II. Verhältniss der gerichtlichen Arzneikunde zur Rechtswissenschaft. §. 16. Die =gerichtliche Arzneikunde= ist der Natur der Sache nach nichts anderes, als die Lehre von der =Anwendung= der auf dem Gebiete der medizinischen Wissenschaft =im Allgemeinen= gewonnenen Resultate auf =gerichtliche= Fälle; sie kann daher ihren Gegenstand in zweifacher Beziehung auffassen, nämlich _a_) um auszumitteln, welche =Gesetze= in Folge der auf dem Gebiete der medizinischen Wissenschaft gewonnenen Resultate sich in Bezug auf die möglichen Fälle als zu erlassen =nothwendig= darstellen, oder _b_) um auszumitteln, welche Grundsätze und in welcher Art dieselben in Bezug auf die bereits =bestehende= Gesetzgebung eines =bestimmten Staates= anzuwenden kommen, um den Grundsätzen =dieser Gesetzgebung= zu entsprechen. Die erste dieser Aufgaben, die =legislative=, kann nur durch eine umfassende Berücksichtigung, nicht nur der Ergebnisse der =medizinischen= Wissenschaft, sondern der =rechtlichen= und =sonstigen= in =dem einen= Staate, für welchen derlei Gesetze erlassen werden sollen, =bestehenden Verhältnisse= überhaupt, die =letztere= nur durch eine genaue Kenntniss und Vertrautheit mit der Anwendung der =in dem bestimmten Staate=, in welchem die Grundsätze der gerichtlichen Arzneiwissenschaften betrieben werden sollen, =bestehenden Gesetzgebung=, ihren Zweck erreichen, die letztere Art könnte man die =positive gerichtliche Arzneikunde= nennen. Nur in ersterer Beziehung kann die gerichtliche =Arzneiwissenschaft= als eine =selbstständige=, d. i. ihrer Form nach =unabhängige=, nämlich als eine solche Wissenschaft gedacht werden, welche dabei nichts =anderes=, als die =Natur der Erscheinungen=, auf welche durch die zu erlassenden Gesetze =eingewirkt= werden soll, zu berücksichtigen hat, in letzterer Beziehung ist ihre Form durch die bestehenden =Gesetze= gegeben, d. h. sie muss, um ihrem Zwecke zu entsprechen, solche =Eintheilungen= der auf dem Felde der medizinischen Wissenschaft genommenen Resultate treffen, und eine solche Art und Weise ihrer =Anwendung= lehren, welche dem Inhalte der =positiven Gesetzgebung= entspricht. So wird z. B. die =Definition= einer =schweren Verletzung=, d. i. die =Aufzählung= der, als schwer bezeichneten Fälle von Verletzungen sich wesentlich anders gestalten, wenn das Gesetz eine =Anzahl von mehr als drei Tagen=, als zur Heilung erforderlich, als charakteristisches Merkmal annimmt, als wenn es eine Zahl von =acht Tagen= bezeichnet, oder wenn, wie es bei dem österreichischen Strafgesetzbuche sehr zweckmässig geschieht, sie eine solche Zeitbestimmung =gar nicht= unter die Merkmale des Verbrechens aufnimmt. §. 17. Gegen diese sich aus der Natur der Sache ergebende Nothwendigkeit der Trennung des =legislativen= von dem =positiven= Gesichtspunkte wird nun in den über gerichtliche Medizin handelnden Schriften nicht selten =gefehlt=, ja man darf sagen, dass es vielen Schriftstellern ganz und gar nicht =beifällt=, nur an diesen Unterschied zu denken, sondern die gewöhnliche Art, wie derlei Schriften verfasst werden, ist die Benützung =eigener Erfahrungen= und der Erfahrungen und Systeme =anderer= Schriftsteller, gewöhnlich ganz =abgesehen= von dem Umstande, ob sie im =Inlande= oder im =Auslande= geschrieben wurden, wodurch es geschehen kann, dass Eintheilungen, welche in dem Lande, wo die Schrift erschien, ganz =richtig= sind, in die Schriften eines Autors übergehen, welcher in einem Lande schreibt, auf dessen positive Gesetzgebung sie =nicht= passen. -- So ist in Herrn Professor _Bernt's_ „Handbuch der gerichtlichen Medizin,” §§. 224 und 225 als ein Merkmal des Verbrechens der Nothzucht: Missbrauch der natürlichen =Geistesschwäche= bei einem blödsinnigen Frauenzimmer, angeführt, während nach §. 110 des österreichischen Strafgesetzbuches nach der gesetzlichen Definition: „Wer eine Weibsperson durch gefährliche Drohung, wirklich ausgeübte Gewaltthätigkeit oder arglistige Betäubung ihrer Sinne ausser Stand setzt, seinen Lüsten Widerstand zu thun, und in diesem Zustande sie schändet, begeht das Verbrechen der Nothzucht” -- dieses Merkmal für sich allein entschieden =nicht= im Stande ist, dieses Verbrechen zu begründen; würde daher ein Arzt in einem Falle, wo eine Person von =solchem= Gemüthszustande, jedoch ohne Gewalt oder arglistige Betäubung ihrer Sinne, geschändet wurde, sein Gutachten ohne weiters dahin abgeben, sie sei =genothzüchtiget= worden, so wäre der Ausdruck offenbar ganz =unrichtig=, und könnte, wenn der Richter dieses Versehen nicht zeitlich genug bemerkt, eine Gesetzwidrigkeit durch =Einleitung= einer Kriminaluntersuchung wegen eines =gar nicht begangenen= Verbrechens zur Folge haben. In dieser Voraussetzung muss daher der Ausspruch _Heinroth's_: „=dass die gerichtliche Arzneiwissenschaft durchaus nicht für den Rechtsgelehrten gehöre=” („Lehrbuch über die Seelenstörungen,” Theil II. §. 418), eine wesentliche =Einschränkung= leiden, denn wenn es auch richtig ist, dass der Richter die Ergebnisse derselben, sofern sie sich auf Daten der =medizinischen= Beobachtung gründen, =nicht= zu beurtheilen vermag, so muss er, um deren =Anwendung= in concreten Fällen unbedingt gestatten zu können, doch die Ueberzeugung haben, dass der Arzt mit seinen Ausdrücken auch =dieselben Begriffe= verbindet, wie diejenigen Gesetze enthalten, zu deren Anwendung diese Aussprüche die =Basis= liefern sollen, und diese Ueberzeugung ist =ohne= ein Statt findendes =Eingehen= des Richters in die Lehre der gerichtlichen Arzneikunde wohl =unmöglich=. Hieraus folgt nun, dass die =gerichtliche Arzneikunde=, sofern sie zur Erreichung des =richterlichen= Zweckes bestimmt ist, nichts anderes ist, noch sein =kann=, als eine mit Zugrundelegung der =positiven Gesetzgebung= eines bestimmten Staates =gelieferte Darstellung derjenigen Ergebnisse der medizinischen Wissenschaft, von welchen sich eine Anwendung auf gerichtliche Fälle denken lässt, verbunden mit einer Anweisung über die Art und Weise, wie die Darstellung der hiedurch gewonnenen Resultate zu geschehen hat, um dem durch eben diese positive Gesetzgebung ausgesprochenen Standpunkte des Richters zu entsprechen=, sie ist und kann daher nichts anderes sein, als ein =Kommentar des Gesetzes= mit =Rücksicht= auf solche praktische =Fälle=, so weit zu dessen richtiger Auffassung und Erhebung Anwendung =medizinischer Kenntnisse= nöthig sind, und hat daher in ihren einzelnen Theilen nur insoweit auf =juridische Giltigkeit= Anspruch, als sie die Uebereinstimmung ihrer Aussprüche =mit dem Gesetze= dem Richter =darzuthun= vermag. Aus dieser Ansicht ergibt sich nun, dass Ergebnisse der medizinischen Wissenschaft, ihre Richtigkeit möge übrigens in =medizinischer= Beziehung noch so =zweifellos= sein, =ohne alle Folgen= für die richterliche Anwendung sein werden, so lange die =Beziehung=, in welcher sie sich zu einem Gesetze befinden, nicht =nachgewiesen= wird, und dass jede Aufführung medizinisch-wissenschaftlicher Resultate nur =dadurch= und =insofern= in dieser Lehre =an ihrem Platze= sei, als dadurch eine =Beziehung des Gesetzes= zu irgend einem gerichtlichen Falle dargestellt oder erläutert wird[4]. [4] Da es unmöglich mehr als Eine richtige medizinische Wissenschaft geben kann, so ist die gerichtliche Arzneiwissenschaft daher keine besondere Wissenschaft, sondern sie kann nichts anderes sein, als die Lehre, die übrigen Zweige der medizinischen Wissenschaft zu gerichtlichen Zwecken entsprechend anzuwenden. §. 18. Als Beleg dieser Behauptung möge die Beantwortung der Frage dienen, warum gerade die Lehre von =Verletzungen=, und nicht etwa jene von =Fiebern=, =Lungenleiden=, =Magenbeschwerden= etc. in das Gebiet der =gerichtlichen= Arzneikunde gehören? -- Die Antwort kann wohl nur sein, weil es =Strafgesetze= gibt, mit welchen die Thatsache von vorhandenen =Verletzungen= in Beziehung steht, und weil es =keine= Gesetze gibt, auf welche die Thatsache einer vorhandenen =Lungensucht= oder eines =Magenübels=, sofern diese Krankheiten nicht Folgen von vorausgegangenen Verletzungen sind, bezogen werden können. Ebenso wird sich die Frage beantworten, warum man die Verletzungen in absolut, individuell, _per se_, _per accidens lethales_ eingetheilt =hat=, und warum diese Eintheilung =jetzt= von keinem Werthe mehr ist. Das Erste geschah nämlich, weil man =voraussetzte=, dass die bestehenden Gesetze einen =Unterschied= der =Strafbarkeit= in diesen verschiedenen Verhältnissen von deren Tödtlichkeit =anerkennen=, und das Letztere, weil man endlich wahrnahm, dass eine solche Unterscheidung weder =ausdrücklich= im Gesetze =enthalten= ist, noch dem Sinne der Gesetze entspreche[5]. [5] Wer sich von der Richtigkeit dieser Behauptung überzeugen will, versuche einmal den Fall, wo Jemand, der etwa schon ein paar Tage gehungert hat, von einem Dritten eingesperrt und so lange ohne Nahrung gelassen wurde, bis die Absicht, ihn dadurch zu tödten, erreicht war, nach dieser Eintheilung zu begutachten. -- Das =Mittel=, nämlich die =Entziehung der Nahrung=, ist von der Art, dass Niemand zweifeln wird, es =müsse nothwendig= den Tod herbeiführen, allein vergebens wird man nach einer Verletzung suchen, denn dasjenige, welches den Tod herbeiführt, ist nichts anderes, als die ganz =naturgemässe Thätigkeit= des Organismus selbst, bei dem Mangel einer Ernährung. Es lässt sich daher von keiner einzigen der allenfalls durch die Selbstaufreibung der Natur hervorgebrachten Störungen sagen, dass sie eine durch einen =Dritten geschehene= Verletzung sei, woraus daher nothwendig folgt, dass auch keine absolut tödtliche =Verletzung= Statt gefunden habe. §. 19. Es folgt aus der oben dargestellten Ansicht aber auch, dass die =gerichtliche Arzneikunde= um so =vollkommener= ihrem Zwecke entsprechen werde, je mehr sie Denjenigen, welcher sich ihr widmet, in die Lage setzt, bei vorkommenden Fällen =alle= jene =Beziehungen= zu entdecken, welche zwischen der untersuchten Thatsache und dem Gesetze =bestehen=, und diese Beziehungen in diesem Sinne =darzustellen=, bei der hierzu nothwendigen Erhebung aber ein =Verfahren= zu beobachten, welches nicht nur zu =diesem Zwecke= führt, sondern auch mit keinem bestehenden Gesetze sich im Widerspruche befindet. So mag es immerhin nach den =Grundsätzen= der =Medizin= als ein zweckmässiges Mittel zur Entdeckung einer möglichen =Verstellung= bei dem Vorgeben einer vorhandenen Krankheit erscheinen, allenfalls ein Glüheisen zur Erforschung der Wahrheit zu appliziren. Die =gerichtliche= Arzneikunde kann sich nur =gegen= ein solches Mittel aussprechen, denn vom Standpunkte der =positiven Gesetzgebung= ist, selbst wenn eine erwiesene =Lüge= des Inquisiten =vorliegt=, keine andere Strafe gegen ihn anzuwenden, als =Fasten= oder =Züchtigung mit Streichen=, wenn er ungeachtet des vorgehaltenen klaren Beweises auf seiner Lüge oder Verstellung beharrt, wo aber die Sache =zweifelhaft= ist, darf =gar kein= Zwang angewendet werden. Die Applizirung eines =Glüheisens= oder ähnlicher, wenn auch minder heroischer Mittel wäre im letzten Falle entschieden eine =Folter=, und im ersten Falle beiläufig =dasselbe=, oder eine Züchtigung in einer viel =empfindlicheren= Art. Wie kann man aber auch dem Arzte zumuthen, dass er zu einem =andern= Zwecke, als um zu =heilen=, irgend ein =Uebel= einem Dritten zufüge? Eine solche Zumuthung, noch mehr aber die Ausführung, wäre die grösste Entwürdigung der ärztlichen Wissenschaft! Sind nun die Vorschläge zur Anwendung solcher Mittel in Schriften, welche über gerichtliche Arzneikunde handeln, etwa unerhört? -- Folgende Stelle, deren Verfasser hier absichtlich nicht genannt wird, findet sich wirklich vor: „Schmerzhafte Mittel sind nur erst nach begründetem Verdacht[6] eines Betruges anzuwenden; dahin gehört die Anwendung von Senfpflastern, Canthariden, der Haarseile, Fontanellen, des Nesselpeitschens, der Aetzmittel, der _moxa_, des =Glüheisens=, der Douche und Tropfbäder, die Androhung schmerzhafter und gefährlicher Operationen[7].” [6] Also doch nur Verdacht! Auch ein =begründeter= Verdacht ist noch keine =Gewissheit=, lässt also noch immer die Möglichkeit eines =Irrthums= zu. -- Wer möchte aber wohl die Verantwortung auf sich nehmen, einen Menschen mit Glüheisen gebrannt zu haben, wenn eine solche Operation nicht nach pathologischen Grundsätzen angezeigt war, und am Ende der Verdacht, welcher die Anwendung dieses heroischen Mittels veranlasste, sich doch als ein =unbegründeter= darstellte! [7] Sei es noch um Drohungen, sie schaden wenigstens nicht so =zuverlässig=, als die wirklich angewandten Mittel, obwohl ich mir nicht denken kann, welche rechtliche Wirkung die Erklärung eines Menschen, welcher behauptet, an Kopfschmerzen zu leiden, und nun diese Behauptung widerruft, haben soll, wenn er zu diesem Widerruf =dadurch= bestimmt wurde, dass man Anstalt macht, ihn zu trepaniren. -- Nehmen wir aber an, es werde ein =Glüheisen= oder ein =Aetzmittel= angewandt, und der also Behandelte verfalle =dadurch= in eine =bleibende= oder sonst =gefährliche Krankheit=. -- Hier könnte man doch nicht fragen, ob sich ein solcher Akt =rechtfertigen= lässt, sondern man könnte höchstens darüber im Zweifel sein, welcher Paragraph des Strafgesetzbuches gegen alle diejenigen, welche zu einer solchen Verletzung mitwirkten, anzuwenden komme. Drohungen sind nur dann zulässig, wenn etwa Derjenige, gegen den sie vorgebracht werden, blind oder taub zu sein, oder ein anderes Gebrechen zu haben vorgibt, und man sie zu dem Zweck ausspricht, um zu =erfahren, ob er höre=, oder eine Bewegung gegen ihn macht, um zu erfahren, =ob er sehe=; hört er oder sieht er =nicht=, so ist ihm dadurch =nichts Uebles= widerfahren, sieht oder hört er aber, so schadet es auch nichts, wenn man anders für die gänzliche Unschädlichkeit des Mittels sorgte. Ich bin wohl fest überzeugt, dass die zitirte Stelle nach dem Sinne des Autors nur in dem Sinne zu nehmen sei: dort wo man einen begründeten Verdacht eines Betruges hat, und es nach pathologischen Grundsätzen in dem Falle, wo der Zustand wirklich so wäre, wie er von dem Inquisiten angegeben wird, =angezeigt= ist, Glüheisen u. dgl. anzuwenden, dürfe eine solche Anwendung erfolgen, um den Betrug zu entdecken. Allein auch in =diesem= Falle ist der Satz nicht =richtig=, denn es kann keinem Zweifel unterliegen, dass der Arzt, als =Arzt=, nur =dann= ein Uebel einem Kranken zufügen dürfe, wenn er es zur Heilung für nothwendig findet. Wo er aber einen gegründeten Verdacht hat, die Angabe sei =Betrug=, kann er die Anwendung des Mittels unmöglich als einen Weg zur =Heilung= betrachten, sondern sie ist in seinen eigenen Augen nichts Anderes, als eine =Tortur=, und er selbst, indem er einem Menschen, um ein =Geständniss= eines Betruges zu erhalten, ein Uebel zufügt, nichts anderes, als ein =Mensch, welcher in einem andern Berufe arbeitet, als in dem seinen=. Dabei darf aber auch nicht unberücksichtiget bleiben, dass Niemand verhalten werden kann, sich =gegen= seinen Willen einem Heilungsprocesse, am wenigsten aber einem schmerzhaften, welcher ihm sonst noch =Gefahr= zu bringen scheint, zu unterziehen. Wie soll es nun gehalten werden, wenn der Inquisit erklärt, er wolle sich =nicht= brennen oder ein Haarseil ziehen lassen? -- Man müsste den Menschen dann binden, und es hätte dann ein Verfahren Statt, wie man es in den Akten des vergangenen Jahrhunderts mit Schauder liest, nur dass statt dem Scharfrichter der Arzt mit dem Glüheisen vor dem Wehrlosgemachten stünde[8]. [8] Die Besorgniss, dass ohne solche Massregeln es einem Inquisiten gelingen könne, seine Verstellung =durchzuführen=, ist ganz =unbegründet=. -- Man wende nur die nöthige Mühe und Aufmerksamkeit an, so wird man =sehr viel= erreichen und wohl imstande sein, dem Inquisiten zu =beweisen=, dass er =lüge=. Z. B. wenn er behauptet, er sei schon seit Jahren blind, und man erhält den Beweis, dass er noch kurz vor seiner Verhaftung gelesen habe u. dgl. -- Die =Tortur= ist indess ein weit =bequemeres= Mittel zur Erforschung der Wahrheit, als das mühsame Aufsuchen von Beweisen, man hüte sich daher, ihre Anwendung unter =irgend einer Form= beschönigen zu wollen. Solche grelle Szenen liegen aber _implicite_ in diesen Sätzen, deren Aufstellung nur dadurch möglich wird, dass man die gerichtliche Arzneikunde ohne =Zugrundelegung= der Rechtslehre =behandelte=. Solche Szenen =können= sich aber =ereignen=, wenn der Satz _Heinroth's_: dass die gerichtliche Arzneiwissenschaft =nicht für den Juristen gehöre=, unbedingt als wahr angenommen wird. Die Zeit, wo man an die ausschliessliche Kompetenz einer Wissenschaft glaubte, ist indess glücklicher Weise vorüber. Jeder will, wo es sein kann, mit eigenen Augen sehen, und handelt hierin sehr vernünftig, denn es kann nicht geläugnet werden, dass durch die in neuerer Zeit in's Leben getretene Verbindung verschiedenartiger Wissenschaften die einzelnen Wissenschaften =mehr= gewonnen haben, als durch die in den vorigen Zeiten üblich gewesene abgeschlossene Behandlungsweise der einzelnen Zweige des menschlichen Wissens. -- Diese Ansicht _Heinroth's_ gehört daher in eine frühere Epoche. Obwohl es ausserhalb des Zweckes dieses Aufsatzes liegt, die Kritik der über gerichtliche Arzneikunde handelnden Werke zu schreiben, so dürfte es sich doch nach dem bisher Gesagten als ausgemacht annehmen lassen, dass es nur =einen= Weg gibt, auf welchem die gerichtliche Arzneiwissenschaft, insofern sie nicht sowohl für die =Legislation=, als für die =gerichtliche Praxis= bestimmt ist, behandelt werden muss. Es ist dies nämlich der Weg, dass Aerzte, welche in ihrer Wissenschaft es auf einen hohen Grad von Vollkommenheit gebracht haben, sich entschliessen, mindestens =denjenigen Theil= der Gesetzgebung, welcher =nicht= entschieden =nichts= mit der medizinischen Wissenschaft gemein hat, =genau= und =gründlich zu studiren=, und auf diese erworbene Kenntniss der =positiven= Gesetzgebung eines =bestimmten Staates= gestützt, =Grundsätze= aufzustellen, deren Richtigkeit sie auf eine auch für den =Richter= verständliche Weise aus der =positiven Gesetzgebung= nachweisen, welche aber zugleich den gerichtlichen Arzt in die Lage setzen, unter den =Ergebnissen= der medizinischen Wissenschaften =diejenigen auszuwählen=, welche auf den =speziellen Fall anzuwenden kommen=, und ihm zugleich die =Anleitung= geben, wie diese =Darstellung zu liefern= ist, damit der Richter nicht im Zweifel bleibe, dass der das Gutachten abgebende Arzt auch wirklich =im Sinne der Gesetze= gesprochen habe. Dies kann nur dadurch geschehen, dass diese in dem speziellen Falle zu liefernde Darstellung zuvörderst von =solchen= Daten ausgeht, welche sich dem Richter entweder als ein Gegenstand seiner =eigenen= sinnlichen Wahrnehmungen darbietet, oder ihm durch die bei ihm vorauszusetzenden =Lebenserfahrungen= als =bekannt= und =erprobt= erscheinen, auf diese Daten gestützt aber sonach der Anschauung des Richters dasjenige, welches ihm =minder= bekannt oder =unbekannt= ist, so viel möglich =näher= bringt, in dieser letzten Beziehung aber so verfährt, dass auch =alle= dem Richter =zur Anwendung des bestimmten positiven Gesetzes= auf den vorliegenden Fall noch =mangelnden Begriffe geliefert= werden, dass daher mit Einem Worte die gerichtliche Arzneikunde nicht als ein =selbstständiger= Zweig der medizinischen Wissenschaft, sondern als diejenige =Methode der Anwendung= der medizinischen Wissenschaft betrachtet werde, wodurch das dem bestimmten =positiven= Gesetze, im Verhältnisse zu den möglichen =Fällen=, entsprechende =Verfahren=, so wie die zweckmässige =Darstellung= der ärztlichen Einsichten und Erfahrungen in Bezug auf jene Fälle gelehrt wird. Es ergibt sich dadurch von selbst, dass das eigentliche Kriterium der Gediegenheit der Behandlung des Gegenstandes =darin= liegen wird, dass dem eine solche Anleitung benützenden Arzte entweder =keine=, oder doch nur =solche= Differenzen des ärztlichen Ausspruches mit der richterlichen Ansicht vorkommen, welche nach der angezeigten Methode leicht zu =beheben= wären, denn es kann keinem Zweifel unterliegen, der =Richter=, welcher seine Ansicht durch den Ausspruch des =Gesetzes= und der =eigenen= Sinnenwahrnehmung und Erfahrung begründet, =kann und darf von seiner Ansicht nicht abgehen=, so lange er nicht eines =Irrthums= überwiesen wird, wo daher der ärztliche Ausspruch mit jener Ansicht des Richters =nicht= übereinstimmt, kann bei dem Umstande, als über einen Gegenstand nicht =zwei entgegengesetzte= Ansichten =wahr= sein können, die Differenz nur in einer =mangelhaften Darstellung= von Seite des =Arztes= liegen, dem es wenigstens nicht gelungen ist, den =Irrthum=, in welchem der Richter sich befindet, zu =entdecken= und =aufzuklären=. III. Ueber die bei Verfassung des ärztlichen Gutachtens bei Kriminalfällen zu beobachtenden rechtlichen Grundsätze. §. 20. Wir kommen nun zu dem zweiten Punkte, nämlich zu der Art und Weise, wie der Arzt vorzugehen habe, damit sein Gutachten in jedem Falle den richterlichen Erfordernissen entspreche. Der wesentlichste Theil dieser Frage ist schon in dem =vorigen= Titel beantwortet; die wichtigste Bedingung ist nämlich, dass er ausser =seinem= Fache, nämlich der medizinischen Wissenschaft überhaupt, auch jenen Theil der =positiven= Gesetzkunde, welcher eine Anwendung medizinischer Kenntnisse erfordert, genau =inne= habe und in den =Geist der Gesetze= eingedrungen sei, denn ohne dieses Erforderniss ist der Gerichtsarzt gegenüber dem Gesetze ungefähr das Nämliche, was ein blosser Empiriker gegenüber der Krankheit ist. -- Er wird in dem Falle, als er einem Richter sich gegenüber befindet, welcher die Geschicklichkeit hat, ihm den Fall so darzustellen, wie dieser Fall gerade in seinem =Erfahrungs-Lexikon= enthalten ist, und sofern dieses Erfahrungs-Lexikon =richtig= ist, das =Wahre= treffen, wo dieses jedoch =nicht= der Fall ist, aber immer =hinter= seiner Aufgabe zurückbleiben, nie aber jene =Selbstständigkeit= der Auffassung und Darstellung geltend machen können, zu welcher der =Arzt= insbesondere, vermöge seiner =Wissenschaft= und die Erfahrung des Richters in diesem Fache weit =überragenden= Bildung, mehr als jeder =andere= Kunstverständige berufen ist. Unter dieser Voraussetzung lässt sich daher in dem Falle, wo ein Thatbestand zu erheben, und nicht etwa nur eine Auskunft über eine rein wissenschaftliche Frage verlangt wird, folgender Weg als der richtige angeben. Vor Allem muss der in Frage stehende Gegenstand =besichtiget= werden, und zwar muss diese Besichtigung ohne alle =vorgefasste Meinung= in derjenigen Gemüthsart geschehen, in welcher man einen ganz unbekannten Gegenstand betrachtet, um zu erfahren, =was er eigentlich vorstellt=. Diese Besichtigung wird nun gewöhnlich schon von einigem Erfolge begleitet sein; man wird z. B. sehen, es liegt ein =Leichnam= vor, es ist ein Individuum vorhanden, welches angibt, =beschädigt= zu sein etc. Sohin berücksichtige der Arzt dasjenige, was durch das Gericht über den Fall bereits erhoben ist, wodurch er dahin kommen wird, durch die etwa bereits erhaltenen gerichtlichen Mittheilungen sich wenigstens bis auf einen =gewissen Grad= klar zu machen, =welche gesetzliche Anordnungen= hier =möglicher= Weise angewendet, und welche entschieden =nicht= angewendet werden können. Z. B. bei der Leiche eines Erwachsenen wird Jeder sogleich wissen, dass alle etwa bei den Untersuchungen eines neugebornen Kindes besonders vorgeschriebenen Erhebungen ausgeschlossen sind. Ist man nun so weit gekommen, so wird es sehr anzuempfehlen sein, =alle jene Gesetzes-Paragraphen= und die etwa hierüber sonst bestehenden Verordnungen, von welchen sich denken lässt, dass sie auf ähnliche Fälle sich beziehen, =nachzulesen=, damit man sich selbst die beruhigende Ueberzeugung verschaffe, dass man nichts =vergessen= habe, und um das etwa Vergessene zu =ergänzen=, auch sofern ein bestimmtes Verfahren bei der Erhebung vorgeschrieben ist (wie etwa in der Instruktion für die Vornahme von gerichtlichen Leichenbeschauen der Fall ist), sich gegen die Folgen eines =möglichen Gedächtnissfehlers= zu schützen. -- Es versteht sich daher von selbst, dass man, wenn man sich zu einem solchem Akte begibt, dasjenige Gesetzbuch oder diejenigen Verordnungen, um welche es sich handeln kann, bei der Hand haben müsse[9]. [9] Wie man auch das von dem Verfasser dieses Aufsatzes herausgegebene systematische Handbuch der gerichtsarzneilichen Wissenschaft in andern Beziehungen beurtheilen mag, =den= Zweck, von welchem oben im Texte gehandelt ist, wird es zuverlässig erfüllen. Hat man sich nun über diesen Theil seiner Aufgabe die nöthige Klarheit verschafft, zu welchem Zwecke es gewiss nur sehr nützlich sein kann, sich mit dem Richter oder dem Abgeordneten des Gerichtes in's Einvernehmen zu setzen, so ist es an der Zeit, zu überlegen, was man nun =ferners beginnen soll=, um durch ein zweckmässiges =Verfahren= die Anwendung des Gesetzes möglich zu machen. Hierzu ist nun vor Allem nothwendig, dass der einschreitende Arzt erfahre, =aus welchem Gesichtspunkte der Richter= die Sache betrachte, wenn er durch etwa Statt gefundene Vorerhebungen dahin gelangt ist, bereits eine Ansicht der Sache gebildet zu haben. Diese Ansicht kann und soll der Richter in den aufzustellenden =Fragen= aussprechen, welche zugleich den Zweck erfüllen sollen, die Kunstverständigen mit =jenen Erhebungen bekannt zu machen=, welche sie entweder aus der ihnen bekannt werdenden Thatsache =nicht= entnehmen, oder doch möglicher Weise nicht gehörig würdigen könnten. Damit aber solche Fragen =gestellt= werden können, muss der Richter schon eine bestimmte Ansicht von dem Vorfalle =haben=, und damit diese Fragen =zweckmässig= und =erschöpfend= seien, muss diese Ansicht =richtig= und den =ganzen Komplex der Thatsache umfassend sein=. Beides ist aber oft aus Gründen, welche im §. 12 dieses Aufsatzes dargestellt sind, nicht möglich[10], es muss daher in jedem Falle eine =selbstständige= Beurtheilung von Seite des Arztes eintreten, und zwar im Falle, wo der Richter noch =keine= Ansicht von der Sache hatte, um ihm dazu zu =verhelfen=, in dem Falle, wo er eine =richtige= hatte, ihm diese als richtig zu =bestätigen=, und sofern sich seine Ansicht als =unrichtig= darstellt, ihm, so weit dies durch ärztliche Vorkenntnisse und sinnliche Wahrnehmung möglich ist, zu der =richtigen Auffassung= des Falles zu führen. -- Ein Beispiel der letzten Art ist, wenn etwa aus den Fragen des Richters bei einer behaupteten =Nothzucht= blos der Umstand erwähnt wird, ob Spuren angewandter =Gewalt= an der Beschädigten zu finden seien, der Arzt erfährt aber durch sie, sie habe sich in dem Zeitpunkte, wo die Schändung Statt fand, in einem Zustande von =Betäubung= befunden, es würde dann ganz gefehlt sein, etwa =blos zu erklären=, es seien =keine Spuren von Gewalt= vorhanden, sondern es müsste auch vom Arzte ausdrücklich gesagt werden, dass nach Angabe der Beleidigten =sie sich in einem Zustande= befunden habe, welcher, wenn er sich so verhält wie sie angibt, allerdings von einer durch einen Dritten verursachten =arglistigen Betäubung= der Sinne herrühren könne (§. 18). [10] Wenn der Arzt sich in dem Falle, wo die richterlichen Fragen nicht zweckmässig sind, nur an =diese= hält, so kann oft nur ein =negatives= Resultat erzielt werden, während ein =positives= nöthig gewesen wäre. Wäre z. B. das Ergebniss der Untersuchung, der Mensch sei durch Blausäure vergiftet, und der Richter hätte die Frage gestellt: ist der Tod eine Folge der Arsenik-Vergiftung? so wäre es offenbar ganz ungenügend, wenn der Arzt sein Gutachten dahin beschränkte, zu sagen: es erhellt, dass er =nicht= an der Arsenik-Vergiftung gestorben sei. Eben so würde der Arzt in dem Falle, wo der Richter die Todesursache bei einem vorgefundenen weiblichen Leichname etwa in einem =Selbstmorde= vermuthete, und weil es schon Nacht ist, sich =begnügen möchte=, die Thüren zu versiegeln und etwa eine Wache hinzustellen, sehr Unrecht haben, sich einem solchen Begehren wenigstens =ohne= aktenmässiger =Protestation zu fügen=, und sich mit der Betrachtung, dass etwa der Hals abgeschnitten sei und das Messer neben ihr liege, sie selbst schon kalt sei etc., zu =begnügen=, sondern er müsste hier wenigstens sich vor Allem die Gewissheit =verschaffen=, ob sie nicht =schwanger= und der =Kaiserschnitt= möglich sei, und daher vom Richter verlangen, alle möglicher Weise zu erhebenden Daten, deren richtige Erhebung durch die Untersuchung des Leichnams gestört werden könnten, z. B. Beschreibung der Lage, in welcher der Leichnam gefunden wurde, dessen Bedeckung etc., =sogleich= zu erheben, und das zur Rettung der Frucht nothwendige Verfahren dann selbst einleiten. §. 21. Je complicirter der Fall ist, d. h. je mehr einzelne, aus der Betrachtung der Sache selbst =nicht= erhellende Umstände auf die richtige Auffassung der Thatsache Einfluss nehmen, um so weniger ist die Möglichkeit einer =vollständig= richtigen Ansicht von Seite des =Richters= gegeben. So wie daher der =Richter= in einem solchen Falle die Pflicht hat, seinerseits alles ihm Mögliche zu thun, damit von Seite des =Arztes= nichts übersehen werde, so hat auch der =Arzt= die Verpflichtung, dort, wo er sich die Möglichkeit denken kann, dass ihm der =Richter= etwas, welches zur Sache gehören könnte, aus Unkenntniss seiner Bedeutung nicht mitgetheilt haben könnte, die Einsicht der =Akten= zu verlangen, oder den Richter sonst zu =befragen=, um das Bestehen von solchen Umständen zu =erfahren= und sich über deren Beschaffenheit die möglichste Gewissheit zu verschaffen. Dies Verfahren ist dort, wo es sich als nothwendig zeigt, schon =früher= anzuwenden, als noch ein =besonderer= Akt der Erhebung Statt findet, etwa z. B. die Sektion vorgenommen wird, damit man dabei nichts durch die Umstände als wesentlich Gebotenes =übersehe=. Es ist aber nicht weniger =dann= nothwendig, wenn die Untersuchung der Thatsache Statt gefunden hat, und es sich als =möglich= darstellt, dass irgend ein aus der Thaterhebung sich nicht ergebender, jedoch in den =sonstigen Aktenstücken=, z. B. in einer Zeugenaussage enthaltener Umstand, von Einfluss auf das abzugebende Gutachten sein, oder durch weitere Nachforschungen erhoben werden könnte. Um nun die vorhandenen Aktenstücke gehörig benützen zu können, muss der Arzt nothwendig einen richtigen =Begriff= von deren =Bedeutung= haben, wohin insbesondere die Berücksichtigung des Umstandes gehört, dass nicht Alles darum, weil es im =Akte= aufgenommen ist, z. B. der Inhalt einer Zeugenaussage, auch =wahr=, oder dass darum, weil etwas =nicht= im Akte steht, es auch =nicht vorhanden= gewesen sei, weil es nicht nur geschehen =kann=, sondern auch sehr oft =geschieht=, dass entweder mit oder ohne Absicht falsche Angaben gemacht und daher protokollirt werden. So wie daher der Richter die Pflicht hat, den ärztlichen Befund zu dem Zwecke zu durchgehen, um zu entdecken, ob nicht irgend etwas =übersehen=, irgend ein Satz ausgesprochen ist, welcher ihm, dem Richter, =nicht gehörig begründet= zu sein scheint, so muss daher auch der =Arzt= mit einer =sachgemässen Kritik bei der Durchlesung der Akten zu Werke gehen=, und in seinem Befunde =bezeichnen=, ob und was ihm nach der Aktenlage, nach wissenschaftlicher Beurtheilung des Falles, =unwahr=, was =zweifelhaft=, oder noch einer =weiteren= Erhebung und welcher =Art= von Erhebung =bedürftig= erscheine, in seinem Gutachten aber genau ersichtlich machen, =wo= und =inwiefern= er die mitgetheilten =Aktenstücke= benützte, damit der Richter in die Lage gesetzt werde, wo es ihm nöthig scheint, etwa =weitere= Erhebungen zur Ausmittlung der =Wahrheit= von derlei Angaben einzuleiten, und überhaupt erfahre, =dass= und =inwiefern das Gutachten=, selbst in den Augen des =Arztes=, nur eine =bedingte= Giltigkeit habe, denn dort, wo das Gutachten nicht mehr auf die eigene Wahrnehmung des Arztes oder auf Ergebnisse der medizinischen Wissenschaft, sondern auf den Inhalt eines =Aktenstückes= basirt ist, ist es nur =insofern= objektiv richtig, als in den fraglichen Aktenstücken die =Wahrheit= enthalten ist, es =zerfällt= von selbst, wenn die Unwahrheit des Inhaltes dieses Aktenstückes nachgewiesen würde. Ein solcher Fall wäre etwa, wenn ein Mensch aufgegriffen wird, an dessen Rücken sich runde Narben befinden. -- Er gibt an: es sind Narben von Geschwüren; kann nun der Arzt nicht mit Gewissheit sagen, und zwar aus der Betrachtung der =Form= der Narben etc., =dass es Geschwür=-Narben und nicht etwa =Schrottschuss=-Narben sind, so darf er sich durch den Umstand, dass der Aufgegriffene diese Narben für Geschwür-Narben =angegeben= hat, und diese Angabe ihm, dem Arzte, nicht unrichtig zu sein =scheint=, nicht etwa verleiten lassen, zu sagen: „N. N. =hat= Geschwür-Narben” -- denn er steht dann in Gefahr, selbst einer =Unwahrheit= im Parere überwiesen zu werden, wenn etwa in der Folge herauskäme, dass es =Schussnarben= sind, sondern das Parere muss lauten: „Der N. N. hat auf dem Rücken Narben, welche nach seiner Angabe Geschwür-Narben sind, welche Angaben nach dem Zustande, in welchem sich die Narben gegenwärtig befinden, auch richtig sein kann, es ist jedoch, nach der Form dieser Narben zu schliessen, allerdings die =Möglichkeit= vorhanden, dass es =Schrottschuss=-Narben sind.” §. 22. Ist es nothwendig, zur Aufklärung mancher Umstände den Inquisiten oder ein drittes, von den Gerichtspersonen verschiedenes Individuum zu befragen, so darf dies nie ohne =vorläufiges Einvernehmen= mit dem Untersuchungsrichter geschehen, damit nicht die eine oder andere Frage, indem sie jenem Dritten mittheilt, dass man Umstände weiss oder Umständen auf der Spur ist, welche noch von ihm als ein Geheimniss vermuthet werden, störend auf den Gang der Untersuchung einwirke. §. 23. Eine besondere Betrachtung muss noch jener Art von Befunden gewidmet werden, welche der Richter bedarf, =ohne dass der Gegenstand=, welcher eigentlich zu untersuchen nothwendig wäre, ganz oder zum Theile vorgelegt werden kann; z. B. bei dem Geständnisse eines Kindsmordes, wenn die Kindesleiche gar nicht mehr aufgefunden werden kann, oder etwa nur ein Theil derselben, z. B. der Kopf, allein vorhanden ist. Der kürzeste Weg, von der Sache wegzukommen, ist wohl jener, wenn anders der Richter kurzsichtig genug wäre, sich damit zu begnügen -- dass erklärt wird: „man könne über dasjenige, was man nicht gesehen hat, auch kein Gutachten abgeben;” der Richter kann und darf sich aber in den wenigsten Fällen mit einer solchen Aeusserung begnügen, denn abgesehen davon, dass zu einem solchen Ausspruche eben kein tiefes Ergründen der Geheimnisse der Natur gehört, ist es nicht einmal =richtig=, denn man kann =sehr oft= über eine Sache, die man nicht =selbst= gesehen, von welcher man jedoch eine sehr deutliche =Beschreibung= vor sich hat, sehr richtig und sehr gründlich urtheilen; es kommt daher nur darauf an, dass man Geschicklichkeit genug besitze, sich eine richtige Beschreibung zu =verschaffen=. Hier ist es daher die Pflicht des Arztes, vor Allem den =Akt= einzusehen, und daraus sich diejenigen Daten =zusammenzustellen=, welche einen Aufschluss entweder =wirklich= geben, oder, wenn sie gehörig =verfolgt werden=, einen Aufschluss zu geben =versprechen=, und im letzteren Falle deren Verfolgung vom Richter, allenfalls mit dem Antrage, =selbst bei dem diesfälligen Erhebungsakte=, z. B. dem Verhöre oder der Zeugenvernehmung, =zu interveniren=, =zu verlangen=, und so fortzufahren, bis wenigstens alles zu geschehen =Mögliche= gethan ist. Die richterlichen Fragen können in einem solchen Falle den Arzt =noch weniger= als in einem =andern=, wo das _Corpus delicti_ =vorliegt=, an der =selbstständigen= Auffassung der Sache, und daher an der Abgabe eines Gutachtens =hindern=, welches den Forderungen der positiven Gesetzgebung über das möglicher Weise in Frage stehende =Verbrechen= entspricht, da es sich leicht denken lässt, dass der Richter bei so =mangelhaften=, oft erst noch durch Veranlassung des =Arztes= zu =ergänzen= möglichen Prämissen nicht in der Lage sein kann, diese Fragen vollkommen =sachgemäss= und =erschöpfend= zu stellen. Ist aber auf die angedeutete Weise der Thatbestand =ergänzt=, so =muss= das Gutachten, so weit es nach den vorliegenden Daten möglich ist, auch =vollständig= abgegeben, und vor Allem dabei die Angabe nicht unterlassen werden, in wie weit der Inhalt der Aussage, auf welchen sich das Gutachten stützt, nach Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft =Glauben= verdient oder nicht. Es ist =möglich=, dass ungeachtet aller auf diese Weise erreichten Vollständigkeit des Gutachtens doch kein bestimmtes Resultat erzielt werden kann, und das Gutachten daher zweifelhaft bleiben muss, allein dann hat der Arzt seine Pflicht =erfüllt= und ist gegen alle nachtheiligen Folgen =gesichert=, welche =ohne= diese gewissenhafte Genauigkeit eintreten und darin bestehen könnten, dass bei Vorlage des Aktes an die medizinische Fakultät seine Ausarbeitung als eine =oberflächliche= erkannt werden würde. §. 24. Um das Gesagte deutlich zu machen, möge folgender Fall dienen, welcher sich erst vor einigen Monaten wirklich zugetragen hat. Eine Weibsperson hatte sich hochschwanger aus ihrer Heimat entfernt, und war nach einigen Wochen, ohne mehr schwanger zu sein, in ihre Heimat zurückgekehrt. Zu Verhaft gebracht, gestand sie, sie habe an einem bestimmten Orte ein =todtes= Kind geboren, und gab einmal an, sie habe des Kindes Leiche ins =Wasser= geworfen, ein anderesmal, sie habe sie an einem =Zaune liegen= gelassen. Auch über den Akt der Geburt differirten ihre Aussagen, indem sie einmal angab, sie habe in einem =Stalle= neben den Pferden, das andere Mal, sie habe in einer =kalten Kammer= (im November) geboren. Die Fragen, auf die es ankam, waren nunmehr: _a_) hat sie geboren? _b_) ist es richtig, dass das Kind todt zur Welt kam? _c_) ist es nicht anzunehmen, dass sie es umgebracht oder aus Mangel an nöthigem Beistande habe umkommen lassen? Ueber die erste Frage konnte bei dem bereits verstrichenen Zeitraum und bei dem Umstande, dass die Inquisitin früher schon einmal geboren hatte, keine Gewissheit erlangt werden, da übrigens die Inquisitin die behauptete Schwangerschaft nicht läugnete und dieselbe von glaubwürdigen Personen bemerkt worden war, so war dieser Mangel minder erheblich. Ueber das Zweite lag die bestimmte Abrede der Inquisitin vor, es musste also der Gang der Untersuchung =dahin= geleitet werden, irgend einen =für= oder =gegen= ihre Angabe streitenden Grund zu finden. Zu diesem Ende wurde ausser der Untersuchung der =Person= der Inquisitin, nach welcher dieselbe ganz normal gebaut war, auf Veranlassung des intervenirenden Arztes (Herrn k. k. Bezirksarztes Dr. N. zu Hofgastein), sehr zweckmässig ihr =Gesundheitszustand= während ihrer letzten =Schwangerschaft= sowohl, als während ihrer ersten Schwangerschaft, nach welchem sie erhobenermassen ein todtes Kind geboren hatte, erforscht, und sie über den Verlauf der Geburt selbst umständlich verhört. Es ergab sich: dass sie einmal auf den Bauch gestossen wurde (im vierten Monate), eben so die ersten Monate am Blutflusse gelitten, und auch sonst Anfälle von heftigen Krämpfen gehabt habe, die Geburt aber schnell und ohne besondere heftige Schmerzen vor sich gegangen sei, so dass sie keinen Schmerzenslaut von sich gegeben habe, und daher auch nicht von den in der Nähe schlafenden Leuten gehört worden sei. Bei diesen Verhältnissen wurde nun von Seite des Herrn Bezirksarztes ganz sachgemäss erklärt, dass alle diese Umstände zwar =kein entscheidendes= Gutachten gestatten, dass aber bei dem Umstande, wo eine Frühgeburt =nicht= Statt hatte, -- die Inquisitin behauptete im Gegentheile 10 Monate und 9 Tage schwanger gewesen zu sein -- auch =kein= positiver Grund vorhanden ist, aus welchem die Angabe, dass das Kind schon =vor= der Geburt gestorben gewesen sei, für =wahr= gehalten werden müsse, dass aber bei den vorausgegangenen nachtheiligen Einflüssen zu vermuthen sei, dass das Kind klein und schwächlich war, daher es denkbar ist, dass, wenn die Geburt in der Kammer vor sich ging, sie der Wöchnerin keinen so grossen Schmerz verursacht habe, dass sie zur Ausstossung von Schmerzenstönen, wodurch die in der Nebenkammer schlafenden =Leute= wären aufmerksam gemacht worden, gedrungen gewesen sei, dass es daher ebenso denkbar ist, dass das Kind =während= oder =nach= der Geburt an der eigenen Schwächlichkeit gestorben sei, dass aber im Falle sie in einem =Stalle= geboren, die dort herrschenden mephytischen =Dünste= die Entwicklung der Respirationsorgane gehindert und ehe die Mutter es gewahrte, dem Leben ein Ende gemacht haben können; -- dass endlich die Entbindung in der kalten Kammer, wenn das Kind nicht unbedeckt liegen blieb, keinen lebensverkürzenden Einfluss könne gehabt haben, und daher nicht als ein den Tod herbeiführender Mangel an Beistand könne betrachtet werden. Ueber die behauptete Dauer der Schwangerschaft über 10 Monate erklärte der Herr Bezirksarzt, dass diese Angabe allerdings in Zweifel gezogen werden müsse, wenn sie aber wahr wäre, so würde sie eine Anomalie vermuthen lassen, welche wirklich dafür spreche, dass das Kind todt zur Welt gekommen sein könnte, während bei dem wahrscheinlichen normalen Zeitverlaufe, kein =positiver= Grund für den Tod =vor= der Geburt, jedoch auch kein Grund vorhanden sei, die Unmöglichkeit, dass das Kind schon todt zur Welt gekommen sei, zu behaupten. Alle diese Angaben wären ohne genaue Durchgehung der Akten und die Statt gefundene zweckmässige Auffassung =unmöglich= gewesen, und das Kriminalgericht war nur dadurch, dass wenigstens der kompetente Ausspruch, es sei keineswegs ein Grund vorhanden, das Kind für =todtgeboren= annehmen zu =müssen=, vorlag, in Gemässheit der übrigen gegen die Inquisitin streitenden Gründe (ihre widersprechenden Aussagen, sonstigen schlechten Leumund u. s. w.) in die Lage gesetzt, die Kriminaluntersuchung gegen sie =einzuleiten=, welches ohne diesen, nur durch die von Seite des einschreitenden Arztes Statt gefundene umsichtige Erwägung der Aktenlage möglich gewesenen Ausspruch nicht hätte geschehen können[11]. [11] Der §. 264 des I. Th. St. G. B. lautet: „Eine nähere rechtliche Anzeige in Ansehung eines Kindesmordes ist die Zusammentreffung folgender Umstände: dass nebst einer auffallenden gähen Veränderung am Leibe, das Kind nicht erscheint, und bei einer durch diese Merkmale veranlassten Besichtigung, sich die Gewissheit einer vor Kurzem vorgegangenen Geburt entdeckt.” §. 25. Wird endlich ein Gutachten über einen bestimmten Gegenstand verlangt, dessen Natur und Beschaffenheit nicht =von selbst= andeutet, =was= man von demselben von Seite des Gerichts zu wissen verlangt, so ist es wohl in der Ordnung, dass das Gericht =angebe=, welche =Art von Auskunft= es bedürfe, z. B. ob es wahr ist, dass ein aufgefundener Körper, z. B. Rhabarber, eine Arznei sei. Sollte jedoch das Gericht es =unterlassen= haben, sich bestimmt hierüber auszudrücken, und ergibt sich nicht schon aus den übrigen dem Arzte bekannten Erhebungen der Zweck einer solchen Mittheilung, so ist es wohl der natürlichste Weg, dass der Arzt =an das Gericht= die Frage stellt, =was es eigentlich wissen will=. Ein Fall der ersten Art wäre, wenn etwa das Gericht nach Statt gefundener Sektion eines durch Messerstiche getödteten Menschen einen blutigen Stock mit der Bemerkung übersendet hätte, dass dieser Stock eben jetzt in dem Lokale, wo der Mord Statt hatte, aufgefunden worden sei. Die Erklärung des Arztes dürfte nun nicht etwa dahin lauten, es sei wahrscheinlich, dass das am Stocke befindliche Blut von dem Ermordeten herrühre, oder dass, wie es wirklich in einem solchen gedruckten Gutachten zu lesen ist: der Stock wahrscheinlich =Zeuge= der That gewesen sei[12], sondern er müsste die Frage beantworten, ob an der =Leiche Spuren= vorhanden seien, welche von der Anwendung =dieses Stockes= zeigen. -- Das Gutachten darf sich aber auch im Falle, als das Gericht sich =ausgesprochen= hat, =nur dann= auf die Beantwortung der richterlichen =Frage beschränken=, wenn der Arzt nach Massgabe der ihm bekannt gewordenen Umstände findet, dass durch die Beantwortung die volle Bedeutung des Gegenstandes =erschöpft= ist, findet er dieses =nicht=, so muss er dasjenige =beisetzen=, wovon er vermuthet, dass es für die gerichtliche Untersuchung von Einfluss sein kann, wäre z. B. in dem Falle einer Arsenik-Vergiftung ein =Mörser= mit der Frage mitgetheilt worden, ob der darin befindliche Körper =Arsenik= sei, und der Arzt fände, dass es zwar Arsenik sei, aber etwa =gelber= Arsenik, während die Vergiftung mit =weissem= Arsenik geschah, so wäre es =nicht= hinreichend zu sagen, es =ist= Arsenik, sondern es müsste ausdrücklich gesagt werden, es ist Arsenik, =jedoch eine andere Gattung= als derjenige, welcher im Magen vorgefunden wurde, weil diese Angabe von grosser Bedeutung für die Untersuchung werden kann. [12] Man möge doch niemals unterlassen zu bedenken, dass jedes Wort seinen =eigenen= Sinn habe, und dass man in gerichtlichen Akten nicht figürlich sprechen darf. IV. Ueber den Einfluss des Richters auf die ärztliche Untersuchung und die Abgabe des Gutachtens. §. 26. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich von selbst die Beantwortung der Frage, wie weit der =richterliche= Einfluss bei Abgabe eines Gutachtens gehen dürfe. Die Frage ist jedoch besonders im gegenwärtigen Zeitpunkte, wo so vieles für gerichtliche Medizin, insbesondere in der Art geschieht, dass von Seite der zum Richteramte sich bildenden Rechtskundigen =eigene gerichtlich medizinische Studien gemacht werden=, viel zu wichtig, um nicht eine besondere Besprechung zu bedürfen. Es wurde in der That schon im Ernste die Frage aufgeworfen, ob es gut oder übel sei, dass der Richter medizinische Kenntnisse habe, und diese Frage bald bejahend, bald verneinend beantwortet. -- Gegen die Bejahung lässt sich allerdings sagen, dass der Richter seine =Privatansicht= durchaus nicht in die Wagschale legen dürfe. Hat aber der Richter =medizinische Kenntnisse=, so hat er auch nothwendig eine =Privatmeinung= über die =medizinische Bedeutung= eines Falles, er kann also in die Lage kommen, in dem Falle, wo die Meinung der Kunstverständigen =gegen= seine Ansicht ist, zwischen =seiner= Ansicht und jener der =Kunstverständigen= eine =Wahl= treffen zu müssen, und da nicht leicht jemand =seine= Ueberzeugung gegen die eines =Andern= aufgibt, so kann ein solches Wissen schädlich auf die objektive Richtigkeit seines Urtheils wirken, besonders wenn seine Ansicht =falsch=, jene der Kunstverständigen aber die =richtige= wäre. Eben so kann man für die Behauptung anführen, dass der Richter, welcher medizinische Kenntnisse besitzt, sehr leicht veranlasst werden kann, bei der Erhebung dasjenige herauszustellen, was eben in =seinem= Gesichtskreise liegt, und dasjenige, welches darin =nicht= gelegen ist, oder ihm =unbedeutend= scheint, =unberücksichtigt= zu lassen, welches bei mangelhaften Kenntnissen sehr leicht Irrthümer und Lücken in der Erhebung herbeiführen kann. Beide Einwürfe kommen mir jedoch nicht sehr grundhältig vor, da sie viel zu =viel= beweisen. Was nämlich vom =medizinischen= Wissen des Richters gilt, gilt überhaupt von =jedem= Wissen desselben; es würde daher, wenn dieser Satz wahr wäre, folgen, dass der Richter in seinem Gewissen verpflichtet sei, sich jedes Wissens mit Ausnahme jenes der Gesetze zu enthalten! -- denn überall =können= ihm Fälle vorkommen, wo =sein= Wissen mit irgend einer Ansicht von Kunstverständigen kollidirt. Nun möchte man wohl fragen, ob man es im Ernste für möglich halte, dass Jemand die Gesetze =praktisch= anwende, wenn er nicht in die Natur der möglichen Fälle eingeht. Ein solcher Richter wäre beiläufig wie ein Geometer, der nur mit Wasserwage und Masskette zu nivelliren verstände, aber gar kein =Augenmass= hätte. Dies ist nun wohl ein undenkbares Wesen, -- eben so wenig kann man sich aber einen seinem Berufe entsprechenden Richter denken, welcher, wenn er ein =Gesetz=, besonders aber ein =Strafgesetz= anzuwenden hat, nicht von dem Aktentische aufsähe, wenn der Gegenstand, um den es sich handelt, vor ihm liegt, um sich zu überzeugen, ob denn dasjenige, was im Akte steht, nach dem Zeugnisse seiner eigenen Sinne auch wirklich =vorhanden=, und nicht etwa =anders= beschaffen sei, als die Akten besagen. Was das Augenmass für Jeden ist, welcher über eine =Entfernung= zu urtheilen hat, ist das =eigene= praktische =Wissen= für Jeden, welcher über ein Verhältniss einer Thatsache zum Gesetze zu urtheilen hat; man wird weniger durch eine falsche Berechnung einer Entfernung getäuscht, wenn man =neben= der geometrischen Berechnung noch das Augenmass anwendet. -- Ebenso geht es dem Richter, wenn er sein, durch sie erworbenes Wissen geschärftes Beobachtungsvermögen anwendend, seine Beobachtung mit jener der Aerzte vergleicht, -- er wird sie nicht minder giltig =finden=, wenn sie richtig ist, und er wird dadurch wesentlich beitragen, den Irrthum zu =entdecken=, wenn sie =unrichtig= war, und wenn er, wie er es in seiner ämtlichen Stellung =gar nicht anders kann=, keinen =anderen= Gebrauch von seinem Wissen macht, als dass er dort, wo ihm ein Zweifel gegen das ärztliche Gutachten aufstösst, die =Behebung= dieses Zweifels =verlangt=, so ist in der That nicht einzusehen, welcher Nachtheil hieraus für die Gerichtspflege entstehen solle. Eben so gewiss ist es aber, dass es für einen Richter, welcher viel mit gerichtlich medizinischen Geschäften zu thun hat, rein =unmöglich= ist, nicht unwillkürlich einige Kenntnisse dieser Art anzunehmen. Wer daher von einem =praktisch geübten= Richter im Ernst verlangt, er dürfe nicht wissen, wo der Magen oder die Milz liegt, oder dass nach einer Gehirnerschütterung ein Extravasat sich bilden könne, oder dass es eine tödtliche Verletzung sei, wenn etwa Jemanden der Kopf abgeschnitten wird, fordert geradezu etwas =Unmögliches=. Da somit eine =gänzliche= Unwissenheit in medizinischen Sachen bei dem Richter unter die =Unmöglichkeiten= gehört, ein unvollkommenes, und noch mehr ein =falsches= Wissen aber unter allen =denkbaren= Fällen =schädlicher= ist, als ein gänzliches =Nichtwissen=, weil es immerhin zu =ungegründeten= Zweifeln Anlass gibt, so kann man das Bestreben der neueren Zeit, dass auch Rechtskundige sich gründliche und umfassende medizinische Kenntnisse zu erwerben suchen, gewiss nur =loben=, da es in manchen Fällen dahin führen kann, dass ein Irrthum, wo nicht in der Sache, doch in dem Ausdrucke, welcher doch gewiss nicht unmöglich ist, bemerkt, und ohne Nachtheil für die Rechtspflege berichtiget wird. §. 27. Diese Ansicht der Sache darf uns aber nicht abhalten, auch die Schattenseite, welche diese Studien in Praxi haben können, zu beleuchten, sie liegt nämlich darin, dass mancher Inquirent dadurch in Versuchung geräth, entweder den Arzt =nicht= zu rufen, wo er =hingehört=, oder mit dem herbeigerufenen Arzte, wenn dieser mit ihm verschiedener Meinung ist, sich in einen =medizinischen Disput= einzulassen, welcher, wenn beide Theile etwas lebhaften Temperaments sind, sehr leicht in eine andere Art des Streites übergeht, in jedem Falle aber sehr =unnütz= ist, oder endlich, wenn er sich einem etwa noch minder seiner Sache gewachsenen, oder einem charakterschwachen Arzte oder Chirurgen gegenüber befindet, diesen zu einer Ansicht bestimmen kann, nach welcher er, wo nicht =gegen= seine Ueberzeugung, doch aber =ohne sich wirklich eine Ueberzeugung gebildet zu haben=, in die richterliche Ansicht, aus übelverstandener Deferenz, einstimmt. Dies =kann= geschehen; es muss sich daher jeder angehende Richter, welcher medizinische Studien beginnt, zum unverbrüchlichen Grundsatze machen, Alles zu =vermeiden=, was zu einem oder dem andern der bemerkten Uebelstände führen könne. Er muss daher seine gewonnenen medizinischen Kenntnisse dahin anwenden, um 1. bei jedem Falle, wo ihm seine gemachten Studien die Möglichkeit erscheinen lassen, dass die Sache medizinische Kenntnisse erfordere, sogleich den Arzt beizuziehen, =damit= nicht etwas, welches erhoben werden soll, unerhoben, oder, was dasselbe ist, auf eine =incompetente= Art erhoben bleibe, denn ob der Richter über die medizinische Eigenschaft =richtig= urtheilt, ist für einen Dritten nur dann gewiss, wenn =auch der Arzt= hiermit =übereinstimmt=. Er wird 2. dort, wo der Arzt ein nach seiner Meinung irriges Urtheil abgibt, vor Allem darauf sehen, ob auch alle Umstände, welche er, der Richter, für erheblich hält, vom Arzte =berücksichtigt= wurden, und wo dies nicht der Fall ist, deren Berücksichtigung =verlangen=, welches ohne allen =Streit= durch Aufstellung =passender= Fragen, zu deren =zweckmässiger= Stellung ihm gerade seine =medizinischen Kenntnisse= vorzüglich behilflich sein werden, geschehen kann und muss; er wird ferner auf gleiche Weise bemüht sein, zu entdecken, ob der Arzt nicht Umstände berücksichtigt und darauf sein Gutachten gegründet habe, welche ihm, dem Richter, =entgangen= sind, sonach aber darauf hinwirken, dass diese Umstände auch im Befunde gehörig =hervorgehoben= werden, ein Verfahren, zu dessen =zweckmässiger= Einleitung ebenfalls medizinische Kenntnisse von sehr =wesentlichem Nutzen= sein werden. Sollte er sich demungeachtet mit der Ansicht des Arztes nicht vereinigen können, so wird er seine Bedenken mit Hilfe der erworbenen Kenntnisse =schriftlich= ausdrücken und hierüber Aufklärung verlangen, und erfolgt auch dann noch keine ihm genügende Aeusserung, das Gutachten der =medizinischen Fakultät= einzuholen wissen. Befindet er sich jedoch 3. einem minder Bewanderten oder des Ausdruckes minder mächtigen Kunstverständigen gegenüber, so wird er mit Hilfenahme seiner medizinischen Kenntnisse dahin wirken, dass dieser nichts =übersieht=, und ihn entweder durch =mündliche= Bemerkungen oder durch passend gestellte Fragen schriftlich auf das zu beachten Nöthige =aufmerksam= machen, vorzugsweise aber darauf sehen, dass der Kunstverständige sich =nicht= durch etwa früher erhobene Umstände, als Zeugenaussagen u. dgl. =irre= machen lasse, sich an die objektiven Ergebnisse der Erhebung zu halten; dort aber, wo er gewahrt, dass der Arzt nur aus mangelhafter Bekanntschaft mit der =rechtlichen= Bedeutung seiner =Ausdrücke= einen =unpassenden= wählt, einem solchen Anstande dadurch begegnen, dass er den Kunstverständigen aufmerksam macht, worin das Unpassende liege und wie es heissen sollte[13]. Gewähren ihm aber seine erworbenen Kenntnisse die Ueberzeugung, dass die etwa zufällig in Abwesenheit des ordentlichen Kreis- und Bezirksarztes beigezogene Sanitätsperson in der That ihrer Aufgabe =nicht= gewachsen ist, so wird er dadurch sich in die Lage gesetzt finden, noch bei Zeiten dem Uebel zu begegnen, welches bei einem zu einer solchen Amtshandlung nicht befähigten Kunstverständigen zu besorgen stünde. [13] Mir selbst begegnete es einmal bei der Sektion eines Mannes, der sich durch einen Pistolenschuss durch das Gehirn entleibt hatte, dass die beiden beigezogenen Landchirurgen, nachdem sie ihren Befund, aus welchem wirklich eine bedeutende Anomalie in den Gebilden hervorgegangen war, sehr sachgemäss abgegeben hatten, ihr Gutachten dahin abzugeben im Begriffe standen: „es erhellt, dass der Mensch an den Folgen des Wahnsinnes gestorben sei.” -- Dies war nun offenbar nur ein verfehlter =Ausdruck=, der über meine mündliche Erinnerung sogleich dahin berichtiget wurde: „Es erhellt, dass der Tod eine Folge des Eindringens der Kugel in das kleine Gehirn war, und dass der Verstorbene sich in dem Zustande der Geisteszerrüttung befunden habe.” Wäre auf meine mündliche Bemerkung diese Berichtigung nicht erfolgt, so wäre eine Frage nothwendig gewesen, die ungefähr so hätte lauten müssen: „Erhellt nicht vielmehr, dass der Tod” etc., wie das später angegebene Gutachten lautet. Schlussbemerkung. §. 28. Im Allgemeinen kann es einem Arzte, welcher sich dem =Staatsdienste= widmet, nie genug anempfohlen werden, sich mit den Gesetzen, zu deren Anwendung er mitzuwirken berufen ist, vertraut zu machen. Es ist dies nicht nur ein =Vortheil= für das Gericht, mit welchem er eben zu thun hat, sondern eine wesentliche Pflicht =seines= ihm vom Staate verliehenen =Amtes=, von welcher ihn =nichts= dispensiren kann, denn Jeder, welcher ein Amt übernimmt, ist verpflichtet, sich in =jeder= Beziehung zur entsprechendsten Ausübung desselben zu qualifiziren. Der Umstand, dass er keine juridischen Studien gemacht hat, enthebt ihn =keineswegs= der Verbindlichkeit, sich diejenigen Gesetze eigen zu machen, deren Nichtkenntniss einen =Nachtheil= in seiner ämtlichen Leistung herbeiführen könnte. So wenig sich daher der angestellte Arzt entschlagen kann, diejenigen Verordnungen zu kennen und sich darnach zu richten, welche vorschreiben, wie die =Ausweise= bei Epidemien, bei Impfungen u. dgl. zu machen sind, obwohl auch über diese Verordnungen keine besonderen Vorlesungen gehalten werden, so wenig darf der Arzt die Mühe scheuen, die auf sein Fach Bezug nehmenden Justizgesetze zu =studiren=, ein Studium, ohne welches ihm wahrscheinlich, ungeachtet aller Bemühungen des Richters, mündlich oder schriftlich auf die Verfassung eines entsprechenden Gutachtens hinzuwirken, =nicht= gelingen wird, den Ansprüchen, welche der Staat mit Recht an ihn stellt, zu =genügen=, denn es ist dem Richter nicht =möglich=, dem intervenirenden Arzte in dem vorkommenden Falle sogleich =alle= jene Begriffe zu geben, welche nur die Frucht eines zwar weder schwierigen noch weitläufigen, aber doch eines =solchen= Studiums sind, welches man sich aber auch nicht ohne eigenes ernstliches und selbstthätiges =Mitwirken= erwerben kann, da dessen Frucht eine doch nicht ganz unbedeutende Zahl Begriffe sind, deren klare Auffassung man sich unmöglich nur so im Vorbeigehen aneignet, welche aber noch weniger ohne eigenes Studium zu der zum Zwecke der Amtshandlung unumgänglichen Klarheit gebracht werden können. =Nur= das Studium der =Gesetze= kann aber zu dieser Klarheit führen, das Lesen von gerichtlichen =Gutachten= allein, ohne das vorausgegangene Studium, wird nie =vollkommen= zu diesem Ziele führen, denn je =sachgemässer= ein Gutachten ist, um so mehr hat es das =Ansehen=, als hätte es =gar nicht anders gegeben werden können=; der Gerichtsarzt, welcher daher dadurch zu der Ansicht verleitet würde, er dürfe sich bei einem vorkommenden Falle nur ein in einem ähnlichen Falle abgegebenes Gutachten aufschlagen und diesem =nachschreiben=, steht in Gefahr, auf eine sehr unangenehme Weise daran erinnert zu werden, dass der Satz: _duo quum faciunt idem non semper est idem_, =keine= Ausnahme leide. Ein Ausdruck, der in dem als Muster dienenden Gutachten sehr an seinem Platze ist, ist oft ganz =verkehrt=, und gibt zu sehr nachtheiligen =Missverständnissen= Anlass, wenn er in einem andern Gutachten angebracht wird, denn ein Umstand, welcher in dem als Muster dienenden Befunde =nicht= erwähnt ist, weil er nicht vorhanden war, oder welcher durch sein Vorhandensein den Ausdruck =veranlasste=, in dem vorliegenden Falle aber nicht vorhanden ist, macht oft eine ganz verschiedene Wendung des Ausdruckes nothwendig. Weit entfernt, durch die gegenwärtige Schrift etwas anderes erzwecken zu wollen, als meine verehrten Leser auf den innigen Zusammenhang zwischen der positiven Gesetzgebung und der gerichtlichen Arzneikunde aufmerksam zu machen, glaube ich daher der Rechtspflege einen Dienst zu erweisen, indem ich dem verehrten Leser durch einige praktische Abhandlungen den innigen Zusammenhang beider Wissenschaften anschaulich zu machen bestrebt war, um dadurch zur richtigen Auffassung der dem Arzte obliegenden selbstständigen Aufgabe zu führen. Die dargestellten Fälle haben daher nicht im Mindesten den Zweck, in irgend einer Beziehung als Formularien zu dienen, denn ein solches Beginnen ist nach meiner Ansicht eine Satyre auf die Wissenschaft; wo ich mir aber -- wie bei den Fällen des Raufhandels und bei ein paar Fällen des Kindesmordes und der Vergiftung -- solche Formularien aufzustellen erlaubte, geschah es nur darum, um bestimmt auszudrücken, welche Merkmale =nicht übersehen werden dürfen=, wenn das Gutachten seinem Zwecke entsprechen soll, nicht aber um einer sachgemässen, selbstständigen Auffassung der objektiven Erscheinung hemmend entgegenzutreten. Seiner Bestimmung nach zerfällt übrigens das gegenwärtige Werk in zwei Abtheilungen, wovon die =erste= diejenigen Grundsätze darstellt, welche bei Erhebung von Gemüthszuständen in Bezug auf Verbrechen in rechtlicher Beziehung beobachtet werden müssen, die =zweite= Abtheilung aber diejenigen Grundsätze entwickelt, welche bei der Erhebung einzelner, die gerichtliche Arzneiwissenschaft berührender Verhältnisse in gerichtlich-medizinischer Beziehung zu beobachten nothwendig sind. Das Erste ist Gegenstand des ersten, das Zweite Gegenstand des zweiten Theils, und ich glaube nur die Bemerkung beifügen zu müssen, dass der verehrte Leser von diesem Werke um so mehr Nutzen zu erwarten hat, je geläufiger ihm die bestehenden Gesetze sind; den Mangel an eigenem Studium dieser Art vermag dieses Buch so wenig, als irgend ein Buch in der Welt, zu ersetzen; die Mittel zu diesem Studium enthält mein in der Vorrede erwähntes „Handbuch der gerichtsarzneilichen Wissenschaft.” I. Abtheilung. Ueber die gerichtlich-medizinische Erhebung von Gemüthszuständen. Willst Du die Andern versteh'n, blick' in Dein eigenes Herz. _Schiller._ Ueber die gerichtlich-medizinische Erhebung von Gemüthszuständen. Einleitung. §. 1. Die gerichtliche Erhebung des Irrsinnes ist ohne Zuziehung ärztlicher Personen nicht möglich. -- Dieser Satz bedarf keines Beweises, da man darüber längst einig ist. -- Zweifelhaft kann es aber sein, =wie weit= die Kompetenz des =Richters= und jene des =Arztes= dabei zu gehen habe. Um nun hierüber zu einer entscheidenden Ansicht zu gelangen, muss man sich vor Allem über die Bedeutung gewisser Vorbegriffe vereinigen, welche sich sowohl durch den =Zweck= der Erhebung, als auch durch die =Natur der Sache= darstellen, und eben aus dem Grunde, weil sie =sowohl= für den =Arzt=, als für den =Richter= mehr oder weniger wahrnehmbar sind, die =Basis= zu bilden geeignet erscheinen, aus welcher sich sowohl die gegenseitige =Stellung=, als die Art und Weise, =wie= die Einschreitung des einen oder des andern Theiles zu geschehen habe, und =wie weit= jeder Theil hierin zu gehen berechtigt und verpflichtet sei, begründen lässt. Um diese Grundlage weiterer Argumentation richtig zu bestimmen, erlaube ich mir auf folgende Verhältnisse aufmerksam zu machen. §. 2. Es gibt keine Wissenschaft, welche nicht in einigen ihrer Grundprinzipien auf die Erfahrungen des gemeinen Lebens gegründet wäre, selbst die Astronomie oder die höhere Mathematik macht hievon keine Ausnahme; so lässt es sich nicht läugnen, dass die praktische Kenntniss und Anschauung der im Einmaleins enthaltenen Sätze eben so gut die Grundlage der Resultate astronomischer Berechnungen ist, als sie einer gewöhnlichen Küchenrechnung als Grundlage dienen wird. Diejenigen Resultate, welche sich daher lediglich durch die Kenntnisse des Einmaleins beurtheilen lassen, sind nun eben darum eben so dem mit den Regeln der Astronomie ganz =unbekannten= Menschen, als dem Mathematiker oder Astronomen in Bezug auf ihre =Richtigkeit= zu beurtheilen möglich. Der Unterschied zwischen der =wissenschaftlichen= und =nicht wissenschaftlichen= Beurteilung einer Sache liegt daher nicht darin, dass der nicht wissenschaftlich Gebildete nicht in einzelnen Fällen eben so =sicher= dasselbe Resultat erreichen kann, als der wissenschaftlich Gebildete, sondern die Ueberlegenheit des wissenschaftlich Gebildeten über den nicht wissenschaftlich Gebildeten wird sich vielmehr =dadurch= kundgeben, dass der wissenschaftlich Gebildete durch die im Wege des Studiums erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten einen =schärferen Blick= besitzt, als der nicht Gebildete, und dass er daher auch =mehr= Eigenschaften in der Sache entdecken wird, als der Andere; ferner darin, dass er gegen einen möglichen, durch Unrichtigkeit in der =Beobachtung=, oder durch unrichtige Anwendung von =Prämissen= in der durch diese Beobachtung erhaltenen Schlussfolge =eintretenden= Irrthum =mehr geschützt= ist, als der Erstere. -- Die Wissenschaft ist für die Richtigkeit des Resultates der angestellten Beobachtungen dasjenige, was das =Fernglas= für den Beobachter ist, man braucht das Fernglas nicht =nur=, um Gegenstände zu =entdecken=, welche ausser dem Bereiche des Auges sind, sondern man sieht auch dann durch ein Fernglas, wenn man den Gegenstand schon mit freiem Auge =erkannt= hat, und man nur wissen will, ob man nicht etwa von einer =Täuschung= befangen ist, oder sonst etwas an dem Gegenstande vorhanden sei, was man mit freiem Auge nicht gewahren konnte. =In jedem Falle= kann jedoch, wie bereits in dem ersten Aufsatze dieses Werkes nachgewiesen wurde, einem Urtheile, es mag nun auf einer wissenschaftlich angestellten Forschung beruhen oder nicht, nur dann eine =strafrechtliche= Folge gegeben werden, wenn über die =objektive Richtigkeit= desselben die =rechtliche Gewissheit= vorhanden ist. Was nun die medizinische Wissenschaft betrifft, so lässt sich von derselben noch weniger, als von anderen Wissenschaften behaupten, dass sie in =allen= ihren Zweigen und Ergebnissen dem Laien =ganz fremd= sei, sondern es muss als bekannt angenommen werden, dass Manches, welches dem Arzte durch gewisse Lehrvorträge eröffnet wird, dem Laien eben so gut und eben so sicher bekannt ist. Jeder Mensch weiss, und zwar Derjenige, welcher etwa einige Stunden lang bei heftigem Winde auf einer sehr staubenden Strasse gehen musste, gewiss mit =eben solcher Zuverlässigkeit=, als nur irgend ein Arzt es wissen kann, dass =Staub= den =Augen= sehr unangenehm und schädlich ist. Da nun jeder denkende Mensch auch in der Lage ist, durch Anstellung von Vergleichungen u. s. w. sich gewisse Regeln zu abstrahiren, welche, sofern die Erfahrungen, auf welchen sie beruhen, richtig sind, ebenfalls richtig sein werden, so lässt sich nicht läugnen, dass jeder Mensch, besonders wenn er selbst schon krank war oder andere Kranke zu besorgen hatte, nicht nur ein gegründetes Interesse an derlei Erfahrungen nehmen, sondern auch dahin kommen werde, seine eigene Pathologie und seine eigene _materia medica_ über manche Gegenstände zu bilden, an welchen auch der wirkliche Arzt nicht Alles falsch und nicht Alles mangelhaft finden würde. §. 3. Was von der medizinischen Wissenschaft im Verhältnisse zum Nichtarzt im Allgemeinen gilt, leidet seine volle Anwendung auch auf die Beurtheilung von =Seelenzuständen=. So wie es nämlich offenbar =zu viel= gesagt wäre, =nur= ein Arzt könne in allen Fällen einen Gesunden von einem Kranken unterscheiden, so gibt es auch Fälle, in welchen jeder Laie sich mit Gewissheit überzeugt hält, dieser oder jener Mensch sei ein =Narr=, oder er sei =vernünftig=. Zeigt mancher Narr sich auf der Gasse, so lauft der Gassenpöbel hinterd'rein, und würde man fragen, so würden sie als Kennzeichen angeben: weil er konfus spricht und handelt, sein Blick verwirrt ist, und dergleichen Merkmale, welche als charakteristische Kennzeichen anzugeben auch ein Arzt kein Bedenken tragen würde. Wenn es daher als eine ausgemachte Sache zu betrachten kommt, dass die gerichtliche Erhebung des Irrsinns nicht =ohne= Arzt Statt finden dürfe, so kann und darf dies nicht so viel sagen, als es könne und dürfe von dem Richter nicht vorausgesetzt werden, dass er im Stande sei, einen =Narren= von einem vernünftigen Menschen zu =unterscheiden=, sondern der Zweck dieser Beiziehung kann nur darin liegen: 1. in =zweifelhaften= Fällen durch Anwendung von wissenschaftlichen Kenntnissen, welche dem =Richter mangeln=, über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des Wahnsinnes Gewissheit zu erhalten; 2. sich zu versichern, ob auch die Beobachtungen und Ansichten des Richters die Probe einer =wissenschaftlichen= Forschung bestehen, und ob nicht 3. durch die nach wissenschaftlichen Prinzipien angestellten Forschungen noch Erscheinungen beobachtet werden, welche dem Richter =entgangen= und von irgend =einem Einflusse= auf die Untersuchung und Entscheidung über das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des Irrsinnes sein können. §. 4. Hieraus ergibt sich nun im Allgemeinen, dass dort, wo es sich um Erhebung des Wahnsinnes handelt, der Richter weder berechtigt noch verpflichtet sei, =gegen= das Zeugniss seiner eigenen Beobachtung nach dem Ausspruche der Aerzte Jemanden als wahnsinnig oder als vernünftig anzunehmen, sondern dass, wo ihm ein Zweifel =gegen die von den Aerzten ausgesprochene Ansicht= aufstösst, er vor Allem von ihnen verlangen und erwarten müsse, dass sie diesen Zweifel lösen, d. h. den Irrthum, welcher diesem Zweifel zu Grunde liegt, nachweisen, denn so lange irgend ein =Zweifel= gegen den Ausspruch der Aerzte besteht, muss angenommen werden, dass irgend ein =Missverständniss= obwaltet, und ein =Missverständniss= darf wohl nicht die Grundlage einer richterlichen Entscheidung sein. Damit ist nun wohl nicht gesagt, dass die Aerzte auch die Pflicht haben, in jedem Falle den Richter, d. i. die =Person= des Richters zu überzeugen, sondern die =Person= des Richters muss ganz ausser dem Spiele bleiben, und die Aeusserung des Arztes darf nicht um eine Sylbe anders lauten, wenn ein anerkannter geistreicher Mann das Richteramt ausübt, als wenn nach der Ueberzeugung des Arztes dieses nicht der Fall ist; sondern der Arzt hat seine Pflicht vollkommen =erfüllt=, wenn er die Thatsachen oder die Axiomen, welche ihm seine Wissenschaft an die Hand gibt, in einer =klaren= Weise =darstellt= und sowohl seine Meinung überhaupt, als dasjenige, welches er zur =Berichtigung= der vom Richter etwa aufgeworfenen =Bedenken= anzuführen für nöthig erachtet, erörtert, und mit =logisch-richtigen= Schlussfolgen hierauf seine =Widerlegung= oder =Berichtigung= begründet. Der Richter selbst kann aber dasjenige, welches den Grundsätzen der Wissenschaft gemäss entwickelt ist, nur insofern zweifelhaft finden, als er Gründe hat, anzunehmen, dass entweder dasjenige, welches der Arzt ihm als einen =Grundsatz der Wissenschaft= dargestellt hat, =kein= Grundsatz der Wissenschaft sei, d. h. insofern er Gründe hat, anzunehmen, dass der Arzt, sei es nun wegen nicht hinlänglicher praktischer Uebung oder aus einem =andern= Grunde, nicht hinlänglich tief seine Wissenschaft =aufgefasst= habe, oder dass der Arzt =_in facto_= nicht hinreichend klar sei. In beiden Voraussetzungen ist der Richter, wo sich Gründe dazu darbieten, nicht nur =berechtigt=, sondern auch =verpflichtet=, die Behebung seiner Bedenken zu verlangen, denn es wäre wohl eine nicht zu rechtfertigende Deferenz für die =Person= des Arztes, wenn auch in dem Falle, wo dieser einen =unrichtigen= Ausspruch gethan hat, auf den Grund =dieses= Ausspruches, =obwohl= er unrichtig ist, eine Strafe gegen einen Beschuldigten erkannt, oder sonst eine Ungerechtigkeit begangen werden sollte, und wenn in einem solchen Falle der Richter nicht berechtigt sein sollte, dort, wo er wirklich =Gründe= hat, den ärztlichen Ausspruch für =unrichtig= zu halten, die Beseitigung dieses Zweifels zu veranlassen. Um daher nicht schon Gesagtes zu wiederholen, wird sich auf dasjenige, welches in dem ersten Aufsatze dieser Schrift, §. 3 u. s. w., über die Verfassung gerichtlicher Gutachten gesagt wurde, bezogen, so wie überhaupt alles dort Angeführte auf die Begutachtung des Wahnsinnes in gerichtlichen Fällen überhaupt volle Anwendung leidet. §. 5. =Gemüthszustände= sind nun überhaupt solche aus der menschlichen Natur hervorgehende Zustände, zu deren Beurtheilung daher =Jeder= einen Schlüssel besitzt, welcher, gehörig benützt, =einem Jeden viele= Gemächer dieser wundervollen Welt aufschliesst; es ist dies der =Schlüssel=, von welchem _Schiller_ sagt: „Willst Du Dich selber erkennen, so sieh wie die Andern es treiben; Willst Du die Andern verstehen, blick' in Dein eigenes Herz.” Es ist der Weg der Selbstkenntniss und der Beobachtung Anderer, welcher zuverlässig =sehr weit= führt, auf welchem sehr =viele= Resultate gewonnen werden können, und =ohne= welchen alle Wissenschaften zusammen genommen, nie ein =entsprechendes= Resultat herbeiführen, ja man kann sagen, =ohne welchen= überhaupt =kein Verständniss menschlicher Zustände möglich ist=. Dieses Eingehen in das Innere menschlicher Zustände ist somit in allen Fällen, wo nicht besondere, auf das Vorhandensein einer ganz =abnormen= Stimmung deutende Umstände vorkommen, nicht nur ein Befugniss des Richters, sondern dessen unbedingte =Pflicht=, denn wo es sich um nichts weiter handelt, als die Motive einer That oder die Ausbrüche gewöhnlicher Leidenschaften zu erforschen, hat noch =Niemand= an der =Kompetenz des Richters= gezweifelt. Aber auch dort, wo die Gemüthsstimmung, welche eine That begleitet, eine =ungewöhnliche= genannt werden muss, lässt sich nicht =alle Kompetenz= des Richters in Abrede stellen, denn immer bleibt dem Richter das Urtheil über die =Zurechnungsfähigkeit= des =Menschen= in Bezug auf eine gewisse That überlassen, da er im =Strafverfahren= mindestens das Urtheil zu sprechen hat, ob die That aus =bösem Vorsatze= entsprungen ist, welches ohne tieferes Eingehen in die inneren Zustände nicht möglich ist; auch muss der Richter doch =so viel= von Gemüthszuständen verstehen, um beurtheilen zu können, =ob= und =wann= er eine ärztliche Untersuchung über einen Inquisiten =einleiten= soll und muss, und =dazu= gehört jedenfalls =einige Kenntniss= der Merkmale vorhandener Seelenstörungen. Man kann daher im Allgemeinen sagen, dem Richter =müsse= so viel Kompetenz des Urtheils über Gemüthszustände zugetraut werden, dass dort, wo es ihm gelingt, die That oder das Benehmen des Beschuldigten auf =rein menschliche Motive= zurückzuführen, er auch =nicht= verpflichtet sei, eine ärztliche Untersuchung des Geisteszustandes eines Inquisiten zu veranlassen; waltet aber ein =Zweifel= ob, ob auch die vom =Richter= gelieferte Nachweisung vollkommen =richtig= sei, oder stellt sich die Möglichkeit dar, dass irgend ein krankhafter oder sonst anomaler Zustand auf die Verübung der That eingewirkt haben könne, so ist es nicht mehr blos räthlich, sondern =absolut nothwendig=, dass die ärztliche Untersuchung eintrete, denn um den Einfluss eines solchen Zustandes auf einen bestimmten Akt der Thätigkeit eines Menschen zu beurtheilen, genügen nicht mehr die aus einer, wenn auch geläuterten =Lebensansicht= gewonnenen Resultate, sondern es gehören hierzu =spezielle Kenntnisse=, und zwar nicht =blos= über menschliche =Geisteszustände= überhaupt, sondern es gehört Alles dazu, wodurch der Beobachter in die Lage gesetzt wird, über =Krankheitszustände= zu urtheilen, also Anatomie, Physiologie und Pathologie überhaupt, und =spezielle Erfahrungen= über denjenigen Zustand der =Krankheit=, welche sich durch =Geistesverwirrung= ausspricht, eine Kenntniss, welche selbst nicht =jeder Arzt=, sondern nur Derjenige im hinreichenden Grade zu besitzen vermag, welcher derlei Zustände zum =besonderen= Gegenstande seines Studiums macht -- es ist also klar, dass solche Kenntnisse niemals bei dem =Richter= vorausgesetzt werden dürfen. Die =Stellung= des Arztes zum Richter ist jedoch auch in =diesem Falle= keine solche, wie jene eines =Dolmetschers=, welcher eine Urkunde übersetzt, welche in einer dem Richter ganz fremden Sprache geschrieben ist, denn es lässt sich nicht verkennen, dass der Richter =Vieles= von Demjenigen, wodurch sich der abnorme Zustand des Untersuchten charakterisirt, =nicht nur selbst wahrnehmen=, sondern, sofern die durch eigenes Nachdenken über die menschliche Natur und eigene Lebenserfahrung gewonnene Anschauung dazu hinreicht, Vieles auch =richtig auffassen werde=, welches zur richtigen Beurtheilung eines solchen Zustandes gehört. §. 6. Soll nun der Richter die =Ueberzeugung= erlangen, dass der Ausspruch des Arztes auch in solchen Beziehungen, welche dem Richter =fremd= sind, richtig sei, so muss er vorerst die Bemerkung machen können, dass der ihm =bekannte Theil= des in Frage stehenden Zustandes von dem Arzte richtig aufgefasst und beurtheilt worden sei. Damit nun die Darstellung des Arztes ihrem Zwecke entspreche, muss sie daher nicht nur auf richtigen und umfassend =medizinisch-wissenschaftlichen= Gründen beruhen, sondern sie muss sich auch den bei dem Richter vorhandenen, aus der praktischen Lebensanschauung gewonnenen Begriffen =anschliessen=, und zu diesem Zwecke ist es nothwendig, dass der Arzt eine genaue und =richtige Ansicht= von =jenen= Begriffen habe, welche bei dem Richter, welcher =keine= medizinischen, wohl aber =solche= Kenntnisse besitzt, die aus der praktischen Lebensanschauung entnommen werden, =vorhanden sein können= und vorhanden sein =sollen= (§§. 7 und 8 des vorigen Aufsatzes). Um den Arzt in Kenntniss zu setzen, wie weit die Einsicht des Richters in dieser Beziehung gehen könne und dürfe, scheint es nun zweckmässig, darzulegen, =welche= Ansichten eine blos auf =menschliche= Erfahrungen, mit =Ausschluss= eigentlicher medizinisch-wissenschaftlicher Studien gegründete Beobachtung zu geben vermag, eine Darstellung, welche zugleich den Vortheil gewährt, in ihren Ergebnissen als gemeinschaftliches Gut vom Richter und Arzte benützt werden zu können. I. Allgemeine Bemerkungen über das Verhältniss des Menschen zu anderen Geschöpfen der Aussenwelt. §. 7. Das Symptom, durch welches sich der Irrsinn für jeden Menschen, somit insbesondere für den Nichtarzt, =darstellt= und sich dadurch von andern Krankheitszuständen =unterscheidet=, ist eine Thätigkeit oder auch eine Unthätigkeit des Menschen, welche dessen =gewöhnlichem= Begehrungsvermögen im Verhältniss zu den von Aussen kommenden Anregungen =nicht entspricht=. Es ist =möglich= und wohl auch gewiss, dass die ärztliche Wissenschaft noch andere, und wohl auch =zuverlässigere= Kennzeichen auffindet, allein für den =Nichtarzt=, unter welche Klasse entschieden auch der =Richter= gehört, gibt es =keine andere Veranlassung=, bei einem Individuum den Irrsinn zu =vermuthen=, als das Vorhandensein =dieses Symptoms=, und es wird nur immer ein glücklicher =Zufall= sein, wenn das mit einem solchen, sich auf diese Art =nicht= aussprechenden, Zustande behaftete Individuum einem solchen Arzte begegnet, welcher =ohne= durch dieses Symptom aufmerksam gemacht worden zu sein, bei demselben das Vorhandensein des Irrsinnes zu =entdecken= vermag. Da jedoch kein anderes Merkmal sich dem =Nichtarzte= als wahrnehmbar darstellt, als die abnorme Thätigkeit des =Individuums= in der Aussenwelt, so muss in der gegenwärtigen Abhandlung gerade =dieses= Merkmal vorzugsweise berücksichtiget werden. §. 8. Nicht =jedes=, wenn auch sonst ganz widersinniges, =Verhalten= eines Menschen gegen seine Umgebung ist jedoch darum ein Beweis, und daher auch ein =Symptom= des Irrsinnes. Erziehung, Lebensweise, Launen, Vorurtheil bewirken, obwohl ihre Veranlassung in ganz reellen Einwirkungen ihrer Umgebung gelegen ist, oft eine solche Abweichung von dem Benehmen anderer Menschen, dass die dadurch herbeigeführten Handlungen gänzlich jenen eines Irrsinnigen =gleichen=, obwohl sie es in Wirklichkeit nicht =sind=. -- Zu solchen Erscheinungen gehören die Kontraste, welche die Sitten verschiedener Völker hervorbringen. Ein Beduinen-Araber würde die Frage nach dem Befinden seiner Frau Gemahlin für einen Schimpf halten, welcher nur mit dem Blute des Fragers und seiner Verwandten ausgewaschen werden könnte, während mancher Europäer in der Unterlassung dieser Frage nur einen Mangel an Theilnahme oder an Höflichkeit erblickt. Eben so gibt es Gemüthsstimmungen, welche an und für sich =nicht= unnatürlich, sondern im Gegentheile gerade das Produkt einer Thätigkeit des Geistes sind, die für den Menschen sehr =ehrenvoll= ist, dabei aber ihn zu äusseren Thätigkeiten veranlassen, welche für den Dritten, welcher von dem, welches in dem Innern des Erstern vorgeht, keine Ahnung hat, wie ein Produkt des Wahnsinnes erscheinen. -- So soll Ritter _Gluck_, als er auf freiem Felde den Furientanz zur „Iphigenia auf Tauris” komponirte, von einigen Bauern eingefangen und auf das Amthaus geführt worden sein, weil er während des Komponirens taktmässige Sprünge machte. Was =Laune= vermag, ist so ziemlich allgemein bekannt. Es ist dies der Zustand, in welchem den Menschen die Lust anwandelt, sich in dem Diorama seiner Phantasiegemälde einmal =wirklich= zu ergehen. Ich kannte persönlich einen jungen Mann, welcher, als ihm von seinen Eltern eine Parthie Kerzen geschickt wurden, die ihm zu seinen winterlichen Studien dienen sollten, nichts Eiligeres zu thun hatte, als die Läden zu schliessen und sich mit Verwendung des ganzen Vorrathes eine splendide Beleuchtung zu verschaffen. Der junge Mann war übrigens in seinem Fache ausgezeichnet, und nichts weniger als geisteszerrüttet. Die Regel bleibt jedoch immer, dass der Mensch dasjenige, welches er gethan hat oder thun werde, auch beschlossen habe oder beschliessen werde, dass er daher für alle ihm möglicher Weise erkennbaren Folgen seiner Handlungen verantwortlich, und wo ein Strafgesetz auf eine solche Folge eine Strafe setzt, auch strafbar bleibe. -- Hat ein Mensch keine Handlung begangen, welche in diese Kategorie gehört, so ist -- sein Geisteszustand mag wie immer beschaffen sein -- von einer strafrechtlichen Untersuchung und daher auch von keiner Erhebung des Irrsinnes im Wege des Strafverfahrens die Rede; erst wenn er eine solche Handlung begangen hat, tritt das Strafverfahren ein, und dieses wird zum Zwecke haben, zu erheben, ob er dasjenige, welches er =gethan=, auch beschlossen, oder aber aus =bösem Vorsatze= gehandelt habe. Obwohl nun die Rechtsverletzung, welche der Mensch begangen hat, schon an und für sich eine Irregulärität, nämlich eine Abweichung von den Regeln der Sittlichkeit oder des Rechtes ist, denen er als vernünftiger Mensch gehorchen soll, so wird hierdurch die Voraussetzung, dass ein Mensch aus bösem Vorsatze, und daher strafbar, gehandelt habe, nicht ausgeschlossen. Von der andern Seite lässt sich nicht verkennen, dass eine irreguläre Thätigkeit im Aeussern auch durch eine Irregulärität der =innern= Funktionen entstanden sein kann. Wo also diese Möglichkeit des Ursprunges einer äusseren irregulären Thätigkeit durch eine irreguläre innere Funktion nicht schon durch die richterliche Erfahrung sogleich von selbst =zerfällt=, muss das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein dieses letzten Umstandes =besonders= nachgewiesen werden. Es ist daher im Strafrechte gerade das Verhältniss zwischen der =inneren= zur =äusseren= Thätigkeit, welches durch die gerichtliche Erhebung =ausgemittelt=, und dadurch richtiggestellt werden muss, ob die in Frage stehende irreguläre äussere Thätigkeit =nur= durch die Irregulärität im =Innern= veranlasst sei, oder von welchem Einflusse die sonstigen nicht normalen inneren Thätigkeiten des Menschen darauf gewesen sind. Der Umstand, dass von Jemand wegen Störungen im Innern schädliche Handlungen zu =besorgen= sind, gehört nicht in das =Strafrecht=. §. 9. Um nun hier nicht irre zu gehen, und sich nicht durch eine Aufstellung verschiedener Begriffe Missverständnisse zu bereiten, muss man sich vor Allem klar machen, was man sich unter den =inneren Funktionen= eigentlich denke, denn wenn der eine etwa unter Vernunft dasjenige sich denkt, was der andere Verstand nennt u. s. w., so kann man unmöglich zurecht kommen. Ueberhaupt haben die Benennungen der Schule den Nachtheil, dass man sehr leicht verführt wird zu vergessen, dass sie eben nur =Benennungen=, und insofern nichts Reelles sind. -- Man spricht von Gedächtniss, Einbildungskraft etc., vergisst aber dabei, dass diese Eintheilung doch nur von gewissen wahrgenommenen Thätigkeiten =abstrahirt=, nicht aber durch =eigene= Wahrnehmungen in der Art gewonnen sind, als ob man die Funktion =wirklich= gesehen hätte. Bei der Unmöglichkeit, in die Tiefen des menschlichen Geistes, und überhaupt in das Innere der schaffenden Natur einzudringen, kann ein, blos aus der =Zusammenstellung von Definitionen= gewonnenes Urtheil eben so unrichtig sein, als wenn man von einer Maschine, welche in einem Kasten so verschlossen ist, dass man nur hie und da ein Kammrad, dort ein Zahnrad oder eine Schraube erblickt, während die bewegende Kraft unsichtbar bleibt, ihre Thätigkeiten nach Aussen in der Art so eintheilen wollte, dass man sagte, dies ist ein Produkt des Zahnrades, dies des Kammrades u. s. w. Es ist falsch, denn alles ist nur Produkt =der bewegenden Kraft=, =modifizirt= durch die Räder, die zunächst nach Aussen wirken, aber auch =diese= Wirkung nicht ohne Hilfe der =übrigen= Räder äussern würden. Die Funktion des Gedächtnisses setzt eben so jene der Einbildungskraft etc. voraus, als die Bewegung des =Stundenzeigers= bei einer Uhr das Rad voraussetzt, welches den Minutenzeiger treibt. -- Was ist aber eine Maschine, im Vergleiche mit dem Körper des Menschen, und was ist die Zusammensetzung einer Maschine im Vergleiche mit der Genesis und der Entwicklung der unbedeutendsten Pflanze, wie erst mit jener des Menschen! Definitionen sind in jeder Wissenschaft unentbehrlich, weil man ohne sie keine grössere Zahl von Erscheinungen übersehen kann, zu einem =Mehreren=, nämlich zu einer Benützung als etwas =Selbstständigen= sind sie in dem Masse =weniger= tauglich, als es sich um die =empirische= Anwendung handelt. Der Jurist kann und muss sich an Definitionen halten, denn er muss die Gerechtigkeit handhaben, d. h. sorgen, dass keine Ungerechtigkeit begangen wird. Eine Ungerechtigkeit ist aber bei bestehenden =positiven= Gesetzen =nur= dasjenige, welches gegen den =ausdrücklichen Inhalt der Gesetze verstösst=. Dem Richter ist daher das =Gesetz= die =Grundlage= seiner Wirksamkeit, und die Thatsachen sind das =Zufällige=, was ihn nur insofern berührt, als richtiggestellt werden kann, dass dieses =Zufällige= die Merkmale habe, welche sich unter das positive Gesetz subsummiren lassen. Ganz anders ist die Stellung des Arztes oder eines anderen eine praktische Wissenschaft Uebenden. -- Der =Arzt= behandelt nicht deswegen einen =Kranken= auf diese und keine andere Weise, weil ihn seine =Wissenschaft= zur Behandlung auffordert und ihm diese oder jene Behandlungsweise =vorschreibt=, sondern weil eine =Krankheit vorhanden=, und ihm keine =zweckmässigere= Art und Weise der Behandlung bekannt ist die Krankheit zu heilen, als jene, welche ihm die Wissenschaft lehrte. Hat ein Arzt durch gemachte Erfahrungen, oder sonst auf irgend eine Weise die Ueberzeugung erlangt, dass eine andere, als die von der Wissenschaft als die richtige gelehrte Behandlungsweise =zweckmässiger= sei, so wird er mit vollem Rechte diese =letztere= anwenden, und eben so wird er sich dadurch, dass etwa die in Behandlung stehende Krankheit alle Merkmale habe, welche etwa in der wissenschaftlichen Definition in Bezug auf eine gewisse Krankheitsform enthalten sind, nicht irre machen lassen, und seine Behandlungsart ganz anders einrichten, als es das Lehrbuch vorschreibt, wenn er sich von der Mangelhaftigkeit des Systems überzeugt hat. Der Arzt hat also kein =anderes= Gesetzbuch, als die =Natur=, in =dieser= muss er zu lesen verstehen, oder seine Bestimmung ist verfehlt, und da die Natur ihre Produktionen nach einem =unendlichen= Plane erzeugt, daher nicht nach =bestimmten Kategorien= arbeitet, so sind für den Arzt Definitionen nichts weiter als =gewisse Merkzeichen=, die er sich in das Buch der Natur einlegt, um zu wissen, =wie weit er gelesen hat=, die aber bei fortgesetztem Studium nothwendig auch ihre Bedeutung verlieren. Da nun Definitionen in dem medizinischen Studium überhaupt weder =vollständig=, noch von =besonderem Werthe= in der =Anwendung= sein werden, in dem Falle aber, wo es sich um die Anwendung medizinischer Erfahrungen auf =Gesetze=, somit gerade =auf Definitionen= handelt, sich doch die Nothwendigkeit ergibt, diese Erfahrungen in einer Art auszudrücken, womit dieselben mit den gesetzlichen Definitionen in =Verbindung= gebracht werden können, und diese Nothwendigkeit insbesondere dort, wo es sich um Beurtheilung des Irrsinns in gerichtlichen Fällen handelt, im hohen Grade vorhanden ist, so bleibt nichts übrig, als die Natur mit dem Bestreben zu betrachten, gewisse =Momente= zu erhaschen, welche sich mit einem solchen =Ausdrucke= wiedergeben lassen, dass darauf die =gesetzlichen= Definitionen entweder unmittelbar angewendet werden können, oder man doch durch Vermittlung dieser Momente zwischen den minder definirbaren Momenten der Naturproduktion, und den gesetzlichen Definitionen =Anhaltspunkte= zu gewinnen im Stande ist. §. 10. Wenn wir nun die uns umgebende Natur mit dem Bestreben betrachten, nach dem Verhältnisse der einzelnen Gegenstände zur Aussenwelt eine Eintheilung dieser Gegenstände zu treffen, so gewahren wir, zwar nicht im Allgemeinen scharf gesondert, aber doch im Vergleiche einzelner Gegenstände mit anderen, folgende Abstufungen: _a._ =Unorganische Körper.= Das Verhältniss, in welchem sich gewisse Körper zur Aussenwelt befinden, ist nämlich in der Art gestaltet, dass jede uns bemerkbare Einwirkung der Aussenwelt sich an denselben dadurch darstellt, dass sie die =Form= solcher Körper ganz oder zum Theile =vernichtet=. -- Z. B. aus einem Würfel werden zwei Polygone, oder aus einem Stück Eisen wird Eisenoker -- somit ist die vorige Form vernichtet. Diese Körper geben den Begriff der Materie, welche die alte Schule in vier Elemente theilte. Wo jedoch kein =Vernichten= der Form eintritt, dort gewahren wir auch =gar keine= Einwirkung durch die Aussenwelt. _b._ =Organische Wesen.= Die =Pflanzen=. Auch hier ist die Materie der Hauptbestandtheil, auch hier tritt bei vielen Eindrücken der Aussenwelt eine Vernichtung der Form, oder gar keine Spur eines Eindruckes ein, bei gewissen Eindrücken findet aber nur eine =Veränderung= der Form, =ohne= Aufhebung derselben Statt. Die Pflanze =wächst=, wenn sie begossen wird, sie hört aber, obwohl sie dadurch eine =Veränderung= in ihrer Form erleidet, nicht auf, dieselbe =Species= einer Pflanze zu bleiben, zu welcher sie früher gehörte. Hier ist daher nicht mehr ein blos passives =Zerstörtwerden= durch die Aussenwelt, sondern ein aktives =Reagiren=, wenigstens gegen gewisse Eindrücke bemerkbar, es ist eine =Veränderung durch Assimilirung= zu gewahren, die in der vorigen Klasse gänzlich mangelt. _c._ =Animalische Wesen.= Die Erscheinungen der beiden vorigen Gattungen sind vorhanden, ausserdem bewirken Eindrücke =gewisser= Gattung auch noch die besondere Erscheinung, dass durch den Eindruck eine Thätigkeit entsteht, welche wohl dem Verhältnisse entspricht, in welchem sich der Eindruck machende Gegenstand zu dem Individuum nach dessen eigenthümlicher Beschaffenheit befindet, ohne deswegen eine =unmittelbare= Folge des Eindruckes zu sein. -- Das vom Feuer beschädigte Thier verbrennt nicht, es =flieht= aber das Feuer. Es übt daher eine Thätigkeit, welche nicht aus der Berührung des Feuers =folgt=, sondern lediglich dem =Eindrucke= entspricht, welchen das Feuer auf dessen =Individualität= gemacht hat. Diese Verbindung zwischen Eindruck und Thätigkeit können wir daher nach dieser Wahrnehmung, und nach der Analogie unserer eigenen Erfahrungen an uns selber, nicht anders bezeichnen, als mit einem =Bewusstwerden= der, durch den äusseren Eindruck in dem Individuum hervorgebrachten =Veränderung=, mit einem Worte, durch das Eintreten der =Empfindung des Erregtseins=, d. h. einer durch einen äusseren Eindruck hervorgebrachten =Veränderung= in seinem =Gesammtleben=, es mag diese Veränderung nun wie z. B. ein Brandmahl Jedermann bemerklich sein, oder nur darin bestehen, dass irgend ein Glied desselben mehr, als es früher der Fall war, und auch nur eine Sekunde lang, erhitzt ist. Dies Vorhandensein einer Empfindung lässt daher =zwei= Momente unterscheiden, nämlich das =Erregtsein= des Individuums, und die =Vorstellung= des Erregtseins, d. i. das =Bewusstsein= der Nothwendigkeit, sich entweder dem Eindrucke =hinzugeben=, oder sich demselben zu =entziehen=, denn die Beobachtung lehrt uns, dass, wo ein Erregtsein =ohne= Vorstellung Statt findet, z. B. bei der ordnungsmässig vor sich gehenden Funktion des Athmens, des Verdauens etc., obgleich diese Funktion immer mit äusseren Eindrücken, z. B. mit dem Einwirken der Luft, mit den genossenen Nahrungsmitteln etc. in Verbindung steht, auch =keine= Empfindung davon da ist, und nur dann, wenn die Vorstellung einer Hemmung, oder einer besondern Befriedigung eintritt, diese Thätigkeit erst =empfunden= wird. Je grösser die Kapazität eines animalischen Wesens für Empfindungen ist, auf einer desto höheren Stufe in der Rangordnung der thierischen Wesen befindet sich dasselbe, oder richtiger zu sagen, wir gewahren bei Thieren, welche in ihrer Thätigkeit sich dadurch von dem Pflanzenleben =entfernen=, dass wir ihnen die Fähigkeit zuerkennen müssen, sich =mehr= nach Vorstellungen zu bestimmen, als andere, auch einen =feineren=, zur Aufnahme von Veränderungen durch äussere Eindrücke weit =empfänglicheren Organismus=, als bei anderen. Auf der untersten Stufe, z. B. bei Polypen, gewahren wir sehr =wenig= Organe, ihre Entwicklung und Erhaltung ist mehr =vegetativ= als selbstthätig. Eine Stufe höher treffen wir bei den =Insekten= entweder nur die Funktionen der Ernährung und der Fortpflanzung, oder die sogenannten =Kunsttriebe=, welche eigentlich nichts anderes sind als ein Entwickeln einer ganz =unbewussten=, und daher mehr =vegetativen= als =animalischen= Thätigkeit. Die =Raupe= spinnt sich ein, weil sie sich des animalischen Saftes nicht anders entledigen kann, dessen sie sich entledigen muss. -- An der =Biene= bleibt der Blüthenstaub, indem sie ihre Nahrung auf Blumen sucht, =ohne ihr Zuthun= kleben, sie ist an die Königin, wie =der Baum mit den Wurzeln an die Erde= gebunden, und geht, wenn die Königin stirbt, zu Grunde, =wie eine Pflanze=, deren Wurzel abgeschnitten ist, -- sie =muss= also, wie sie ihre Nahrung geholt hat, =zur Königin fliegen=, streift dort ihren Blüthenstaub =von selbst= ab, und gibt eben so =unwillkürlich= den Honigsaft von sich. -- Sie kriecht durch das noch weiche Wachs, und die =Form ihres Körpers= bildet die Form der Zelle. Aehnliches geschieht, obwohl mit einer geringeren Vollkommenheit, bei höheren Klassen der Thiere, z. B. bei Vögeln[14] bei dem Bau ihrer Neste, oder bei dem Biber, dem Dachse u. s. w.; nur bemerken wir dabei die sehr auffallende Erscheinung, dass die Kunsttriebe in dem Masse =abnehmen=, je vollkommener der Organismus ist; eine Erscheinung, welche zu der Ansicht berechtigt, welche ich mir eben auszusprechen erlaubte, dass die Thätigkeit, welche diese Kunsttriebe erzeugt, noch =unter= der Region der Empfindung, somit noch unter der Region der Vorstellung steht, und bei dem Thiere erst dann eine Empfindung, d. i. eine Vorstellung erzeugt, wenn sie gehemmt wird. [14] Es zeigt immer von einer mangelhaften und oberflächlichen Beobachtung, wenn man den Bau der Thiere gar zu wunderbar findet. -- Ja freilich: wenn =wir= mit unseren Händen ein =Vogelnest= bauen müssten, ging es uns übel, besonders wenn wir es zusammen=flechten= müssten. Ich habe selbst einmal in einem Gartenhause einem Paare zahmer Gimpeln zugesehen, wie sie ihr Nest bauten. -- Die erste Schwierigkeit war, -- nicht für die Vögel, sondern für mich, -- ihnen ein Materiale zu liefern, welches ihnen zusagte. Endlich fand ich ein solches in dem faserigen Gewebe, welches eine Kokusnuss umhüllte. -- Ich legte ihnen davon hinein, und sie trugen einen Haufen davon zusammen. Wie der Haufe grösser wurde, stellte sich das Weibchen in die Mitte, und drehte sich schnell herum. Die Fäden wirrten sich ineinander, in der Mitte war die bekannte Höhlung auf diese Art hergestellt, und das Nestchen vollkommen fertig gemacht. Die ganze Thätigkeit des Vogels war die allereinfachste von der Welt. -- Noch weniger Ueberlegung entwickeln aber die Bienen, es ist daher die Ansicht, nach welcher man den Bienen Sinn für Geometrie zuschreibt, beiläufig eben so richtig, als ob man Jemanden, dessen Gebiss so geformt ist, dass er in ein Butterbrod eine Ellipse oder eine Parabel beisst, einen =Geometer= nennen wollte. §. 11. So wie nun jede Empfindung ein =Verändertwerden= der Individualität des Geschöpfes nothwendig voraussetzt, so gewahren wir auch, dass mit der Einwirkung, welche diese Veränderung bewirkte, =nicht= auch die =Veränderung selbst= verschwindet, sondern dass wenigstens derjenige Theil dieser Veränderung, welcher in Hervorbringung einer =Vorstellung= bestand, bleibend ist, und zwar um so =mehr= bleibend, je =stärker= die Veränderung, d. i. die =Erregung= des Individuums war, und je =vollkommener der Organismus= des Thieres ist. Diese Erscheinung gibt sich dadurch kund, weil wir deutlich gewahren, dass das Thier bei wiederholtem Eintreten gewisser Momente, welche an und für sich noch keineswegs ein besonderes Erregtsein bedingen, aber einem gewissen Zustande des Erregtseins =vorangegangen= sind, schon eine solche Thätigkeit =anwendet=, wie sie dem, diesen Momenten erst =folgenden= Eindrucke entspricht. Der Hund lauft dem Gemache zu, wo gespeist wird, wenn er die Teller klingeln hört; er flieht, wenn sein Herr den Stock ergreift u. s. w.; es muss daher nothwendig die =Reproduktion= des früheren Eindruckes Statt finden, welcher dem nun vorhandenen gefolgt ist. -- Derlei Thätigkeiten sind nun wohl in =vielen= Fällen ganz =richtig= angebracht, und insofern lässt es sich sagen, dass das Thier den _nexus causalis_, d. i. die Folge gewisser Erscheinungen =richtig= aufgefasst habe. -- Es lässt sich aber auch nicht verkennen, dass das Thier auch bei Eindrücken, welche mit jenen, die einem bestimmten früheren Ereignisse vorangingen, nur =Aehnlichkeit= haben, zuweilen eine solche Thätigkeit äussert, welche jenem Ereignisse entspricht, obgleich diese Eindrücke keineswegs jenes Ereigniss wirklich bedingen; z. B. lauft der Hund, welcher durch den Schuss eines Gewehres erschreckt wurde, davon, wenn nur ein Stock in eine ähnliche Richtung wie ein Gewehr gebracht wird. Es folgt daher, dass das Thier seine Thätigkeit nur nach der Reproduktion des =früheren Eindruckes=, nicht nach der Auffassung des =Zusammenhanges= von zwei Begebenheiten, =als Ursache und Wirkung=, bestimme. Eben so finden wir aber auch, dass das Thier bei dem Wiedervorkommen mancher schon früher vorhanden gewesenen Eindrücke zuweilen =nicht= diejenige Thätigkeit äussert, welche dem nun kommenden Ereignisse entspricht, sondern bei einem Eindrucke entweder ganz unthätig bleibt, oder etwas beginnt, zu welchen das dem Eindrucke folgende Ereigniss =keine= Veranlassung gibt, woraus folgt, dass bei den Thieren sowohl ein =richtiges=, als ein dem objektiven Eindruck =nicht= entsprechendes, somit =unrichtiges= Reproduziren Statt finde. Da also diese Reproduktion sowohl eine =richtige= als eine =unrichtige=, d. h. eine dem Causalnexus, von welchem der gegenwärtige Moment das erste Glied ausmacht, zuweilen =entsprechende=, oder auch zuweilen =nicht= entsprechende sein kann, so folgt, dass zuweilen die vorausgegangenen Vorstellungen =gerade so reproduzirt= werden, =wie= sie vorausgegangen sind, zuweilen aber eine =Vermischung= dieser Vorstellungen Statt gehabt haben muss. Die =erste= Art der Reproduktionen =nennen wir= die Funktion des =Gedächtnisses=, die =zweite=, jene der =Einbildungskraft=, eine Unterscheidung, welche =für uns=, zum Behufe der Darstellung psychischer Funktionen, von entschiedenem Werthe ist, welche aber nicht =so weit= getrieben werden darf, dass man darunter =zwei verschiedene Funktionen= als vorhanden annimmt, denn =dazu= mangelt offenbar =jede= begründete =Erfahrung=. Der Umstand, dass wir jedoch auch in manchen Fällen, ungeachtet des wiederkehrenden, einem bestimmten vorhergegangenen Ereignisse entsprechenden Eindruckes, welcher eine Thätigkeit zur Folge hatte, =keine= den reproduzirten Vorstellungen entsprechende Thätigkeit entstehen sehen, berechtigt zu der Voraussetzung, dass in einem solchen Falle entweder =gar keine= Reproduktion vorhanden war, oder dass die wirklich vorhandene =zu schwach=, oder doch zu sehr mit =anderen= reproduzirten Vorstellungen =verbunden= war, um eine =bestimmte= Thätigkeit zu veranlassen, denn wir sehen die Thätigkeit =eintreten=, wie die jener Erregung vorhergegangenen Momente sich =vermehren=, woraus folgt, dass die Reproduktion in genauer Verbindung mit den äusseren Eindrücken stehe. Damit wir aber annehmen können, dass bei einem Geschöpfe ein Bestimmen der Thätigkeit nach einer Vorstellung möglich sei, muss nothwendig vorausgesetzt werden, dass dasselbe schon vermöge seiner =eigenthümlichen Beschaffenheit thätig=, d. h. so eingerichtet sei, dass sein eigenthümliches Wesen gewisse äussere Eindrücke =bedürfe=, andere aber =fliehe=, dort aber, wo diese Eindrücke grösstentheils =mangeln=, oder grösstentheils seiner Individualität entgegen sind, nothwendig in seiner Individualität =zerstört= werden müsse, eine Voraussetzung, welche die Erfahrung so unbedingt bestätigt, dass jede Nachweisung überflüssig scheint. Da nun viele dieser Eindrücke, deren das Thier nothwendig bedarf, von der Art sind, dass sie nothwendig =Empfindung=, und daher auch =Vorstellungen= erzeugen =müssen=, so lässt sich daher, in Bezug auf die animalischen Wesen als charakteristisches Merkmal zu dem Zwecke unserer Darstellung Folgendes aussprechen: Animalische Wesen unterscheiden sich von unorganischen und blos organischen Wesen dadurch, =dass die Thätigkeiten derselben, sofern sie durch äussere Eindrücke veranlasst sind, nur durch Empfindungen und die Reproduktion der mit den Empfindungen verbundenen Vorstellungen möglich erscheinen=, dass daher die Aeusserung der =Vorstellungsthätigkeit= ein =nothwendiges= Merkmal des Verkehres des animalischen Lebensprinzipes =mit der Aussenwelt= darstellt. So weit nun das animalische Lebensprinzip gewisse Eindrücke zu seiner individuellen Existenz =bedarf=, oder solche, zur Vermeidung der Vernichtung seiner individuellen Existenz =fliehen=, d. h. ihnen =widerstreben= muss, =nennen wir= diese Aeusserung =Trieb=, und in Bezug auf die verschiedenen einzelnen Aeusserungen =Triebe=, ohne jedoch auch mit dieser Benennung =eine besondere, für sich= bestehende =Funktion= des Thieres bezeichnen zu wollen, es lässt sich daher auch das charakteristische Merkmal des animalischen Lebens damit ausdrücken, dass das =Leben= des Thieres in einem =Bestimmen des Triebes= durch =Empfindungen=, d. i. durch =Vorstellungen= der durch äussere Eindrücke Statt findenden, oder Statt gefundenen Erregung bestehe. §. 12. Insoweit spricht sich der Unterschied zwischen Thier und Pflanze, besonders bei den =höheren= Gattungen, =klar= aus. Die einzelnen Gattungen der Thiere lassen unter einander wohl einen bedeutenden =Unterschied= in der =Menge= der vorhandenen Vorstellungen und in dem =Einflusse=, welche dieselben auf dessen Thätigkeit im Verhältnisse zu den Eindrücken der Aussenwelt, d. i. auf dessen Triebe nehmen, gewahren, so dass bei den minderen Rangordnungen die Triebe mehr =blind= wirken, und sich hierin deren Entwicklung mehr dem Entwicklungsgange der Pflanze nähert, die Eindrücke von Aussen auch bei niederern Stufen mehr den bei dem Pflanzenleben Statt findenden Assimilirungs-Prozessen gleichen, bei den höheren Gattungen aber ein blosses Assimiliren ohne Empfindung =seltener= wird, allein =weiter= lässt sich der Unterschied nicht mehr verfolgen, immer bleibt aber =dieses= Merkmal wesentlich, dass dort, wo eine Funktion =gehemmt= oder =befriedigt= wird, somit bei allen Aeusserungen der Lebensthätigkeit, Empfindungen =möglich= sind, welches bei der Pflanze =niemals= der Fall ist. Das Thier wird daher in =allen= Anregungen von Aussen, d. h. so oft es angeregt wird, immer als =animalisches=, niemals als blos =organisches= Wesen angeregt. Dagegen aber darf man nicht übersehen, dass bei dem Thiere jene Erscheinungen, welche schon in der frühesten Kindheit bei dem =Menschen= eintreten, wozu insbesondere die =Sprache=, und das Bestreben der Nachahmung nicht nur =fremder Thätigkeit=, sondern des =Erzeugens der Produkte fremder Thätigkeit= gehören, =mangeln=, und zwar die erste und letzte dieser Erscheinungen =gänzlich=, und auch die zweite derselben, nämlich das Nachmachen =fremder Thätigkeit=, ist nur bei sehr =wenig= Thieren, und auch bei diesen in einem sehr unvollkommenen Grade vorhanden. -- Das Kind, indem es sich hinsetzt, eine Feder ergreift und etwas auf dem Papier kritzelt -- wie es etwa den Vater schreiben gesehen hat, -- will nicht blos sich =so bewegen= wie der Vater, sondern es will dabei =schreiben=, kurz es sind bei dieser Nachahmung =Vorstellungen= thätig, von welchen bei dem Affen, welcher etwa das Auge an ein Fernrohr hält, =gar keine Spur= zu gewahren ist. Alle jene Aeusserungen der Thierwelt, wodurch, wie man behauptet hat, sich eine =wirkliche Intelligenz= kund gibt, sind an und für sich sehr =problematisch=, und erhalten ihre scheinbare Evidenz gewöhnlich erst durch die =mangelhafte Beobachtung=, und durch die absichtlichen oder unabsichtlichen Zugaben des Erzählers. Man darf nur nie vergessen, dass wenn das Thier keine Intelligenz besitzt, es auch durch die Afterprodukte der Intelligenz, =Vorurtheile=, =Irrthum= und dergleichen, nicht =gestört= wird. Die zwischen Eindruck und Trieb liegenden Vorstellungen sind viel =weniger zahlreich= und intensiv, es empfängt daher den Eindruck viel =reiner=, und reproduzirt seine Vorstellungen viel =richtiger= als der Mensch, daher die Möglichkeit eines Irrthums in Folge einer irrigen Reproduktion in viel geringerem Grade vorhanden ist, als bei dem Menschen, welcher, wie wir später darthun werden, weit =mehr= als dies bei den Thieren der Fall ist, durch =Vorstellungen= angeregt wird, welche mit seinem Triebe in =keiner= unmittelbaren Verbindung stehen. §. 13. _d._ =Vernünftig sinnliche= (animalische) =Wesen=. Der =Mensch=. Obgleich der Mensch mit dem Thiere das Merkmal gemein hat, dass auch bei ihm sich der sinnliche Eindruck zur =Vorstellung= gestaltet, und durch diese =Vermittlung= seine Thätigkeit anregt, so gewahren wir doch an ihm Erscheinungen, welche er mit =keinem= Thiere gemein hat. Diese sind die =Sprache=, die Bestimmung seiner Thätigkeit =nicht blos= nach seinen =Trieben=, sondern nach Produkten einer Kombinirung von Vorstellungen, d. i. nach =Begriffen=, endlich diejenigen Erscheinungen, welche wir unter dem Ausdrucke =Sittlichkeit= verstehen, nämlich als Funktionen betrachtet, =Gewissen=, =Willen= und (sittliches und religiöses) =Gefühl=, als äussere Thätigkeit betrachtet, sittliches und religiöses Handeln, =Moral= und =Religion=, und als allgemeine Anlage betrachtet, =Vernunft=. §. 14. Dass das Thier keine =Sprache=, d. i. nicht die Gabe besitzt, sich durch Zeichen, welche der Vorstellung entweder nur =in einzelnen Theilen= entsprechen, oder nur =konventionell= als derjenige Ausdruck angenommen sind, durch welchen =bestimmte Vorstellungen= oder bestimmte Begriffe angedeutet werden, verständlich zu machen, bedarf wohl keines Beweises. -- Das Thier drückt durch Laute höchstens die Empfindung aus, von welcher es im Augenblicke erregt wird, dort aber, wo es die menschliche Sprache zu verstehen =scheint=, sind ihm die Worte nichts weiter, als ein =Laut=, welcher das erste Glied eines ihm bekannten _nexus causalis_ darstellt. Wenn man dem Pudel zuruft: wie spricht der Hund! so bellt er nicht etwa =darum=, weil er die Frage =versteht=, sondern weil ihm bekannt wurde, dass wenn er =nicht= bellt, er Schläge bekommt, oder einen guten Bissen, =wenn= er bellte, und ihm dieser _nexus causalis_ nach und nach geläufig wurde. Ein Hühnerhund, welcher Rebhühner sieht, wedelt mit dem Schweife, weil es ihm so eingeprügelt wurde, und weil es überhaupt in =seiner Natur liegt=, zu wedeln, nicht als =Zeichen=. Dass der Gesang der Vögel ein ganz =unwillkürliches= Vonsichgeben von Tönen sei, ist längst anerkannt. §. 15. Was die Erscheinung betrifft, dass der Mensch nach =Begriffen= handelt, so ist sie eben so unbezweifelt richtig. Wir =nennen= nämlich =Begriffe= solche Kombinationen von Vorstellungen, in welchen dasjenige, welches ein Individuum mit dem andern =gemein= hat, festgehalten wird, die =Unterscheidungsmerkmale= aber verschwinden. Dass nun der Mensch wirklich nach solchen Vorstellungen der =Gattung handle=, denen unmittelbar keine reelle Erscheinung der Aussenwelt entspricht, ist eben so ungezweifelt wahr; -- denn wir sehen, dass der Mensch =urtheile=, d. i. durch Kombination mehrerer Vorstellungen eine ganz neue gewinnt und =schliesst=, d. i. aus mehreren Urtheilen wieder ein =neues= Urtheil über das Vorhandensein einer Thatsache in der Aussenwelt entwickelt. Wenn man nun gleich nicht absolut die Unmöglichkeit behaupten kann, dass das Thier nicht auch Gattungsbegriffe entwickeln, und durch deren Kombination auch ein gewisses Urtheilen und Schliessen ausüben könne, so sind =für= diese Möglichkeit doch so wenig und nur so zweifelhafte Erscheinungen vorhanden, dass man selbst hierin noch einen unendlichen Unterschied zwischen dem am vollkommensten organisirten Thiere und einem Kinde von etwa zwei Jahren, oder einem geistig höchst verwahrlosten Menschen zu bemerken im Stande ist, so dass man das Vermögen, =Begriffe= zu bilden, und =darnach seine Thätigkeit zu entwickeln=, immer noch als eine Eigenthümlichkeit der =menschlichen= Natur erklären muss. §. 16. Das neugeborne Kind zeigt weder =Sprache= noch =Begriffe= noch =Sittlichkeit=, sondern es ist ein blos =passives= Wesen, welches Eindrücke =empfängt=, und seine Lebensthätigkeit dadurch gewahren lässt, dass es bei erhaltenen Eindrücken, wenn sie der Individualität seines Lebens nicht entsprechen, Laute des =Schmerzes= von sich gibt. -- Bald aber steigert sich diese nur passive Thätigkeit zu einer =aktiven=, und wir =gewahren= nun =deutlich=, dass es nicht blos =vegetire=, sondern in die Reihe der animalischen Wesen gehöre. Die =Sprache= ist in dem Zustande, in welchem =wir= uns derzeit befinden, bereits ein =Gegebenes=, doch können wir aus der Art und Weise, wie Kinder sich entwickeln, wenigstens bis auf einen =gewissen= Grad, auf die Art und Weise schliessen, wie sich die Sprache überhaupt =entwickelt= habe, denn jedes Kind bildet sich wenigstens bei Gegenständen, welche ihm besonders auffallen, und bei welchen es die sprachübliche Bezeichnung nicht sogleich erfährt oder wieder vergisst, seine =eigene= Bezeichnungsweise. Es =ahmt= den Laut nach, den das Thier, was es sieht, von sich gibt, hält die Hände an den Kopf, wenn es z. B. einen Bock bezeichnen will u. s. w. Dies setzt nun als nothwendige Bedingung voraus, dass es bereits Begriffe, d. h. Merkmale aufgefasst habe, welche einer =Gattung=, z. B. der der Thiere, im Allgemeinen zukommen, und dass es durch diese Angabe des individuellen =Unterschiedes= das Individuum bezeichnen will. =Sprache= ist daher ohne Begriffsbildung =unmöglich=, so wie der =Ausdruck= derjenigen Vorstellung, welche wir =Begriffe= nennen, auf keine andere Art, als eben nur durch Sprache =möglich= ist, denn obwohl es nicht zweifelhaft sein kann, dass die Begriffsbildung früher vorhanden sein muss, als der Ausdruck durch Sprache Statt finden kann, so setzen sich doch beide zu ihrer Entwicklung nothwendig voraus, so dass es in der That nicht möglich ist, zu =unterscheiden=, welche von beiden Thätigkeiten sich früher =entwickle=, da ohne Sprache sich nur wenige Begriffe und diese nur sehr unvollkommen bilden können, wie wir dieses bei sehr =rohen= Völkern gewahren, und bei sehr =wenig= Begriffen die Sprache immer auf einer sehr geringen Entwicklungsstufe bleiben wird, wie wir dieses bei Menschen gewahren, welche einen ziemlichen Grad blödsinnig sind. §. 17. Was die =sittliche Anlage= betrifft, so wäre es wohl das Einfachste, sich auf die eigene Erfahrung eines jeden verehrten Lesers und auf das Zeugniss der Weltgeschichte zu berufen, welche Beispiele von sittlichen, d. i. solchen Handlungen in Menge liefert, welche sich nur durch die Voraussetzung dieser Anlagen des Menschen erklären lassen; allein diese Argumentation genügt nicht zu dem Zwecke dieses Aufsatzes, welcher die Aufgabe verfolgt, durch Anführung von solchen Thatsachen, welche Jedermann so nahe stehen, dass sie Jeden auch zur =unmittelbaren Anschauung= Desjenigen führen, was hier nachgewiesen werden soll, zu wenig, um dabei stehen bleiben zu können, ein richtiges Verständniss herbeizuführen. Weit näher als diese übrigens =unbezweifelte= Wahrheit liegt für den Zweck dieses Aufsatzes die Betrachtung, dass jeder Mensch, selbst der unsittlich Handelnde, selbst das kaum noch zum animalischen Leben recht erwachte Kind seine Thätigkeit in der Art entwickelt, dass man einerseits das Bestreben wahrnimmt, ohne =physische Nöthigung= seine Thätigkeit zu äussern, anderseits das Bestreben in seiner Thätigkeit gewahrt, =einer fremden Autorität zu folgen=. Der erste dieser Sätze bedarf keines Beweises, da es Jedermann bekannt ist, dass schon die kleinsten Kinder, und zwar diejenigen, welche viele geistige Anlagen haben, nicht am wenigsten =eigensinnig= sind; der zweite ist eben so bekannt, nur wird er nicht immer so klar =ausgesprochen=, er ist aber durchaus =wahr=, denn es ist bekannt, dass die sich entwickelnden Kinder den Worten ihrer Eltern =mehr= zutrauen, als ihren =eigenen Sinnen=, dass rohe oder schwachsinnige Leute eben so, gegen ihr eigenes Urtheil dem Willen anderer, welche eine gewisse Macht über sie ausüben, sich unterwerfen, und dass Leute von hellem Geiste nach =Grundsätzen handeln=; und was sind Grundsätze wohl anders, als die als wahr angenommenen Aussprüche einer =Autorität=, sei es nun die Autorität des =Lehrmeisters= oder die Autorität der =eigenen Erfahrung=, denn auch die Annahme, dass die Ergebnisse der eigenen Erfahrung =wahr=, d. h. der Objektivität der äusseren Erscheinungen entsprechend seien, setzt voraus, dass man diese Erfahrungen, und diejenige Funktion, welche daraus gewisse Folgerungen ableitet, als etwas =absolut Richtiges= genommen hat. Dieses Erkennen und Annehmen =einer Autorität= ist es daher, welches den Beweis liefert, dass der Mensch das =unabweisbare= Bedürfniss habe, ein =Drittes=, welches weder in seinen =eigenen Funktionen=, noch in den ihn umgebenden =Erscheinungen= liegt, als das eigentliche =Prinzip= anzunehmen, welches seine Thätigkeit zu =leiten= bestimmt ist, und jeder Bestimmung seiner Thätigkeit zu =widerstreben=, welche =nicht= von diesem =Prinzipe= ausgeht. Dieses Prinzip wirkt sonach in keiner Art =nöthigend= auf seine Thätigkeit, sondern der Mensch empfindet nur dann die seinem innersten Wesen entsprechenden Lebensgefühle, wenn er ohne allen Zwang seine Thätigkeit so äussert, wie es der =Autorität= entspricht, unter deren Einfluss er sich befindet. Hieraus folgt nun, dass =Freiheit=, d. i. die Entwicklung seiner Thätigkeit ohne physischen Zwang, und zugleich das =Bedürfniss=, einer =höheren Autorität= zu gehorchen, -- ein Bedürfniss, welchem in der höheren Entwicklung des Menschen die =Religion= entspricht, das eigentliche =Element= der =menschlichen= Thätigkeit sei, ein Element, welches in der =Thierwelt= auch nicht einmal dem =Grade= nach vorkommt, sondern eben darum, weil es =Begriffe und Sprache= nothwendig voraussetzt, bei der Thierwelt gänzlich =mangelt=, oder höchstens in einer Art von =Analogie= vorkommt, in welcher der Hund den Menschen folgt und seinem Winke gehorcht, weil er durch den Einfluss des menschlichen Organismus auf den hundischen =physisch genöthigt= ist, diesem Einflusse zu gehorchen. Es mag immerhin Fälle geben, wo der =eine= Mensch durch seinen überlegenen physischen und psychischen =Organismus= einen ähnlichen Einfluss auf =andere= Menschen ausübt, -- allein man übersehe dann auch nicht die andere Erscheinung, welche damit verbunden ist. Die Menschen werden ihm folgen, allein mit innerem =Widerstreben=, wie der Hund knurrend seinem Herrn folgt, wenn er ihn gegen seine Neigung ruft, denn sie fühlen, dass sie nicht =frei= sind, und werden ihre Freiheit wieder gewinnen, wenn die Uebermacht des Organismus, welcher sie leitete, gebrochen ist. Ganz anders stellt sich die psychische Erscheinung in dem Falle dar, wo der Mensch seine Thätigkeit demjenigen Prinzipe gemäss entwickelt, welches wir das =Sittliche= nennen. Hier mangelt jede =physische= Nöthigung, und daher ist auch die Erscheinung, dass Jemand mit =innerem Widerstreben= sittlich handelt, undenkbar. -- Es gibt Fälle, wo die sittliche Handlung mit dem herbsten physischen oder geistigen Schmerze verbunden ist, allein das Gefühl, das gegen sein =inneres= Streben Bestimmtwerden, ist mit jeder sittlichen Handlung =unvereinbar=, wohl aber =kann= das Gegentheil, dass man mit innerem =Widerstreben unsittlich= handelt, eintreten, und tritt auch häufig ein, wie manche Arten von Erfahrungen, insbesondere die gerichtlichen, zur Genüge lehren; denn Niemanden wird die Thatsache unbekannt sein, dass selten Jemand eine verbrecherische Laufbahn mit grossen Verbrechen =beginnt=, sondern die ersten bösen Handlungen sind meistens =minder= erheblich, oder wenn mit =grösseren= Verbrechen von einem Individuum =begonnen= wird, so sind meistens solche Umstände vorhanden, welche auf die Bestimmung desselben zu der verbrecherischen That einen mächtigen =sinnlichen= Einfluss, und daher wenigstens eine Art von physischer Nöthigung ausüben[15]. [15] Ein Fall dieser Art ereignete sich vor einigen Jahren, wo ein sonst unbescholtener Bursche eine Uhr stehlen wollte; er wurde dabei ertappt, und wusste sich im Augenblicke nicht anders zu helfen, als den Anderen todt zu schlagen; ein gewandter Dieb würde sich wahrscheinlich anders aus der Sache gezogen haben. §. 18. Wenn wir jedoch uns nicht verbergen können, dass das Unterwerfen der Thätigkeit unter eine, von dem handelnden Menschen unabhängige, Autorität, dem Menschen angeboren, und dieses Bedürfniss ein mit =allen seinen Thätigkeiten= innigst verbundener Theil seines Wesens ist, so können wir uns doch auch die Ueberzeugung verschaffen, dass es gar keine =äussere= Erscheinung gibt, welche einen solchen Einfluss ausübte, dass sich =alle= Menschen derselben unterwerfen =müssten=, oder dass es auch nur =dem einzelnen Menschen unmöglich= wäre, sich derselben zu entziehen. Dennoch aber lehrt uns sowohl der Blick in unser eigenes Leben, als in das Leben der anderen Menschen, dass es in demjenigen Prinzipe, welches wir als eine Autorität anerkennen, welche unbedingte Unterwerfung fordert, =einen= Vereinigungspunkt gebe, welcher in =jeder= Autorität, welcher wir freiwillig zu folgen uns =bleibend= entschliessen können, aufzufinden ist, dieser Vereinigungspunkt ist die Idee des =Sittlichen= -- und in der That kann eine Autorität nur dann bleibend, auf den Menschen im =Allgemeinen= nur insoferne einwirken, als sie die Idee des Sittlichen, d. i. einer höheren, in der physischen Welt nicht sich aussprechenden =Weltordnung= darstellt. Kein =Volk=, selbst kein =einzelner Mensch= ist ohne =alle= Religion, der einzelne Mensch kann =irreligiös handeln=, allein indem er es thut, fühlt er ein =Unbehagen=, das =Gewissen= regt sich, oder er =betäubt= sich, sei es nun durch physische =Genüsse=, =oder= durch das =Laster selbst=, ein Zustand, welchen man jedoch sehr irrig mit dem Ausdrucke bezeichnet, der Mensch sei zum =Thiere= herabgesunken, denn der Zustand des Thieres ist ein vollkommen =normaler= Zustand, jener des Menschen aber ist ein seinem eigenthümlichen Wesen vollkommen =entgegengesetzter=, somit nicht normaler Zustand, welcher mit einer am =Ende sichtbar= werdenden =Störung= seines Wesens enden muss, eine Folge, welche das Laster in mancherlei Gestalten, wie die Erfahrung lehrt, nicht selten begleitet, und sich dadurch kund gibt, dass die lange unterdrückte =Reue= endlich durchbricht, und =geistige Störungen= im Gefolge hat, oder dass die =physische= Natur der fortwährenden =Betäubung= endlich =unterliegt=, ohne dass dieses Unterliegen lediglich aus den physischen =Folgen= des Lasters immer erklärt werden kann. §. 19. So verschieden auch die Sitten und Lebensweisen der einzelnen Menschen und Völker sind, so stimmen doch alle darin =überein=, dass gewisse =Handlungen= des Menschen, sofern sie ein Ausdruck einer gewissen =Gesinnung= sind, =geachtet=, andere aber, eben weil sich eine =gewisse= Gesinnung darin ausspricht, =verachtet= werden, und zwar liegt die =verachtete= Gesinnung darin, dass der Mensch einen =augenblicklichen= Vortheil oder Nachtheil =höher= hält, oder doch zu =halten scheint=, als ein gewisses =Prinzip=, welches ihm =in diesem= Augenblicke wenigstens =keinen= Vortheil gewährt. Diese Ansicht liegt dem Begriffe der Ehre, so wie jenem der =Tugend= zu Grunde, nur in dem Prinzipe sind beide Begriffe verschieden, indem der Begriff von Ehre ein =äusseres= Verhalten in sich begreift, jenes der =Tugend= aber eine =innere= Stimmung ausdrückt, welcher kein äusserer Zustand geopfert werden darf. §. 20. In dem Zustande, in welchem =wir= leben, ist diejenige Form, in welcher wir die Sittlichkeit zu üben haben, so wie die Sprache, ein bereits =Gegebenes=, wir brauchen nicht mehr erst zu =erfinden=, wie wir unsere Thätigkeit zu äussern haben, damit sie auch sittlich sei, sondern Religion und Offenbarung entheben uns des Bestrebens, erst durch eigene Erfahrung darauf zu kommen, ob irgend eine Handlung sittlich sei oder nicht. Würde dieses glückliche Ereigniss für uns nicht vorhanden sein, so müsste wahrscheinlich jeder Mensch erst eine ungeheure Irrfahrt durch die Pfade des Lasters machen, ehe er dahin käme, zu wissen, was er eigentlich hätte thun sollen, und es bliebe dann mehr als zweifelhaft, ob das kurze menschliche Leben hinreichte, ihn aus dem Schlamme der Sinnlichkeit, in welchen er durch sein =unklares= Ringen nach einer seiner wahren Natur entsprechenden Thätigkeit versunken wäre, wieder zu erheben. Dieser Fall tritt aber glücklicher Weise für uns nicht ein, sondern jeder erhält wenigstens =einige= Begriffe von dem, was er als sittlich zu betrachten hat, bereits in =klaren Worten= ausgesprochen von anderen Menschen mitgetheilt. Ungeachtet dieses Umstandes können wir doch durch Beobachtung des kindlichen Alters uns eine ziemlich deutliche Anschauung von der Art und Weise verschaffen, wie die menschliche Natur die Anlage zur Sittlichkeit allmälig entwickle. Das Kind ist, wenn es diese Welt betritt, ein scheinbar blos passives Wesen. Erst allmälig zeigt es, besonders bei schmerzhaften Eindrücken, Empfindungen, welche, wie bei dem Thiere, reproduzirt werden, und, wie man aus manchen unzweideutigen Erscheinungen schliessen muss, bei demselben eine anfangs undeutliche, jedoch immer klarer werdende Auffassung des Causalnexus zur Folge haben. Das Kind, indem es einen äusseren Eindruck auffasst, kann ihn aber nicht anders als so auffassen, wie es ihm (dem Kinde) nach seiner Individualität, und daher nach der durch vorausgegangene Eindrücke bedingten Modifikation (Stimmung) seiner Lebensthätigkeit möglich ist, d. h. jeder Eindruck kann sich nur im Wege der Reproduktionsthätigkeit mit =jenen= Vorstellungen verbinden, welche bereits =vorhanden= waren. Die ersten Vorstellungen, welche das Kind nun erhält, sind jene der =eigenen Empfindung=; diese werden sich daher mit allen Eindrücken verbinden, welche es erfährt, es wird daher diese Art Vorstellungen auf alle Gegenstände der Aussenwelt zu übertragen sich genöthigt finden, wodurch bei dem Kinde jene Erscheinung bedingt wird, welche wir wirklich gewahren, nämlich, dass dem Kinde alles =lebt=, d. i. nach seiner Vorstellung eben so Empfindung hat, wie das Kind selbst, denn die erste Empfindung ist die des eigenen Lebens. Diese Erscheinung muss nun wohl auch bei dem =Thiere= eintreten, und tritt wohl auch ein, denn wir sehen, dass ein Hund einen Stock, an welchen er sich stösst, beisst, so wie das Kind den =Stuhl schlägt=, an dem es sich wehegethan hat; -- allein da der Organismus des Kindes zur Aufnahme =mehrerer= und =lebhafterer= Eindrücke geeignet, und dadurch eine weit umfassendere Reproduktion in der Vorstellungsthätigkeit bedingt ist, als beim Thiere, so tritt diese Erscheinung viel entschiedener hervor, als man dieses beim Thiere zu gewahren vermag. Hiedurch ist nun offenbar eine viel öftere und lebhaftere Aeusserung der sympathetischen Triebe bedingt. Dennoch kann es nicht fehlen, dass manche Eindrücke, z. B. jene, welche Zorn u. dgl. hervorbringen, von der Art sein werden, dass sie eine Anregung enthalten, =gegen= die sympathetischen Triebe zu handeln. -- Das Kind folgt diesem Eindrucke, und handelt wirklich =gegen= den sympathetischen Trieb, -- welcher dadurch auf einen Augenblick unterdrückt, sonach mit desto grösserer Stärke hervortritt; hiedurch wird nun das Kind jene Empfindung gewahren, welche mit der =Reue= beinahe identisch ist. Aehnliches findet sich nun wohl auch bei =Thieren=, allein bei dem Kinde tritt hier noch ein Moment hinzu, der bei dem Thiere fehlt: dasjenige, was es empfindet, wird ihm durch seine Eltern etc. klar gemacht, so dass es zu dem =Begriff= gelangt, dass es etwas gethan habe, was es nicht hätte thun sollen, und dass das hiedurch entstandene unangenehme Gefühl der Reue eine Folge dessen sei, weil es einem augenblicklichen Eindruck gegen ein in ihm sich äussernden Gefühl gefolgt ist. Von dieser Wahrnehmung ist allerdings noch ein unendlich weiter Schritt zur Auffassung des =sittlichen= Verhältnisses, denn kein einziges der, auf dem ihm bisher einzig nur möglichen Weg des sinnlichen Empfindens erlangten, Gefühle ist von der Art, dass es für sich allein zur Auffassung des Sittengesetzes führen könnte, allein hier kommt die bereits berührte Thatsache zu Hilfe, dass der Mensch das Bedürfniss fühlt, sich einer =Autorität= in seiner Thätigkeit zu unterwerfen. Dass seine Thätigkeit eine =freie= sei, erfährt das Kind bei der ersten Empfindung der =Reue=, denn es empfindet dabei, dass es ihm möglich gewesen wäre, einer anderen Vorstellung als jener zu folgen, zu welcher es derjenige äussere Eindruck, dem es sich hingab, bestimmt hat. -- Es wird aber diese Empfindung in einem noch =höheren= Grade gewahren, wenn es jener Autorität =entgegenhandelt=, welche es anzuerkennen sich gedrungen fühlt. Diese Autorität, nämlich jene der Eltern und Lehrer, wirkt nun auf dasselbe nicht blos als =unmittelbar= bestimmend, -- sondern vielfältig in der Art, dass dem Kinde gesagt wird: dies musst du thun, oder dies darfst du nicht thun, weil es überhaupt auch für =uns= (die Eltern) =selbst= geboten oder verboten ist. Diese Vorstellung einer solchen dritten, für das Kind =nicht= wahrnehmbaren Autorität wird nun zwar das Kind anfangs nicht besonders deutlich auffassen, es wird aber durch die Lehren und das Beispiel seiner Eltern u. s. w. angeregt werden, diese Vorstellung zu immer grösserer =Deutlichkeit= zu bringen, bis es endlich dahin gelangt, deren Richtigkeit durch seine eigene Erfahrung und sein eigenes Gefühl bestätigt zu finden, wo es dann in dasjenige Stadium der Entwicklung eingetreten erscheint, wo es als =selbstständig= handelndes sittliches Wesen betrachtet werden kann. Wie sich aber auch das Individuum in sittlicher Beziehung entwickle, so bleibt so viel ungezweifelt, dass es nie =Schöpfer= irgend einer Wirkung sein wird, sondern immer den Weg der =sinnlichen= Erregung insoweit nicht wird entbehren können, als einerseits ohne Trieb kein =Streben überhaupt=, und ohne =äusseren Gegenstand= auch keine =Entwicklung= des Triebes möglich ist. Wo daher irgend ein Trieb Befriedigung fordert, und sonst kein =anderer= Trieb und kein anderer =Gegenstand=, welcher das Streben des Menschen nach einer anderen Richtung sich zu äussern anregt, vorhanden ist, wird und muss der Mensch auch dieser Richtung =folgen=, -- indem er aber dieses thut, d. h. einer solchen Richtung sich hingibt, gehorcht er lediglich den Gesetzen seiner =sinnlichen= Natur, er handelt dabei =weder sittlich noch unsittlich=. Ein solches Verhältniss tritt z. B. dann ein, wenn sich ein Mensch schläfrig fühlt, und er keine Anregung hat wach zu bleiben. Jeder wird unter diesem Verhältnisse sich dem Schlafe hingeben. Je mehr jedoch die Vorstellungen des Menschen mit seinen Beziehungen zur Aussenwelt sich =vervielfältigen=, um so =seltener= wird er sich in der Lage befinden, gerade nur von =einem= Triebe angeregt zu werden, denn es werden dann verschiedene Anregungen entweder durch sinnliche Triebe, oder durch gewisse Komplexe von Vorstellungen erfolgen, wovon jedes eine verschiedene Thätigkeit verlangt; und insbesondere wird der Fall eintreten, dass dasjenige, welches seinem sinnlichen Triebe entspricht, eine andere Richtung von ihm fordert, als jene, welche diejenige Autorität verlangt, der er sich in seiner Thätigkeit unterwerfen zu sollen fühlt. Unter diesen Umständen tritt nun der Fall ein, wo er sich =entscheiden= muss, ob er seine Handlung nach einer für ihn höher stehenden =Autorität=, oder nach dem Streben seiner =Sinne= bestimmen soll. Hier fühlt er daher die Möglichkeit der =Selbstbestimmung=, und zwar die =Freiheit= der =Wahl=, ob er sich dem Zwange der =Sinnlichkeit unterwerfen= oder der höhern Autorität, welche =keinen Zwang= auf ihn ausübt, =gehorchen=, d. i. ob er seiner Freiheit =entsagen= oder davon Gebrauch machen wolle. -- Geschieht dies Letzte, so lohnt das Gefühl der behaupteten =Freiheit= seine Thätigkeit; geschieht das Erstere, so fühlt sein ganzes Wesen, dass er den vorherrschenden Trieb seines Wesens, jenen nach =Beibehaltung= seiner natürlichen =Freiheit=, =unterdrückt= habe. -- Er fühlt =Reue= und die Vorwürfe seines =Gewissens= darüber, dass er von seiner Freiheit der =höheren Autorität entsprechend=, seine Thätigkeit zu üben, keinen Gebrauch gemacht hat, d. h. dass er nicht das =Gute=, sondern das Entgegengesetzte davon, das Böse, =gewollt=, d. i. sich ohne unwiderstehliche Nöthigung mit =Willen= dem Einflusse seines sinnlichen Triebes gegen die Forderung jener Autorität hingegeben habe. Dies sind die Thatsachen, welche wir in Bezug auf die sittlichen Erscheinungen bemerken, und nach welchen man =verschiedene= Funktionen des Menschen, als: vorausgehendes und nachfolgendes =Gewissen=, den =Willen=, nämlich die Fähigkeit, sich nach Willkür zum Guten oder zum Bösen zu bestimmen, =unterschieden= hat. Gegen diese Abtheilungen lässt sich auch, insofern sie zur bessern Uebersicht des Ganzen dienen können, nichts erinnern, nur darf man nicht vergessen, dass die Natur des Menschen =keine= solchen Unterabtheilungen kennt, sondern dass alle diese Unterscheidungen nur Aeusserungen =eines und desselben Prinzipes=, nämlich des die menschliche Natur charakterisirenden =Triebes= nach (sittlicher) =Freiheit= im Verhältnisse zur Aussenwelt sind. Geht man jedoch von dieser Ansicht =ab=, und erkennt man diese Aeusserungen als =verschiedene Funktionen= an, so kommt man auf jene Begriffsverwirrungen, welchen man nicht selten in psychologischen Werken begegnet. Man findet da die Frage abgehandelt, ob der Mensch zum =Guten= oder zum =Bösen= seiner Natur nach geneigt sein könne, es ist von =Krankheiten= des Willens oder auch von einem =verkehrten= Willen die Rede, wodurch man deutlich an den Tag legt, dass man den =Willen=, d. i. die Fähigkeit, mit =Bewusstsein= seiner Freiheit frei zu =handeln= oder sich seiner Freiheit zu =begeben=, mit dem =Wollen=, d. i. mit dem Bestreben, einen bestimmten Gegenstand zu erreichen (=abgesehen= von der Sittlichkeit oder Unsittlichkeit dieses Bestrebens) verwechsle. So wenig es in meiner Absicht liegt, irgend Jemanden in seinen metaphysischen Ansichten zu nahe treten zu wollen, so kann ich doch nicht umhin, darauf aufmerksam zu machen, dass mindestens für die Rechtspflege bei Erhebung des Irrsinnes eine solche Begriffsverwirrung von grossem Nachtheile ist. Man spricht von =Verkehrtheit= des Willens bei manchen Menschen! Was soll dies wohl heissen? Etwa einen Willen, welcher das Böse beschliesst, weil es dem Menschen, welcher diesen verkehrten Willen hat, als gut erscheint? Ein solcher Mensch aber kann nur in einem Irrthume befangen sein, oder er müsste gegen seine sinnlichen Triebe handeln, nämlich sich =ohne irgend= eine Aussicht auf eine angenehme Empfindung Schmerz zufügen, blos weil dadurch etwas =Böses= entsteht. Wo hat noch Jemand dieser Art existirt? Es gibt Menschen, welche ihrer sinnlichen Kraft gewahr werden, wenn sie Böses thun, sich dieser Empfindung freuen und darum =Böses= thun. -- Dieses sind nun wohl allerdings sehr grosse Bösewichter, allein sie thun das Böse aus keinem andern Grunde, als aus jenem, welcher auch jeden Andern, welcher böse handeln will, zu einer solchen Richtung bestimmt, aus dem Grunde nämlich, weil sie die Verlockung, welche ihnen das Vergnügen gewährt, das sie sich aus ihren bösen Handlungen gewärtigen, höher schätzen, als die Aufforderung zum Guten. Soll es aber bedeuten, dass das moralische Gefühl bei ihnen so schwach sei, dass es, verbunden mit einem in ihrer sinnlichen Natur begründeten Hang zu gewissen als Verbrechen bezeichneten Handlungen[16], die Kraft der sittlichen Anlage überwiegt und daher ihr Wollen gegen die Sittlichkeit kehrt, so ist es sehr sonderbar, diesen Zustand mit dem Ausdrucke verkehrter =Wille= oder verkehrtes =Wollen= zu bezeichnen, denn dieses verkehrte Wollen ist dann die Wirkung ihrer physischen Anlage, und =diese=, nicht das verkehrte =Wollen=, ist die Grundursache ihrer Verbrechen. [16] Der Mensch kann einen Hang zu gewissen Handlungen haben, welcher so stark ist, dass er sie auch unter Umständen begeht, unter denen sie Verbrechen sind, nicht aber darum, =weil= sie Verbrechen sind, denn beinahe bei keiner Handlung ist das Materielle der That das Verbrecherische, sondern die Umstände, unter welchen sie begangen wird, machen die Handlung erst zum Verbrechen. In diesem Falle setzt aber der Ausdruck =verkehrter Wille= den Richter in Verlegenheit, ob er einen solchen Menschen auch für zurechnungsfähig halten soll, während in dem Falle, wo gesagt wird, der Mensch besitzt einen, seine Sittlichkeit weit überwiegenden Hang zu diesem Verbrechen, nichts weiter folgt als der Schluss: folglich muss man ihn =strafen=, damit er in dem =sinnlichen Uebel= der Strafe ein für ihn =näher= liegendes Motiv finde seinen Hang zu bezähmen, wenn sein Sittlichkeitsgefühl nicht hinreicht. Eine ähnliche Frage, ob der Mensch so von der Sünde besessen sein kann, dass er sündigen müsse, beantwortet sich, wenigstens in =rechtlicher= Beziehung, auf eine ähnliche Weise. Es kann sein, dass die Wiederholung der Sünde einen solchen Einfluss auf seine Thätigkeit habe, dass kein sittliches Gefühl ihn abhält, seinem sinnlichen Hange zu folgen; um so nothwendiger aber ist Strafe. -- Bei der Erziehung begegnen wir ja ganz ähnlichen Erscheinungen. -- Alles Zureden, ja oft selbst der augenblickliche wirkliche Vorsatz, sich eine gewisse üble Gewohnheit u. dgl. abzugewöhnen, beseitigen das Uebel oft nicht. Werden aber gewisse materielle Mittel mit einer gewissen Konsequenz angewendet, so erfolgt die gewünschte Wirkung oft schneller als man meint. Beinahe Dasselbe gilt von dem Ausdrucke =Krankheit des Willens=! Es kann Erscheinungen geben, welche entschieden dahin deuten, dass bei ihnen das Subjekt =ohne= Einfluss des Willens gehandelt habe. Dies beweist nun nichts mehr, als dass entweder überhaupt das Subjekt in einem seine Vorstellungsthätigkeit lähmenden Zustande, oder in einem solchen Zustande der Vorstellungsthätigkeit gehandelt hat, wodurch jede =andere= Vorstellung als jene, welche die That hervorrief, insbesondere aber jene, in welcher sich der Wille hätte thätig bezeigen können, ausgeschlossen war. -- Nun in diesem Falle lässt sich höchstens sagen, dass der Wille sich nicht äussern konnte, nicht aber, dass er sich krankhaft geäussert hat, oder selbst krank war! Krankheiten des Menschen aller Art können allerdings solche Erscheinungen hervorbringen, niemals aber sollte man sich verleiten lassen, von einer krankhaften =Funktion= zu sprechen, nicht einmal die =Funktion= der Verdauung kann krank sein, selbst nicht bei Demjenigen, der eben an einer Indigestion oder am Magenkrebs stirbt, denn die Funktion des Verdauens ist die =Abstraktion= derjenigen Thätigkeit des Körpers, wodurch verdaut wird. Es kann daher sein, dass der Mensch gar nicht oder doch viel zu wenig verdaut, allein =so weit= er die =Funktion= der Verdauung wirklich =übt=, ist es immer eine normale Funktion. Dass nun diese Bemerkung nicht blos eine Spitzfindigkeit sei, dürfte sich wenigstens, sofern es sich um eine juridische Anwendung solcher Ausdrücke handelt, aus dem vorher Gesagten mit ziemlicher Gewissheit ergeben. Noch muss hier einer psychologischen Erscheinung, wegen ihrer besondern Wichtigkeit für die rechtliche Zurechnung, ausdrücklich gedacht werden. Es ist dies nämlich der Umstand, dass eben aus dem Grunde, weil die Begriffe von Demjenigen, =welches in der Welt sittlich ist=, nicht blos, und zwar =grösstentheils nicht=, durch die Abstraktion des Individuums gewonnen, sondern ihm vielfältig =von Aussen gegeben= werden, diejenige Thatsache eintritt, von welcher es heisst, dass das Samenkorn auf nackten Felsen fällt. -- Der Mensch kann sich zur Zeit, als ihm gewisse Wahrheiten gelehrt werden, noch in einem solchen Zustande der unvollkommenen Entwicklung seiner Vorstellungsthätigkeit befinden, dass diese Lehren in ihm keine Vorstellung =finden=, an welche sie sich =anschliessen= können. In einem solchen Zustande kann es nun geschehen, dass der Mensch die =Worte= behält, in denen diese Lehren gegeben sind, dass aber dieselben isolirt in seiner Vorstellungsthätigkeit liegen bleiben, und, wenn er auch für andere sittliche Verhältnisse nicht ohne Sinn ist, sich auch in solchen Beziehungen sittlich beträgt, er doch gegen den =Inhalt= dieser Lehren handelt, obwohl sich nicht läugnen lässt, dass die =Worte=, in denen sie abgefasst waren, seinem Gedächtnisse nicht gänzlich entschwunden sind. -- Diese Thatsache darf insbesondere dann nicht unberücksichtigt bleiben, wenn es sich um Erhebung des als Blödsinn bekannten Zustandes in Bezug auf gewisse Verbrechen handelt. Ein solcher Mensch kann die zehn Gebote hersagen, er kann auch einige Sätze von der Erklärung derselben, z. B.: Stehlen heisst, einem Andern das Seinige nehmen, behalten haben, allein er denkt dabei nichts weiter, als dass diese Worte herzusagen eine Schulaufgabe ist, deren Inhalt für sein übriges Leben eben so wirkungslos bleibt, als wenn Jemand, der nicht Latein kann, seinem Gedächtnisse einige lateinische Sätze in einer gewissen Reihenfolge einprägt. II. Allgemeine Bemerkungen über den Irrsinn, vom psychologischen und rechtlichen Gesichtspunkte. §. 21. Der verehrte Leser möge dem Verfasser diese Verirrung in das Gebiet der Metaphysik vergeben, allein wenn man über einen schwierigen Gegenstand zu sprechen hat, so kann man nur dadurch der Gefahr, missverstanden zu werden, entgehen, wenn man über die Bedeutung derjenigen Ausdrücke, welche man in der Folge zu benützen gedenkt, mit dem Leser einverstanden ist, und dieses Einverständniss kann ein Autor nur dadurch erreichen, wenn er, wo ein Missverstand möglich ist, die Bedeutung seiner Ausdrücke auf solche Vorstellungen reduzirt, in welchen Jedermann =übereinstimmt=. Weit entfernt daher, zu glauben, dass die von mir gebrauchten Ausdrücke alle vollkommen richtig gewählt sind, glaube ich doch jedem meiner verehrten Leser anschaulich gemacht zu haben, was ich darunter verstehe, und dies dürfte zum Zwecke =dieses= Aufsatzes eben so nothwendig gewesen, als =hinreichend= sein. Es wurde im Eingange dieses Aufsatzes bemerkt, dass der Irrsinn sich für die =gewöhnliche=, d. i. die nicht wissenschaftlich geübte Beachtung durch eine abnorme Thätigkeit in der Aussenwelt kundgebe, woraus folgt, dass bei dem Umstande, wo die rechtliche Beurtheilung lediglich eine Beurtheilung des =äussern= Verhaltens eines Menschen ist, auch für die strafrechtliche Beurtheilung =Irrsinn= nur insofern ein Gegenstand der besondern Betrachtung werden könne, als =durch denselben eine gewisse strafbare äussere Thätigkeit veranlasst wurde, welche ohne das Vorhandensein dieses Gemüthszustandes unterblieben wäre=. Die wissenschaftliche Erfahrung, dass der Irrsinn sich nicht immer in abnormen =äusseren= Thätigkeiten ausspreche, und auch von dem praktisch-geübten Seelenarzte =ohne= wahrgenommene abnorme äussere Thätigkeit =erkannt= werden kann, steht dieser Ansicht keineswegs entgegen, denn es lässt sich nicht verkennen, dass alles Annehmen der Richtigkeit eines Resultates, welches die =wissenschaftliche= Forschung liefert, so lange sich deren Richtigkeit nicht durch entschiedene Versuche auch dem =nicht= wissenschaftlich Gebildeten anschaulich machen lässt, nur im =Vertrauen= auf die =Persönlichkeit= Desjenigen beruht, welcher sie erhalten zu haben behauptet. =Persönliches= Vertrauen kann nun niemals die Stelle objektiver Gewissheit, am wenigsten aber in dem Falle vertreten, wo es sich um Anwendung der =Strafgesetze= handelt[17]. Betrachtet man daher den Irrsinn nur von der pathologischen Seite, so muss man nothwendig zugeben, dass ein auch von dem =erfahrensten= Arzte abgegebenes Gutachten hierüber blos darum, weil es ein Gutachten dieses Arztes ist, für den Richter nie diejenige =objektive= Gewissheit haben werde, welche die =strafrechtliche= Beurtheilung der Sache erfordert, und da, wie bereits im Eingange dieses Aufsatzes erwähnt wurde, die =objektive= Gewissheit eines Ausspruches die unabweisliche Bedingung zu dessen =rechtlicher= Anwendbarkeit ist, so folgt, dass auch der ärztliche Ausspruch, sofern er zum Behufe der Gerichtspflege gegeben wird, nothwendig vorzugsweise die =äussere= Thätigkeit des Untersuchten berücksichtigen und hervorheben müsse, wenn er seinem Zwecke entsprechen soll, weil gerade die =äussere= Thätigkeit =dasjenige= ist, welches hier die =objektive= Anschauung gestattet. [17] Obwohl ich nicht glaube zu der Ansicht Veranlassung gegeben zu haben, als sei es mein Bestreben, die Autorität ärztlicher Erfahrungen zu misskennen, so glaube ich zur Beseitigung eines jeden Missverständnisses doch nicht unbemerkt lassen zu können, dass es sich hier um ein =Strafverfahren=, somit um die Zufügung eines =Uebels= handelt, welche ohne empörende Ungerechtigkeit nur =dann= verhängt werden darf, wenn der Ausspruch, um den es sich handelt, =vollkommen= gewiss, somit jede Möglichkeit eines Irrthums beseitigt ist. Der Mensch darf im Vertrauen auf die Geschicklichkeit eines Andern diesem =sein= Wohl auch ohne weitere Garantie unbedingt anvertrauen, er darf aber nicht aus dem Grunde, weil =er= dem Andern vertrauet, das Wohl und Weh seines Nebenmenschen ohne oder vielleicht gar =gegen= dessen Willen ganz allein von der Geschicklichkeit eines Dritten abhängig machen. Ein Satz, dessen Richtigkeit jeder meiner verehrten Leser zuverlässig fühlen wird. -- Eben so wenig kann aber die Gerechtigkeitspflege, welcher die Bestrafung eines Verbrechers, der eine strafbare Thätigkeit verübt hat, eine strenge Nothwendigkeit ist, sich damit begnügen, dass von einem =einzelnen= Staatsbürger dessen Zustand als ein solcher bezeichnet wird, welcher die Bestrafung ausschliesst, ohne sich von der objektiven Richtigkeit dieses Ausspruches die =mögliche= Ueberzeugung erworben zu haben, und diese Ueberzeugung kann nur durch die Begründung des gemachten Ausspruches, durch objektive, d. i. solche =Thatsachen= geschehen von deren Richtigkeit sich auch ein Dritter überzeugen kann, wenn er sie auch nicht in ihrer vollkommenen Bedeutung zu würdigen versteht, und diese Thatsachen liefern in Bezug auf den in Frage stehenden Gegenstand nur die äussere Thätigkeit des Subjektes, oder die sich an demselben darstellende =äussere= Erscheinung. Da wir auf diesen Gegenstand im Verlaufe dieses Aufsatzes zurückkommen müssen, so möge folgendes Beispiel die Sache erläutern: Es sei der Fall eines nach mehreren Stunden heftiger Leibesschmerzen, Erbrechen, Beängstigung etc. erfolgten Todes eines Menschen vorgekommen, und die =pathologische= Untersuchung würde alle Erscheinungen einer Vergiftung durch Arsenik darstellen. Würde wohl, ungeachtet der =Arzt= sich für vollkommen überzeugt hält, die Todesursache sei keine andere als eben die Arsenikvergiftung, dieser Ausspruch genügen, und die =chemische= Untersuchung =entbehrlich= sein? Gewiss nicht, denn für den =Richter= ist immer noch die Möglichkeit denkbar, dass der Arzt sich doch könne getäuscht haben, weil er (der Richter) sein Vertrauen auf die Persönlichkeit des Arztes nicht =so weit= ausdehnen =darf=, um sich nicht =anschauliche= Beweise von dessen objektiver Richtigkeit zu verschaffen. Ist aber durch die chemische Untersuchung der Arsenik =aufgefunden=, so ist erst =objektiv= bewiesen, dass der Arzt sich =nicht= geirrt, und seine pathologische Ansicht das Wahre getroffen habe. Eben so ist es bei dem =Irrsinn=. So lange der Arzt nur aus =pathologischen= Gründen argumentirt, z. B. aus einer abnormen Beschaffenheit gewisser Organe, oder aus den abnormen Aeusserungen gewisser Funktionen, deren =normale= Aeusserung dem Richter nicht bekannt ist, muss der Richter =als Richter= immer noch die Möglichkeit voraussetzen, dass der Arzt sich geirrt haben könne, wenn er gleich als Mensch, dort wo es sich um seine =eigene= pathologische Behandlung handelt, nicht den mindesten Anstand nehmen würde, sich dem erprobten Scharfblicke des Arztes anzuvertrauen. Erst wenn der Arzt ihm die äusseren abnormen =Thätigkeiten= des Untersuchten nachgewiesen hat, =darf= er als Richter den Ausspruch des Arztes als zweifellos richtig annehmen. §. 22. Dieser Unterschied zwischen der Ueberzeugung des Richters in seiner =richterlichen= und in seiner blos =menschlichen= Stellung wurde und wird _in Praxi_ von Gerichtsärzten nicht selten =übersehen=, und darin liegt allein der Grund einer Menge von ungenügenden Gutachten. Der Arzt glaubt nicht selten durch Darlegung seiner auf Gründe der Wissenschaft gestützten =Ueberzeugung= und durch die Gründe der =Wissenschaft= dem Richter genügen zu können. -- Der Richter aber darf gerade durch Gründe der Wissenschaft am =wenigsten= sich zu irgend einer Ansicht bestimmen lassen, weil ihm diese gerade am =fernsten= liegen, sondern er verlangt einen Beweis _ad oculum_, den der Arzt vielleicht für unbedeutend hält, und hat oft nicht das nöthige Geschick, den Arzt dahin zu führen, ihm diesen Beweis _ad oculum_ zu liefern; am Ende gehen beide Theile auseinander, ohne sich verstanden zu haben, wo doch das Verständniss gar nicht schwer gewesen wäre, wenn der Arzt bestrebt gewesen wäre, seine Ansicht durch =in die Sinne fallende Thatsachen zu begründen=. §. 23. Wenn wir nun zum Behufe der medizinisch =gerichtlichen Darstellung= das Verhältniss der menschlichen Thätigkeit zu dessen Umgebung als das wesentliche Moment anzunehmen genöthiget sind, so muss man billig fragen, =was ist eine normale Thätigkeit des Menschen= in Bezug auf dessen Umgebung? da ohne Zweifel die =Abweichung= von der normalen Thätigkeit diejenige Thatsache bildet, worauf es bei dieser Erhebung ankommt. Die Antwort wird wohl einstimmig dahin ausfallen: diejenige Thätigkeit ist normal, welche der Objektivität der äusseren Erscheinungen entspricht, und diejenige ist =nicht= normal, welche dieser Objektivität entgegengesetzt ist. Wer durstig ist, ein passendes Getränk vor sich, und nicht besondere, ebenfalls =objektiv= richtige Gründe hat, sich dieses Getränk zu =versagen=, und trinkt, handelt =normal=, wer unter solchen Verhältnissen =nicht= trinkt, handelt =nicht= normal. Diese Ansicht von normal und nicht normal ist aber nicht nur in der Erfahrung gegründet, sondern sie ist auch aus der Natur der Sache hervorgehend. -- Die Sinne sind nämlich nicht =Schöpfer= der im Menschen vorhandenen Vorstellungen, sondern sie sind nur das =vermittelnde= Prinzip zwischen dem inneren Lebenstrieb und der Aussenwelt, sie =können= daher unmöglich anders, als objektiv =richtig= vermitteln, d. h. =wo= sie vermitteln, ist ihre Vermittlung eine =richtige=, die Thätigkeit, welche durch diese Vermittlung hervorgerufen wird, kann daher vom Standpunkte des Subjekts aus betrachtet keine andere sein, als eine =objektiv richtige=. Wo daher eine den äusseren Verhältnissen nicht conforme Thätigkeit eintritt, ist es ganz richtig, zu sagen, dass sie =nicht normal=, d. i. für den Dritten, welcher diese nicht conforme Thätigkeit bei dem Subjekte gewahrt, =von seinem Standpunkte aus unbegreiflich= sei. §. 24. =Wie ist nun eine solche nicht normale, d. i. den objektiven Verhältnissen nicht entsprechende Thätigkeit vom Standpunkte des Subjektes aus zu erklären?= Die Erfahrung gibt auch hier die entsprechende richtige Antwort, nämlich =entweder=: _a_) dasjenige, was hier eine Thätigkeit zu sein =scheint=, ist =keine Thätigkeit=, d. h. keine durch =Vorstellungen= bestimmte Aeusserung der Kräfte, sondern eine entweder =mechanisch= durch Einwirkung einer von Aussen wirkenden Gewalt, oder eine durch =dynamischen= Einfluss bedingte Kraftäusserung, z. B. der Mensch fällt und hält sich unwillkürlich an einen Strohhalm, oder ein Epileptischer oder Rasender schlägt um sich -- =oder= _b_) der Mensch ist in einem =Irrthume= befangen. Die erste Veranlassung ist zu sehr in der täglichen Erfahrung begründet, als dass es nothwendig wäre, hierüber ein Weiteres zu sagen. Wie ist aber =Irrthum= möglich, wenn die Behauptung, dass die Sinne nicht trügen können, richtig ist? Auch hier ergeben sich zwei Erklärungsarten, welche beide richtig sind: Die erste liegt in der nicht zu läugnenden Möglichkeit, dass die Sinne die äusseren Eindrücke nicht so =vollkommen= auffassen, dass nicht die sich entwickelnde =Vorstellung= gegenüber der =objektiven= Beschaffenheit der äusseren Gegenstände =mangelhaft= bliebe, und daher die Thätigkeit sich im Verhältnisse zur Objektivität =mangelhaft= äussert. Die zweite dieser möglichen Veranlassungen liegt darin, dass ein Mensch dasjenige, was nur Gegenstand seiner Vorstellung ist, für etwas =Objektives= hält. §. 25. Die erste Veranlassung bedarf keine weitere Erörterung, die zweite ist dadurch minder begreiflich, weil, wenn es richtig ist, dass die Sinne nur das zwischen äusserer Erscheinung und Vorstellung vermittelnde Prinzip sind, es nicht möglich scheint, dass der Mensch eine =andere= Vorstellung haben kann, als jene, welche der Wirklichkeit =entspricht=. Dieser Einwurf ist allerdings =gegründet= und lässt sich nur dadurch beseitigen, dass man den Satz als wahr zugibt, =noch nie habe ein Mensch oder ein sonstiges animalisches Wesen eine Vorstellung gehabt, welche der Wirklichkeit= in ihren =einzelnen Theilen= nicht entsprochen hätte; diesen Satz =kann= man aber auch als wahr zugeben, denn wenn man sich z. B. ein =Flügelpferd= vorstellt, so ist dies auch ein Gegenstand einer =wirklichen= Anschauung, denn Jeder hat schon =Flügel= und hat schon =Pferde= gesehen, nur die =Kombination= dieser beiden Objekte entspricht nicht der Wirklichkeit. Eine solche der Wirklichkeit =nicht= entsprechende Vorstellung ist daher grösstentheils eine Wirkung der =Reproduktions=thätigkeit, und besteht so zu sagen aus einem Mosaikbild von, der Wirklichkeit zwar entsprechenden, jedoch in eine =Zusammensetzung= gebrachten Vorstellungen, welche =Zusammensetzung= der Wirklichkeit =nicht= entspricht. Dass aber diese Art und Weise, das Vorhandensein solcher, der Wirklichkeit nicht entsprechender Gebilde zu erklären, die =richtige= sei, ergibt sich daraus, weil bei Thieren, deren Vorstellungen an Zahl jenen, welche bei den Menschen vorkommen, bedeutend nachstehen, so wie auch bei Kindern in den ersten Lebensjahren derlei Gebilde viel =weniger wahrzunehmen= sind, als bei entwickelten Menschen, bei denen die Zahl der vorhandenen Vorstellungen, und daher auch jene der durch Reproduktion Statt gefundenen Kombinationen viel geringer ist[18]. [18] Hallucinationen und andere Sinnestäuschungen begründen hievon keine Ausnahme, denn dasjenige, welches der Mensch zu sehen glaubt, ist immer ein Solches, was er entweder schon wirklich gesehen, oder sich doch sonst ganz oder theilweise schon vorgestellt hat. Es ist daher =Hallucination= nichts weiter als eine =reproduzirte= und vielleicht durch die Einbildungskraft =modifizirte= Vorstellung, deren Nichtobjektivität nicht wahrgenommen wird. -- Die =Veranlassung= zu solchen Produkten der Vorstellungsthätigkeit kann aber allerdings in einer solchen krankhaften Verstimmung der einzelnen Organe liegen, in welcher sie so erregt sind, dass ihre Thätigkeit selbst eine, gewissen Vorstellungen entsprechende Empfindung produzirt, z. B. ein Kranker gerade jene Empfindung hat, welche er erfährt, wenn ihm ein Licht vor die Augen gehalten wird; die Reproduktion gibt dann wahrscheinlich dieser Empfindung erst =die bestimmte Gestalt= in der Vorstellung; so kann sich auch der Fall ereignen, dass ein Mensch statt einer weissen Farbe eine grüne sieht. Der Grund dieser Erscheinung liegt in dem Fehler des Organs, welches hier anstatt jener Empfindung, welche der Anblick der weissen Farbe erregt, jene Empfindung hervorbringt, welche der grünen Farbe entspricht. Hier kann man nun eigentlich nicht sagen, er =sieht= falsch, sondern er =sieht= so wie ein anderer Mensch, und er sieht nur =weniger= als ein Anderer, denn seine Sehkraft fasst um eine Farbe weniger auf als jene anderer Menschen. -- _In Praxi_ wird nun freilich dieser =Mangel= durchaus die Folge eines Irrthums haben, allein für den Zweck der wissenschaftlichen Beurtheilung ist diese Unterscheidung nicht gleichgiltig, denn ein blosser =Mangel= in der Auffassung ist an und für sich kein Irrthum. Es lässt sich daher allerdings der Satz behaupten, die Sinne =können nicht getäuscht werden=, und die Folge dieses Satzes ist der weitere, dass der Grund des =Irrsinnes= nicht in einer Sinnestäuschung zu suchen, und daher auch nicht auf diese Weise =darzustellen= sei. §. 26. Nachdem sich nun die Möglichkeit einer Vorstellung, welche der Aussenwelt =nicht= entspricht, auf solche Art ganz naturgemäss erklärt, so kann man nur noch fragen, =wie es möglich ist, dass der Mensch oder das animalische Wesen nicht alle Kombinationen seiner Reproduktionsthätigkeit für Wirklichkeiten hält=? Diese Erscheinung lässt sich nun wohl nur dadurch erklären, dass die =Empfindung= bei der =unmittelbaren= Wahrnehmung eine =andere= ist, als jene, welche die Gebilde der =Reproduktions=thätigkeit begleitet. Wenn man einen =kalten= Gegenstand =anrührt=, so empfindet man offenbar etwas Anderes, als wenn man sich diese Empfindung =vorstellt=. Da nun der Mensch oder das animalische Wesen seine Lebensthätigkeit mit =wirklichen= Empfindungen beginnt, welche im Verhältnisse zu der anfangs nur wenig intensiven Reproduktionsthätigkeit ohne Vergleich stärker sind, so =muss= er auch den Unterschied, welcher zwischen einem wirklichen und einem blos vorgestellten Eindrucke obwaltet, auffassen, und somit Wirklichkeit von blosser Vorstellung =bis zu einem gewissen Grade= unterscheiden. Diese Unterscheidung kann nun auf diese Art nur bis zu einem =gewissen Grade= gehen, da bei sehr lebhaften Vorstellungen die Empfindungen den durch die Wirklichkeit erregten =möglicher Weise= so nahe kommen =können=, dass eine Unterscheidung nicht mehr möglich ist. Dass aber in der That ein solcher Mangel an Unterscheidung oft wirklich eintritt, lehrt uns die Erfahrung. Man denke an die Bilder des =Traumes=, an die Gebilde des =Wahnsinnes=, und was noch näher liegt, an die Täuschungen, die uns täglich widerfahren. Man begegnet Jemanden, hält ihn für einen erwarteten Bekannten, und gewahrt nun, dass es ein Fremder sei u. s. w. Hieraus folgt nun, dass die gewöhnliche Ansicht, der Irrthum könne dadurch entstehen, dass Jemand seine blosse Vorstellung für etwas =Wirkliches= halte, vollkommen psychologisch richtig sei. §. 27. Wenn nun ein Mensch durch eine gewisse Thätigkeit Rechte verletzt, so ist er dafür verantwortlich, und zwar =strafbar=, wenn Gesetze bestehen, welche wegen dieser Verletzung der Rechte eine Strafe verhängen; er muss jedoch von dieser Strafe =verschont= bleiben, wenn nachgewiesen wird, dass entweder seine Thätigkeit eine =unfreiwillige=, d. i. nicht von einer =bestimmten Vorstellung hervorgerufene= war, weil er in diesem Falle nicht als =Mensch=, sondern als ein durch eine blind wirkende Kraft bestimmtes Wesen thätig war, oder dass er zwar =nach einer Vorstellung= handelte, dass jedoch diese eine =irrige=, d. i. der Objektivität nicht entsprechende gewesen ist, d. h. mit anderen Worten, dass er aus =Irrthum= so gehandelt habe, wenn dieser Irrthum die verübte Thätigkeit bedingte. Wo daher in einem speziellen Falle eine Vermuthung für die eine oder die andere abnorme Bestimmung seiner Thätigkeit eintritt, ist es die Aufgabe des Gerichtes, die Nachweisung zu liefern, dass und warum seine Thätigkeit die Wirkung einer =blinden Kraft= oder eines =Irrthumes= gewesen ist. §. 28. Zu dieser Ausmittlung gibt es nur =zwei= Wege, den =objektiven=, wo durch Erhebung der obgewalteten =Umstände= dargethan wird, dass der Mensch wirklich ohne alle =Selbstbestimmung= gehandelt habe, oder in einem =Irrthume= befangen war, oder den =subjektiven=, wo aus der Beschaffenheit des =Individuums= dargethan wird, dass die ausgeübte Thätigkeit eine =Wirkung= einer blind sich äussernden =Naturkraft= oder eines durch die Beschaffenheit des =Individuums= erzeugten, und daher für denselben nothwendigen =Irrthumes= gewesen sei. §. 29. Ein Beispiel solcher subjektiven Nachweisung erster Art ist der Fall, wo etwa ein Epileptischer in seinem Paroxismus einen Dritten durch Herumschlagen beschädigt; ein Beispiel der zweiten Art ist, wo nachgewiesen wird, dass Derjenige, welcher etwa einer Wache auf ihr Zurufen, einen bestimmten Ort nicht zu betreten, keine Folge leistet, und sich dann bei angewandter Gewalt widersetzt, =taub= war, und sich wegen Nichterkennung der Wache von einem Räuber angefallen hielt. In diese Kategorie gehört nun insbesondere der =Irrsinn=, nämlich derjenige Zustand, in welchem der Mensch aus einer krankhaften Stimmung entweder nach =Vorstellungen= handelt, weil er sie für =wirklich= hält, oder für gewisse Eindrücke, obgleich die Sinnesorgane zu deren Aufnahme geeignet sind, keine entsprechenden Vorstellungen produzirt. §. 30. Der =Zweck= jeder gerichtlichen Erhebung des =Irrsinnes= ist daher kein anderer, als die Erhaltung des =rechtlich giltigen=, somit von Kunstverständigen abzugebenden, oder von diesen zu bestätigenden Ausspruches, dass der Mensch, welcher eine =bestimmte=, sonst sträfliche =That= beging, dieselbe in einem Zustande begangen habe, in welchem er entweder von =keinen= Vorstellungen, sondern (wie in der Raserei) nur durch eine blinde Naturkraft geleitet wurde, oder dass er zwar von Vorstellungen bestimmt wurde, die jedoch aus dem Grunde der Wirklichkeit nicht entsprachen, weil er vermöge seines eigenthümlichen =krankhaften= Zustandes entweder =nicht im Stande war, die Nichtobjektivität seiner ihn bestimmenden Vorstellung einzusehen, oder nicht vermochte, die der Wirklichkeit entsprechende Vorstellung zu produziren=. Dies ist der =Zweck= der =gerichtlichen= Erhebung, und daher die Aufgabe des Arztes, seine Untersuchung und Darstellung so einzurichten, dass _Pro_ oder _Contra_ bezüglich =dieses= Resultates deutlich, d. i. auf eine für den Richter vollkommen verständliche Weise hervorgehe. Das Mittel dazu ist die durch das Studium der sämmtlichen Zweige der medizinischen Wissenschaften geschärfte Beobachtung, unter Anwendung der auf diesem Felde gewonnenen Erfahrungen, denn es handelt sich darum, die Gewissheit zu erhalten, dass =alle= hierüber Aufschluss gebenden Momente benützt seien; diese Momente liegen aber entschieden sowohl in der besondern Beschaffenheit des Subjektes, als in der pathologischen und physiologischen Beschaffenheit der menschlichen Natur, es kann daher nur ein solcher Ausspruch hierüber als rechtlich giltig angesehen werden, welcher von einem hierin vollkommen Bewanderten gegeben wird, und diese Vermuthung kann in Bezug auf den in Frage stehenden Gegenstand nur bei dem Arzte eintreten[19], der aber seinerseits wieder nicht blos die Verhältnisse des Individuums als solches zu berücksichtigen haben wird, sondern auch die Aufgabe erhält, das Verhältniss darzustellen, wie die =äusseren Verhältnisse=, in denen sich das Individuum zur Zeit der verübten That befand, auf seine =innere= Thätigkeit vermöge seines =individuellen Zustandes= eingewirkt haben. [19] Nicht selten drückt man die Formel der Frage, wenn es sich um die gerichtliche Erhebung des Irrsinnes handelt, damit aus, dass man den Arzt fragt: war der Mensch frei oder nicht? -- Dies ist jedoch mehr gefragt, als der Arzt in vielen Fällen beantworten kann und =darf=, denn es heisst diese Frage mit anderen Worten: ist der =Vorsatz=, den der Mensch dabei hatte, ein =böser= oder nicht; kann nun der Arzt die Frage nicht dahin beantworten: „der Mensch war =gar keines= Vorsatzes fähig, also =auch= keines bösen,” sondern muss der Arzt zugeben, „der Mensch war allerdings, subjektiv betrachtet, eines Vorsatzes fähig,” so greift er durch die beigesetzte nähere Bestimmung: „in =diesem= Falle aber war sein Vorsatz =nicht= böse,” in die Kompetenz des Richters. In den wenigsten Fällen ist es nun dem Arzte möglich, sich dahin auszusprechen, dass der Mensch =gar keines= Vorsatzes fähig war, denn selbst ein entschieden Wahnsinniger handelt nicht selten nach „Vorsätzen.” Da nun aber einmal durch diese Form der Frage die richtige Stellung, welche der Arzt als =Naturkundiger= einnimmt, verrückt, d. i. vom Felde der Naturwissenschaft auf jenes der Moral oder des Rechtes zum Theile gebracht ist, so bleibt dem Arzte dann nichts Anderes übrig, um sich mit Ehren aus der Sache zu ziehen, als von einer =halben=, einer =Viertel=-Freiheit zu sprechen, welches aber immer ein logischer Widerspruch und daher ein Unding ist und bleibt, denn Freiheit ist nichts Anderes als =der Begriff des Abganges= einer =jeden= Art von =Zwang=. -- Wenn ein Mensch an Händen und Füssen gebunden war und man macht ihm die Hände los, so ist er nicht halb =frei=, sondern er ist nur zur Hälfte, aber doch noch immer =gebunden=; auch kann die Freiheit als =Vermögen= betrachtet, niemals weder =ganz= noch zum =Theile= aufgehoben werden, sondern es kann nur die =Aeusserung= dieses Vermögens in einer =bestimmten Richtung= ganz oder zum Theile unmöglich gemacht werden. Folgendes Bild dürfte die Sache deutlicher machen. Man denke sich einen in einen spitzigen Winkel zulaufenden Gang, Jeder kann in den Gang gehen, wie weit er aber kommt, wird von seinem körperlichen Umfange abhängen. Wenn nun Jemand eine Last trägt, welche über seine Schultern nach der Breite hervorragt, so wird er zuverlässig früher stecken bleiben, als ein Anderer. Es wäre nun in dem Falle, als es sich darum handelte, nachzuweisen, warum der Letztere nicht so weit gekommen ist, als der Andere, vollkommen unzweckmässig zu fragen: war das Vermögen zu =gehen= bei ihm aufgehoben oder nicht? oder darauf zu antworten: es war zur Hälfte durch die Last aufgehoben, weil er nur halb so weit kommen konnte, sondern es muss vernünftiger Weise gefragt werden: war die Last wirklich so beschaffen, dass er nach der Räumlichkeit des Ganges nicht weiter vordringen oder etwa gar nicht in den Gang kommen konnte? Nun! das Vermögen zu =gehen= gleicht hier der =Freiheit=, die =Last= ist die Krankheit, die die natürliche Beweglichkeit hemmt, und der spitz zulaufende Gang sind die Verhältnisse der menschlichen Natur, von denen sich nicht läugnen lässt, dass sie der freien Kraftentwicklung eines =jeden= Menschen irgendwo eine Grenze setzen. Der Ausspruch, dass eine =gänzliche= Hemmung der Freiheit Statt fand, ist übrigens für die gerichtliche Erhebung nur insofern von Bedeutung, als hieraus nothwendig folgt, dass dann bei =der= That, um deren Untersuchung es sich eben handelt, auch keine Freiheit war. Die Aufgabe ist indess eben so richtig gelöst, wenn auch nur dies Letztere mit Bestimmtheit erhellt, und dies Ziel wird vollkommen durch die im Texte angegebenen Andeutungen erreicht. §. 31. Diejenigen wissenschaftlichen =Daten= anzugeben, oder die Art und Weise darzustellen, =wie= die als der Zweck der gerichtlichen Erhebung des Irrsinnes im vorigen Paragraphe dargestellte Aufgabe nach medizinisch wissenschaftlichen Grundsätzen zu lösen sei, ist ausserhalb den Gränzen des Zweckes dieses Aufsatzes, und auch ausserhalb den Gränzen des Wissens des Verfassers, der sich mit der Ueberzeugung beruhigt, dass die medizinische Wissenschaft hierin so Vieles geleistet habe, dass es jedem gebildeten, lebenserfahrenen Arzte, welcher sich =diesem Zweige= der Wissenschaft =widmet=, möglich sei, sich hierin die zu dem gerichtlichen Zwecke nöthige Vollkommenheit zu erwerben; es erübrigt daher nur auf einige, insbesondere in gerichtlich medizinischen Werken vorkommende =Ausdrücke= hinzuweisen, weil diese Ausdrücke, eben weil sie =unrichtig= sind, zu Missverständnissen führen müssen, welche der Verständlichkeit der Darstellung =schaden=. Der schlimmste Fehler, in den man verfallen konnte, war wohl jener, dass man die pathologische =Eintheilung= der krankhaften Gemüthszustände, nach welcher man die =Seelenstörungen= in gewisse Rubriken, als: Krankheiten des =Verstandes= und Krankheiten des =Gemüthes=, die ersteren in =Blödsinn= und =Narrheit=, die letzteren in =Melancholie= oder =Wahnsinn=, =Tollheit= oder =Manie= eintheilt, in Lehrbücher der gerichtlichen Arzneikunde aufnahm, zum Ueberflusse aber dabei gewisse =Grade= bei den einzelnen derartigen damit befallenen =Subjekten= feststellte. Ich lasse den Werth oder die Nothwendigkeit, solche Eintheilungen in =pathologischer= Beziehung zu machen, natürlich dahingestellt, allein in =rechtlicher= Beziehung konnte man nicht leicht etwas =Zweckwidrigeres= beginnen, denn es musste dadurch, insbesondere aber durch die Eintheilung in =Grade= nothwendig, wenigstens bei dem =Richter=, die Voraussetzung begründet werden, dass der =geringste= Grad dieser Störungen, die Zurechnung =weniger= aufhebe als der =höchste=, und auch der Arzt musste auf ähnliche Voraussetzungen verfallen, denn wenn er durch das Lehrbuch angewiesen wird auf diesen Unterschied zu reflektiren, so konnte dies doch nur darum geschehen, weil derselbe von irgend einem Einflusse für die Beurtheilung des Richters ist, diesem daher um den Ausspruch, das Subjekt leide z. B. an Narrheit im ersten oder dritten Grade, wesentlich zu thun sein müsse, während doch in der That der Richter durch diesen Ausspruch nicht mehr Zweckdienliches erfährt, als wenn der Arzt gesagt hätte, das Subjekt leide am Typhus oder an einem Magenübel, da in der =Benennung= der Krankheits=form= nicht der mindeste Anhaltspunkt zu einer =rechtlichen= Beurtheilung liegt. §. 32. An und für sich kann übrigens der Ausdruck =Seelenstörung= nicht gebilligt werden, denn er zeigt, dass man sich die Seele des Menschen als einen gewissermassen abgesonderten, gleichsam nur durch eine Art Landzunge mit dem Körper verbundenes, oder wenn man will in den Körper =eingeschaltetes= Wesen denkt, und diese Ansicht ist durch keine Erfahrung objektiv begründet, -- die Annahme dieses Dualismus von Seele und Körper ist eine Hypothese, welche selbst von denjenigen, welche ihr huldigten, dadurch als unhaltbar anerkannt wurde, dass sie noch ein drittes Verbindendes, den =Geist=, anzunehmen genöthigt waren, und dadurch stillschweigend das Geständniss ablegten, dass die Annahme des Menschen als eines aus Theilen bestehenden Wesens unhaltbar sei, und man daher nothwendig dahin zurückkehren müsse, den Menschen als ein =ungetheiltes=, d. h. nicht aus, wenn auch ideellen, Theilen bestehendes Wesen zu betrachten[20]. [20] Dass dieser Satz sich mit dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele sehr wohl vereinen lasse, wird wohl Niemand bezweifeln, denn Niemand hat noch behauptet, dass der Mensch nach dem Tode als =Mensch= fortlebe. Es folgt daher aus diesem Satze nichts weiter, als dass der Mensch nach dem Tode einer ganz anderen Gattung von Wesen angehöre, als in seinem Erdenwallen, und diese Behauptung ist wohl nichts anderes als jene, womit die Vernunft und Offenbarung übereinstimmt. Der Mensch, so lange er hier auf Erden wandelt, ist in allen seinen Funktionen nur =ein= Wesen, er besteht =nicht= aus Theilen, welche etwa auch einer =ohne= den anderen bestehend gedacht werden können, sondern zum Wesen des =Menschen= gehört =zugleich= Körper und Seele, es lässt sich daher auch kein =Seelenleiden= denken, was nicht ein Leiden des =Menschen= überhaupt wäre, nur ist es möglich, dass dessen =Wirkung= sich so ausspricht, dass es =uns= als eine Abnormität in der durch =Vorstellungen= bedingten äusseren Thätigkeit erscheint. Wenn man daher von =Seelenkrankheit= spricht, und dadurch die =Krankheit selbst= bezeichnet, so ist es eben so nur =figürlich= gesprochen, als wenn man irgend eine Krankheit nach dem Symptom bezeichnet, in welchem sich die Krankheit ausspricht, wenn man z. B. von einer =Brechkrankheit= sprechen wollte. Betrachtet man aber den =Ausdruck Seele=, als den Inbegriff alles physischen =Vermögens=, so ist es durchaus =unlogisch=, von einer Seelenkrankheit zu sprechen, denn der Ausdruck =Vermögen= bedeutet nichts anderes als die =Kraft=, welche eine bestimmte =Wirkung= hervorbringt. -- Eine Kraft kann nun wohl irgendwo =nicht= vorhanden sein, dann aber wird sie auch =gar keine= Wirkung hervorbringen, von deren Vorhandensein man auf ihre Existenz =schliessen= könnte. Man kann daher eben so wenig von einem gestörten =Seelenvermögen= sprechen, als von einem gestörten =Athmungsvermögen=. Die =Respirationswege= können =krank=, und dadurch zur Ausübung des Athmungsvermögens minder geeignet sein, nicht aber das Athmungs=vermögen=. (S. §. 20.) §. 33. Noch weniger kann es gebilliget werden, wenn man von =Verstandes=krankheiten spricht, denn der Verstand ist nicht einmal ein =Vermögen=. Wenn wir nämlich auf diejenigen Ergebnisse sehen, welche man als Wirkung des =Verstandes= bezeichnet, so sind dies =Urtheile= und =Schlüsse=. Urtheile und Schlüsse sind nun wohl längst vorhanden gewesen, ehe man ihr Dasein bemerkte, man kam jedoch dahin, dieses ihr Dasein zu bemerken, weil man fand, dass, wenn =richtige=, d. h. der Aussenwelt entsprechende Vorstellungen kombinirt, und daraus Begriffe, aus deren Kombination aber weitere Begriffe, d. i. Urtheile und Schlüsse entwickelt wurden, deren Ergebnisse ebenfalls der Aussenwelt =entsprachen=; und dieses Ergebniss =nannte man= ein Produkt des =Verstandes=. Also wo =richtige= Urtheile und Schlüsse erfolgen, kann man die diesfällige Thätigkeit =Verstand= nennen, andere als =richtige= Urtheile sind aber gar nicht möglich, denn dasjenige, was man ein =unrichtiges= Urtheil nennt, ist entweder ein =richtiges= Urtheil, und entspricht nur darum nicht der Wirklichkeit, weil demselben =objektiv unrichtige= Vorstellungen zu =Grunde= lagen, oder es ist gar kein Urtheil, sondern es =klingt= nur so. Wer z. B. sagt: eins und eins ist =Eins=, der hat gar nicht geurtheilt, d. h. hier nicht gezählt, sondern ein ihm bekanntes =Wort= reproduzirt und ausgesprochen. Eben so wenig steht es aber in der menschlichen =Willkür=, über gegebene Vorstellungen =anders=, als auf =eine= Art zu urtheilen. Selbst der Weise urtheilt nicht =anders= als der Thor, wenn Beiden dieselben Vorstellungen vorschweben. -- Eins und eins ist Zwei, spricht das Kind, welches rechnen lernt, aus =eigener= Ueberzeugung, mit =gleicher= Gewissheit, wie der grösste Mathematiker; der Unterschied besteht darin, dass dem Weisen =mehreres= und =gediegeneres Materiale= und zur =rechten Zeit= zu Gebote steht, während der Thor wegen ihm vorschwebender =mangelhafter=, oder sonst irriger Vorstellungen, entweder =unrichtig= oder =gar nicht= urtheilt. -- Man kann daher ganz entschieden sagen, dass bei der Funktion des Urtheilens, so wenig als bei dem Kreislaufe des Blutes, irgend eine Willkür Statt findet; denn wenn man die Funktion des =Denkens= in einem gewissen Grade willkürlich ausüben kann, so geschieht dies nur dadurch, dass man willkürlich die Reproduktions=thätigkeit reizt=. Die Produkte dieser erhöhten Reproduktionsthätigkeit, nämlich die entstehenden Urtheile u. s. w. zu =regeln=, steht =nicht= in der Macht des Menschen. Eine Thätigkeit, bezüglich deren jedoch =gar keine= Willkür Statt findet, kann man auch nach =logischen= Grundsätzen unmöglich ein Vermögen nennen, so wenig als man den Kreislauf des Blutes ein =Vermögen= nennen kann. §. 34. Von dem Ausdrucke =Gemüthskrankheit= gilt ungefähr dasselbe, was von jenem „=Verstandeskrankheit=” gilt, nur kommt noch hinzu, dass man, während sich die meisten Menschen, unter dem Ausdrucke =Verstand= beiläufig das Nämliche, d. h. das Vermögen zu urtheilen und zu schliessen, denken, selten =zwei= Menschen finden wird, welche =gleiche= Begriffe mit diesem Ausdrucke, und selten =einen=, welcher im Stande ist, eine, einigermassen erträgliche Definition zu geben. Ein Ausdruck, dessen Begriff man nicht wieder geben kann, ist ein =Wort=, und mit Worten darf man sich nicht abspeisen lassen, wenn es sich um =Sachen= handelt. Ich habe ein Werk vor mir, in welchem die Krankheiten des Gemüthes als solche bezeichnet werden, „wo ebenfalls (nämlich wie bei den Verstandeskrankheiten) das Erkenntnissvermögen des Menschen mit den Gesetzen der allgemeinen Erfahrungen und der Vernunft in Widerspruch geräth, dieses Abweichen jedoch sich zugleich durch eine auffallende Störung des =Gemüthes= in Rücksicht auf Gefühle und Willensbestimmung ausspricht.” Wissen meine verehrten Leser jetzt, was =Gemüthskrankheit= ist? Ich bringe aus dieser Definition nur so viel heraus, =Gemüthskrankheit sei eine Krankheit des Gemüthes=, und das Gemüth spreche sich in =Gefühlen= und in der =Willensbestimmung= aus. _Omnis definitio periculosa_ ist ein allen Rechtskundigen zur Genüge bekannter Satz. Will man daher für die Rechtskunde etwas Brauchbares liefern, so muss man sich vor =Definitionen= hüten, und bei der =Sache= bleiben, um die es sich handelt, nie aber Definitionen =statt= materiellen Verhältnissen vorlegen, sonst wird und muss Derjenige, der einen solchen Weg einschlägt, an sich selbst irre werden. §. 35. Da übrigens die Ausdrücke =Gefühl= und =Wille= in den Abhandlungen über Wahnsinn eine bedeutende Rolle spielen, weil sie vielfältig darin vorkommen, so glaube ich es nicht unterlassen zu dürfen, auch hierüber Einiges zu sagen. =Gefühl= und =Empfindung= ist zweierlei, darüber ist man so ziemlich einverstanden, über den Unterschied zwischen Gefühl und Empfindung ist man sehr wenig im Reinen. Man muss jedoch, ohne paradox zu werden, sagen, dass manchmal zwei Menschen in demselben Augenblicke, und wohl auch derselbe Mensch in verschiedenen Augenblicken bei derselben =Empfindung= verschiedene =Gefühle= haben. Das Ausbrechen eines Zahnes ist immer die Empfindung des Losbrechens eines mit dem Körper verwachsenen Theiles -- es ist aber für Denjenigen, an welchem diese Operation vollzogen wird, in einem Augenblicke, wo er gerade =nicht= an Zahnschmerzen leidet, das Gefühl des =Schmerzes=, wenn aber der Schmerz bis zum Beginn der Operation heftig wüthet, so ist selbst der Schmerz der Operation eine Art =Erleichterung=, weil dadurch der frühere Schmerz aufhört; man kann daher sagen, dass der Letztere durch das Zahnausziehen gewissermassen ein =angenehmes= Gefühl hat, während der Andere nur ein =unangenehmes=, nämlich jenes durch das Losbrechen verursachten Schmerzes erleidet, den auch der Andere, jedoch mit dem Gefühle einer Erleichterung, empfindet. Wenn man daher schon definiren will, so könnte man =Gefühl= als ein Bewusstwerden des Totaleindruckes bezeichnen, welchen eine bestimmte =Empfindung=, d. i. ein wahrgenommener sinnlicher Eindruck auf das =Gesammtleben= macht, oder mit anderen Worten, die Empfindung der Reaktion der Lebensthätigkeit gegen den Eindruck auf den Sinn. Hierin kann nun wohl =kein= Irrsinn, nicht einmal eine =Täuschung= obwalten, denn man nimmt nicht wahr, dass etwas angenehm ist, wenn man sich nicht angenehm, wenigstens in dem Augenblicke, angeregt fühlt. §. 36. Was den =Willen= betrifft, so =nennen= wir also (jedoch mit Unrecht, denn man sollte sagen =Wollen=, nicht Wille) (§. 20) diejenige Bestimmung der Thätigkeit des Menschen, wodurch er den Gegenstand einer Vorstellung in der Aussenwelt zu erreichen bemüht ist. Wo also keine Bestimmung der Thätigkeit zur Erreichung des Gegenstandes einer bestimmten Vorstellung vorkommt, dort ist auch kein =Wille=. Wie kann darin eine Störung vorkommen? Dasjenige, =was= ein Mensch will, kann dem zweiten, und allen übrigen sehr verkehrt vorkommen, der =Wille= selbst aber bleibt immer das Nämliche[21]. [21] =Wille= und =Wollen= sind zwei ganz verschiedene Begriffe. Dem ersten entspricht die Selbstbestimmung des Menschen zwischen bös und gut, dem letzten die Wahl, d. h. die =Willkür=, eine bestimmte Thätigkeit auszuüben, =abgesehen= von dem Umstande, ob dieselbe sittlich ist oder nicht. Verwechselt man aber diese Ausdrücke, welche, da sie von einander =verschieden= sind, doch auch einen verschiedenen =Sinn= haben müssen, so muss nothwendig eine Begriffsverwirrung entstehen, welche jede entscheidende Darstellung =unmöglich= macht. Selbst bei Irrsinnigen findet man aber kein verkehrtes =Wollen=, so wenig als eine verkehrte =Willensbestimmung=. -- Der Irrsinnige, welcher zum Fenster hinausspringen will, weil er sich von Räubern verfolgt wähnt, springt =wirklich= hinab; Derjenige, welcher glaubt, Sonnenstrahlen verspeisen zu können, legt sich mit offenem Munde unter die Sonne u. s. w., also auch nicht einmal hier ist eine =Verkehrtheit= des Willens zu gewahren. Spricht man aber von dem =Willen= als einer moralischen Funktion, so kann man unter diesem Ausdrucke auch nichts anderes verstehen, als die =mit= dem Bewusstsein, d. i. =mit= der Vorstellung der Sittlichkeit einer Handlung, oder =gegen= das Bewusstsein der Sittlichkeit derselben stattfindende Anwendung der Thätigkeit. Hier kann es sich nun wohl treffen, dass ein Mensch etwas thut, weil er es nach seiner Vorstellung der =Verhältnisse= für =sittlich= hält, während diese nämliche Handlung von einem andern, welcher die =Unrichtigkeit= der Voraussetzung des andern von seinem Standpunkte aus gewahrt, für =unsittlich= gehalten wird. Der Wahnsinnige, welcher in der Vorstellung, er schlachte ein Kalb, einen Menschen tödtet, will nichts =Unsittliches=, ebenso =will= Derjenige, welcher in sich den Drang zur Ermordung eines Andern verspürt, jedoch diesem Drange entgegenarbeitet, =nicht= etwas =Unsittliches=, sondern er =will= vielmehr die ihm als unsittlich erscheinende Wirkung =vermeiden=. Wenn er also ungeachtet seines inneren Widerstrebens doch den Mord vollbringt, so kann man diese That nicht aus einem verkehrten =Willen=, sondern nur dadurch erklären, dass sein =Wollen= durch eine psychische Gewalt unwiderstehlich besiegt worden sei, wie etwa Derjenige, welcher sich anhält, um nicht in einen Abgrund zu fallen, =ohne sein Wollen= hinabfällt, wenn seine Muskeln ihre Kraft verlieren und er daher den Gegenstand, an den er sich gehalten hat, auslässt. Es lässt sich daher in der That weder von einer Krankheit, noch von einer Störung der Willensbestimmung sprechen. §. 37. Eben so wenig lässt sich aber auch von einer Störung oder einer Krankheit der =Vernunft= als derjenigen =Anlage= sprechen, wodurch der Mensch das Sittliche auffasst, denn der Mensch kann nur =sittlich= handeln, oder =unsittlich=, d. h. gegen die Bestimmung des Sittengesetzes seinen Sinnen folgen; er kann seiner Vernunft =entgegenhandeln=, nicht aber ihr Wesen =verändern=, so wie man wohl das Auge von etwas =wegwenden=, nicht aber etwas =anderes sehen= kann, als man eben sieht. §. 38. Als Krankheit der =Sinne= kann übrigens der Irrsinn ebenfalls nicht bezeichnet werden, denn eine Krankheit der Sinne kann nur entweder eine =Stumpfheit= derselben gegen gewisse Eindrücke, z. B. Blindheit, Taubheit u. dgl. oder eine Anregung sein, welche der Empfindung, die dieser =nämliche= Eindruck auf ein =gesundes= Organ hervorbringen würde, =nicht= entspricht; z. B. ein krankes Auge wird bei dem Reflex des Lichtes von einem glänzenden Körper den nämlichen Eindruck empfinden, wie etwa ein gesundes Auge, welches in die =Sonne= sieht, allein die Vorstellung, welche dadurch entsteht, ist dennoch eine =richtige=, denn sie entspricht ganz und gar der Art und Weise, wie das Subjekt durch diesen Eindruck =wirklich erregt= wurde. Der am Podagra Leidende ist nicht =wahnsinnig=, wenn er sich vor der geringsten Berührung scheut, welche seinem Fusse droht, sondern sein Abscheu gegen jede Art von Berührung kommt von der =sehr richtigen= Erfahrung her, dass jede Berührung ihm grosse Schmerzen verursacht u. s. w. §. 39. Wenn nun der Irrsinn weder als =Seelenkrankheit=, noch als eine Krankheit des =Verstandes=, noch des =Gemüthes=, noch des =Gefühles=, noch des =Willens=, noch endlich als eine Krankheit oder Störung der =Sinne= erklärt werden kann, so scheint es wohl billig zu fragen, was denn der Irrsinn eigentlich sei. Ist es aber auch nothwendig, diese Frage zu beantworten[22], ja ist es überhaupt nothwendig zu wissen, was das =Wesen= einer Krankheit ist? Ein solches Wissen ist selbst in pathologischer Beziehung nicht =nothwendig=, weil es nicht =möglich= ist, denn alles medizinische Wissen gründet sich auf Erfahrung, und die Erfahrung kann nichts weiter lehren, als dass =krankhafte Zustände von gewissen abnormen Erscheinungen= begleitet sind, und dass ihnen gewisse abnorme Erscheinungen =zu folgen= pflegen. =Warum= aber z. B. der Erkältung eine Entzündung der Schleimhäute folgt, darüber lassen sich nur =Vermuthungen=, keine =Gewissheit= geben; es ist aber auch gar nicht =nothwendig=, hierüber etwas zu wissen, denn auch ohne alle Kenntniss hierüber wird jeder Arzt wissen, wie er einen auf Erkältung gefolgten Husten zu behandeln hat. [22] In einem von mir in dem Januar- und Februarhefte der medizinischen Jahrbücher von 1845 erschienenen Aufsatze bemühte ich mich darzustellen, dass der Wahnsinn nur eine krankhafte Beschaffenheit der Vorstellungsthätigkeit sein könne. Ich glaube nicht, dass diese Ansicht irrig sei, habe mich jedoch überzeugt, dass es für die Rechtspflege ganz gleichgiltig ist, worin eigentlich der Wahnsinn liege, durch welche Ueberzeugung ich mich daher bestimmt fand, das Ganze zum Beweise dieses Satzes angewandte Raisonnement hier wegzulassen. Wenn also ein solches Kennen des eigentlichen =Wesens= der Krankheit schon für den =praktischen= Arzt entbehrlich ist, so ist es noch mehr für die =Gerichtspflege=, von welcher jede =Hypothese=, eben weil sie keine rechtliche Gewissheit ist, ausgeschlossen sein muss. Der Arzt entspricht daher seiner Aufgabe als Gerichtsarzt nie =mehr=, als wenn er sich strenge an die Resultate seiner eigenen ärztlichen =Erfahrung= und jener seiner Vorgänger hält, denn =diese= sind =objektive= Thatsachen, über welche seine Aussage, als jene eines vollkommen giltigen =Zeugen=[23], vollkommen rechtliche Glaubwürdigkeit verdient, da man nur bei dem Arzte hierin die nöthige Beobachtungsgabe voraussetzen kann. [23] Ich habe in meinem Handbuche der gerichtlichen Arzneikunde (§. 24 Anmerkung) auf den Unterschied zwischen Kunstverständigen und =Zeugen= hingedeutet. -- Der Letztere hat in Bezug auf eine =vergangene= Thatsache zu bestätigen, =wie viel= er etwa wahrgenommen hat, der Kunstverständige aber eine vorliegende Sache zu untersuchen, und für die Vollständigkeit seiner Beobachtung zu haften. Ein Arzt, welcher eine gerichtliche Untersuchung vornimmt, ist =Kunstverständiger= in Bezug auf =seine= Wahrnehmung, er ist aber =Zeuge=, sofern er die Wahrnehmungen anderer im ähnlichen Verhältnisse anführt, z. B. wenn er angibt, der Schriftsteller A. hat diese oder jene Beobachtung in seinem Werke N. angegeben. Hier hat er nicht mehr für die =Richtigkeit der Beobachtung=, sondern nur =dafür= zu haften, dass dieselbe in dem angeführten Werke richtig enthalten sei. Ebenso ist der Arzt nicht als Kunstverständiger, sondern als =Zeuge= zu betrachten, wenn er eine von ihm an dem Individuum beobachtete, vor der Hand aber noch nicht untersuchte Erscheinung anführt, erst durch den auf diese Thatsache gebauten =Schluss=, oder durch die in Folge dieser Wahrnehmung eingeleiteten weiteren Nachforschung erscheint er wieder als =Kunstverständiger=. §. 40. Wenn der Richter zu wissen benöthiget, ob eine =That= nicht wegen Statt gefundenem Irrsinne =straflos= zu halten sei, so bedarf er nicht unbedingt zu wissen, ob das Subjekt =überhaupt= irrsinnig, oder wie manchmal gesagt wird, überhaupt, oder in Bezug auf die =bestimmte That unzurechnungsfähig= sei, sondern er bedarf zu wissen, =ob die=, unter den gegebenen Umständen =verübte That nicht ihr Motiv in einem solchen abnormen= Zustande =des Individuums habe, durch welchen es entweder ohne Vorstellung von dem, was es bewirkte, seine Thätigkeit äusserte, oder durch welchen= ein solcher Irrthum =erzeugt wurde, welcher ihm die begangene That als eine erlaubte Thätigkeit unter eben diesen gegebenen Umständen erscheinen liess=[24]. [24] Die Veranlassung des Irrsinns ist immer ein krankhafter Zustand, das unterscheidende Merkmal derjenigen Krankheit, welche man Irrsinn nennt, von andern krankhaften Zuständen, ist eine der Objektivität nicht entsprechende Aeusserung der Vorstellungsthätigkeit. Für die Gerichtspflege ist es aber ganz gleichgiltig, wie man einen bestimmten Zustand nennt, sondern hier handelt es sich nur um die Gewissheit, ob eine bestimmte Thätigkeit Wirkung des Vorsatzes oder des =Zufalls= war, unter welchem Begriffe in rechtlicher Beziehung jede Krankheit mit ihrem Einflusse auf die Thätigkeit eines Menschen gehört, insofern sie eine sonst nach den Gesetzen sträfliche Wirkung hervorbrachte. Diesem zu Folge wird nach der =Natur der Sache= jedes ärztliche Gutachten dieser Art folgende Momente zu unterscheiden haben: 1. Ob der Mensch vermöge der Unvollkommenheit oder =Abnormität seiner Sinnesorgane überhaupt= im Stande sei, Vorstellungen zu solcher Deutlichkeit zu bringen, dass sie als Bestimmungsgrund seiner Handlungen erscheinen können. 2. Ob die Unvollkommenheit oder Abnormität der Sinneswerkzeuge von der Art sei, dass sie das Individuum ausser Stand setzte, unter den =gegebenen Umständen= eine richtige Vorstellung von der durch ihn ausgeübten Thätigkeit zu haben. Diese beiden Fragen werden bei Untersuchung eines =Blödsinnigen= vorzugsweise zur Sprache kommen. 3. Ob die Beschaffenheit der =Vorstellungsthätigkeit= im Allgemeinen von der Art ist, dass zwischen ihr und der sich äussernden Thätigkeit gar kein Zusammenhang =wahrnehmbar= ist. -- Dies ist die bei vorkommender Raserei oder Tobsucht zu beantwortende Frage. 4. Ob im Allgemeinen ein solches Verhältniss der Vorstellung zur äusseren Thätigkeit vorhanden ist, dass der Mensch entweder =durchaus= nicht im Stande ist, die Gegenstände seiner =Vorstellung= von der Wirklichkeit zu unterscheiden, oder in dem vorgekommenen Falle doch hiezu nicht fähig war. -- Diese Frage wird zu beantworten sein, wo es sich um =Wahnsinn= handelt, unter welchem Ausdrucke die =fixe Idee= (d. i. ein für Wirklichhalten einer Vorstellung ohne äussere Thätigkeit), =Monomanie= (ein für Wirklichhalten einer vorhandenen Vorstellung, mit einer diesem Wahne entsprechenden Thätigkeit), =Melancholie= (d. i. eine Stimmung, in welcher auf den Leidenden traurige Vorstellungen so intensiv wirken, dass er sich von deren Nichtobjektivität nicht überzeugen kann), und dem Gegentheile davon, in welchem der Leidende keiner ernsten Vorstellung fähig ist, d. h. alles was ernsthaft ist, für nicht vorhanden hält[25], verstanden werden dürfte. [25] Sonderbarerweise ist, mir wenigstens, kein passender Ausdruck für diesen Zustand bekannt, und doch ist derselbe, als der Gegensatz der Melancholie, nicht nur denkbar, sondern auch in Wirklichkeit vorhanden. Mir selbst ist ein solches Individuum vorgekommen, welches über die vorkommenden Dinge oft recht =treffende= Witze machte, den man aber, obwohl er in den dürftigsten Umständen lebte, nicht dahinbringen konnte, auch nur über dasjenige, was ihn unmittelbar betraf, ein vernünftiges Wort zu =verstehen=. Der passendste Ausdruck für diesen Zustand schien wohl =Narrheit= zu sein, doch sagt dieser Ausdruck, nach meiner Meinung, etwas zu viel, denn jener Unglückliche urtheilte dort, wo er urtheilte, ganz =richtig=; was ihm fehlte, war nicht die =richtige= Auffassung, sondern ein Mangel an Produktivität seines inneren Sinnes, für gewisse, anderen Menschen sonst sehr geläufigen, Vorstellungen, der vollkommene Gegensatz vom Melancholikus, welcher sich von gewissen Vorstellungen nicht losmachen, und sich eben darum nicht von ihrer Nichtrealität überzeugen kann. =Wahnwitz= scheint sich mehr auf jenen Scharfsinn zu beziehen, den der Unglückliche zur Realisirung jener Vorstellung entwickelt, in welcher sich seine Krankheit ausspricht; eine solche bestimmte Vorstellung mangelte jedoch jenem Subjekte. 5. Ob die Thätigkeit, welche die in Frage stehende Wirkung hervorbrachte, durch eine solche für wirklich gehaltene Vorstellung =einzig und allein= veranlasst ist. 6. Ob das Individuum für eine gewisse Art Vorstellung, durch deren Mangel sich die verübte That erklären lässt, etwa wirklich unzugänglich sei; (von dieser Art scheint der in der vorigen Anmerkung berührte Fall zu sein). §. 41. Die eine oder die andere dieser Fragen wird, wo es sich richterlicher Seits darum handelt, zu erheben, ob eine That zurechenbar sei, nothwendig durch den Arzt beantwortet werden =müssen=, nur wird es aber auch die =Aufgabe= des Arztes bleiben, zu beurtheilen, ob mit einer oder der anderen Frage =allein= der Gegenstand der Untersuchung =erschöpft= ist, oder ob um den Zustand des Menschen im Augenblicke der That zu beurtheilen, es nicht nothwendig sei, durch eine, auch =mehrere= der aufgestellten Fragen umfassende Darstellung, die =Nachweisung= zu liefern, inwieweit in dem Augenblicke der begangenen That das Verhältniss der Psyche zur physischen Thätigkeit ein =abnormes= war, inwieweit daher die physische Thätigkeit von der Psyche sich =unabhängig=, oder sich in Folge eines in den physischen Verhältnissen gegründeten =Irrthumes=, oder in Folge des Vorhandenseins =beider= Momente =unter den gegebenen Verhältnissen= geäussert hat. §. 42. Mit dem bisher Gesagten dürfte sowohl dem Leser, welcher Arzt ist, die Richtung angedeutet sein, welche seine Untersuchung und seine Darstellung zu nehmen hat, als demjenigen Leser, welcher dem juridischen Stande angehört, das Verständniss geöffnet sein, was und wie er vom Arzte das ihm zu wissen Nöthige erlangen soll. Auf diesem Wege ist wohl jede Streitfrage über die ärztliche und richterliche =Kompetenz undenkbar=, denn der richterliche Einfluss kann und darf auch hier nur so weit und nicht weiter gehen, als dies überhaupt bei jedem Gutachten der Fall sein kann und muss, so weit nämlich, dass vom Arzte nichts übersehen bleibe, was dem Richter wichtig, und nichts behauptet werde, was dem Richter unwahr scheint. -- Hier bitte ich meine verehrten Leser dasjenige zu berücksichtigen, welches ich mir in dem ersten Aufsatze dieses Werkes zu sagen erlaubte. Ich könnte hier meine Abhandlung schliessen, da es jedoch gewisse Zustände des Menschen gibt, in welchen sich das Verhältniss der psychischen zur physischen Thätigkeit nicht so klar ausspricht, wie es die oben aufgestellten Fragen voraussetzen, so erlaube ich mir noch den nächstfolgenden Aufsatz nachzutragen, welcher die rechtliche Bedeutung der Affekte und Leidenschaften, und die Erhebung anderer zweifelhafter Gemüthszustände behandelt. Für Diejenigen meiner verehrten Leser, welche dem ärztlichen Stande angehören, dürften folgende Bemerkungen jedoch noch von einiger Wichtigkeit sein. III. Aus Grundsätzen des Rechtes zu nehmende Rücksichten bei Erhebung des Irrsinns. A. Im Strafverfahren. §. 43. Die Erhebung des Irrsinns kann im Wege des =Strafverfahrens= oder im Wege des =Civil=verfahrens Statt finden. Ueber den =Zweck= der Untersuchung im Strafverfahren ist sich im Verlaufe dieses Aufsatzes bereits umständlich ausgesprochen worden. Was nun das =Strafverfahren= betrifft, so lassen sich drei verschiedene Gesichtspunkte unterscheiden, von welchen nach Beschaffenheit der Umstände diese Darstellung von Seite des Arztes =aufgefasst= werden muss. Der =erste= dieser Gesichtspunkte betrifft den Umstand, dass Jemand vor Gericht gestellt wird, und der =Richter= bei ihm Spuren von Geisteszerrüttung wahrzunehmen =glaubt=. In diesem Falle handelt es sich ganz und gar nicht darum, ob die ihm angeschuldigte That =zugerechnet= werden kann, ja nicht einmal darum, ob er sie wirklich =begangen= habe, sondern lediglich um die Frage, ob er überhaupt =verhört= werden kann; =d. h. ob er seiner geistigen Beschaffenheit nach im Stande sei, die an ihn gestellten Fragen aufzufassen und zu beantworten=. Das österreichische Strafgesetz drückt sich im §. 363 1. Thl. hierüber folgendermassen aus: „Wird die Beantwortung (beim Verhöre) mit einer auffallenden Sinnenverwirrung gegeben, so hat das Kriminalgericht den Verhafteten von zwei Aerzten =und= Wundärzten untersuchen, und von denselben das Gutachten schriftlich geben zu lassen, ob sie die anscheinende Sinnenverwirrung =für einen wahren Anfall oder für Verstellung halten=. Fällt das Gutachten dahin aus, dass es Verstellung sei, so ist der Verhaftete durch drei aufeinanderfolgende Tage bei Wasser und Brot zu halten, dann aber, nach wiederholter Warnung, mit Streichen von drei zu drei Tagen dergestalt zu bestrafen, dass mit zehn Streichen der Anfang gemacht, die Zahl jedesmal mit fünf vermehrt, und bis auf dreissig hinaufgestiegen wird. Lässt der Verhaftete auch dann noch von der Verstellung nicht nach, so ist der Vorfall mit Beilegung sämmtlicher Akten dem Obergerichte vorzulegen, und die Entscheidung hierüber abzuwarten. -- Ist nach Meinung der Aerzte die Sinnenverwirrung wahr, oder können sie nach Pflicht und Rechtschaffenheit hierüber keinen Schluss fassen, oder wären sie in ihrer Meinung getheilt, so ist ebenfalls dem Obergerichte die umständliche Anzeige zu machen. -- In dieser Anzeige sind auch die Bemerkungen einzurücken, welche dem Kriminalgerichte entweder selbst, oder dem Gefangenenwärter, bei Beobachtung des Gefangenen aufgefallen sind.” Bei diesem Stadium der Untersuchung handelt es sich daher blos um das Gutachten über den =gegenwärtigen pathologischen= Zustand des Untersuchten, und es wird nur richtig zu stellen sein, _a_) ob diejenigen Aeusserungen, welche der Richter für ein Zeichen der Geisteszerrüttung =hält=, wirklich von diesem Zustande zeugen, und _b_) ob sie nicht in einer =Verstellung= ihren Grund haben. Weiter als so weit hat daher der untersuchende Arzt in diesem Stadium der Untersuchung =nicht= einzugehen, jede Darstellung, welche dahin zielt, bezüglich der =Zurechenbarkeit= der That Aufschlüsse zu erhalten, wäre daher am =unrechten= Orte, sondern es wird das Gutachten des Arztes seinen Zweck nur dann =vollkommen= erreichen, wenn es den klaren Ausspruch enthält, ob der in Frage stehende Anfall =ein wahrer Anfall von Geisteszerrüttung=, oder nur =Verstellung= sei; -- der Arzt hat daher in einem solchen Falle =weiter nichts= zu berücksichtigen, als was ihm die =Wissenschaft= zu berücksichtigen vorschreibt, und sich nur zu =hüten=, das in Frage stehende Verbrechen, oder sonst Verhältnisse, welche, wenn sie vor der Zeit zur Sprache kämen, störend auf die gerichtliche Untersuchung einwirken könnten, in seiner Untersuchung mit dem Beschuldigten zu berühren. Es handelt sich in diesem Falle nicht einmal um Beobachtung =gerichtlicher Formen=, wie bei der Erhebung des =Thatbestandes=, ja selbst die =Intervention= des Richters bei diesem Akte ist nicht einmal nothwendig, sondern die Erhebung ist eben so der Gegenstand eines =rein pathologischen= Krankenexamens, als wenn es sich etwa darum handelt, einen Menschen zu untersuchen, welcher an =Brustbeschwerden=, oder an einem andern pathologischen Zustande zu leiden vorgibt. §. 44. Der =zweite= Gesichtspunkt, ohne Zweifel der schwierigste, ist, wenn es sich darum handelt, dem Richter durch eine ärztliche Darstellung des Gemüthszustandes die nöthigen Anhaltspunkte zu liefern, um über die =Zurechenbarkeit der That= zu entscheiden. Aus Demjenigen, welches bisher gesagt wurde, erhellt zur Genüge, dass es für den Richter =niemals= nothwendig ist, an die Aerzte die Frage zu stellen, ob die That =zurechenbar= sei, oder, wie wohl auch schon gefragt wurde, ob der Mensch sich =in einem Gemüthszustande befinde, welche jede Zurechenbarkeit ausschliesst=. Diese Frage hätte nur dann einigen Sinn, wenn der Gemüthszustand überhaupt von der Art ist, =dass kein vernünftiger Mensch an der Unzurechnungsfähigkeit zweifeln wird=, -- dann entscheidet aber der =Grund=, welchen der Arzt für die Unzurechnungsfähigkeit anführt, nicht der =Ausspruch=, dass er unzurechnungsfähig ist; z. B. der Arzt sagt, der Mensch sei unzurechnungsfähig, =weil= er sich in dem Zustand =vollkommener= Raserei befindet, weil der Ausspruch vollkommene Raserei in der Sprache des Richters eben so viel heisst, als =unzurechnungsfähig=. Ist aber der Fall nicht so klar, so ist eben so widersinnig, den Arzt zu fragen, ob der Mensch in Bezug auf eine bestimmte That als =zurechnungs-= oder =unzurechnungsfähig= zu betrachten ist, als wenn man fragen wollte, ob eine Handlung, durch welche ein Mensch um's Leben kam, als Mord, Todtschlag oder Verwundung sollte =zugerechnet= werden, oder als ein Akt der Nothwehr erscheine etc. Jeder Arzt wäre daher berechtiget, eine solche Frage zurückzuweisen. Bei Erhebungen dieser Art darf die gerichtliche =Form= nie fehlen, sonst kann der Akt niemals =gegen= den Beschuldigten beweisen, denn nur durch die gerichtliche Form wird der nöthige =Beweis= für die Wahrheit der Erhebung geliefert; dieser Beweis =muss= aber geliefert werden, weil die Erhebung des Irrsinns zum Behufe der Ausmittlung der Zurechenbarkeit einen wesentlichen Bestandtheil der Thatbestandserhebung bildet, sofern nämlich die gerichtliche Untersuchung überhaupt nichts anderes, als die Erhebung des (subjektiven und objektiven) Thatbestandes ist. Nur in dem Falle ist eine Ausnahme vorhanden, wenn es sich um Erhebung der =Aeusserungen= eines solchen Menschen, wenn auch mit Bezug auf das Verbrechen, zur Erforschung seines =Ideenganges= handelt. Hier ist es nicht nothwendig, ein =ordentliches Verhör= anzustellen, denn dieses hätte keine Giltigkeit, da ein unsinniger Mensch keine rechtlich giltige Erklärung abgeben kann, sondern er kann und darf nur in Bezug auf seine That zu dem Zwecke gefragt werden, damit man erfahre, =wie er überhaupt= darüber denkt und fühlt. Dies =kann= nun wohl im Wege eines Verhörs geschehen, weil dieser Weg die verlässlichste Protokollirung liefert; allein dieser Weg kann und =muss= aber auch =unterlassen= werden, wenn eine andere Prozedur, etwa wegen grösserer Unbefangenheit des Beschuldigten, ein besseres Resultat verspricht. Eine rechtliche Wirkung wird jedoch eine solche Aussage auch dann nicht haben, wenn sie ordentlich protokollirt ist, da die Aussagen eines Menschen, selbst wenn er sich närrisch =stellt=, und daher seine Rolle konsequent fortspielt, unmöglich als ein Beweis für deren objektive Richtigkeit betrachtet werden können, eben daher scheint es, wo die förmliche gerichtliche Prozedur einen Nachtheil besorgen lässt, ohne weiteres dem Gesetze zu entsprechen, dieselbe zu =unterlassen=, und den Inhalt der Unterredung (auf deren einzelne Details es dann ohnehin nicht mehr besonders ankommen wird) nur durch Gerichtspersonen, die sich etwa in der Nähe, ohne von dem Inquisiten bemerkt zu werden, befinden, nach seiner Wesenheit schnell aufzeichnen zu lassen. §. 45. Bei dieser Gelegenheit kann ich jedoch auch die Bemerkung nicht unterdrücken, dass die Frage, wie weit die Kompetenz des Richters und des Arztes gehe, zuverlässig nie diese Richtung genommen hätte, die sie wirklich nahm, und endlich sogar dahin führte, dass sich eine Stimme erhob, nach welcher es zur Beurtheilung dieser Zustände =gar keines Arztes= bedürfe, wenn nicht von Seite der Aerzte an den Richter die =unbillige= Forderung gestellt worden wäre, dass dieser die Erhebung durch Aufstellung von Fragen =so= leiten sollte, dass am Ende der Arzt nichts anderes als =ja= oder =nein= zu sagen brauchte. -- Mit Aufstellung solcher Fragen ist es gerade so, wie mit der Frage über die Zurechenbarkeit. So wie es Fälle gibt, wo man ohne alle Gesetzeskenntniss entscheiden kann, dass eine That =nicht= zurechenbar sei, so gibt es auch =Gemüths=zustände, welche für =Jedermann=, insbesondere aber für den =Kriminalrichter=, welcher doch auch einige psychologische Kenntnisse haben muss, so =klar= sind, dass es nicht schwer ist, so bestimmte Fragen zu stellen, dass mit deren Beantwortung alles erschöpft wird, was man zu wissen bedarf. Solche Fälle, in welchen das Gutachten eigentlich nichts =weiter= ist, als die =Kontrolle= der =richterlichen Ansicht=, sind jedoch die =Ausnahme=, nicht die =Regel=. Die =Regel= bleibt immer, dass, =ehe= noch von einer Frage die Rede sein kann, erst eine, nach den Grundsätzen der Wissenschaft angestellte =technische= Erhebung und Beurtheilung =vorausgehen= müsse, und wenn dieses Statt hatte, kann erst eine Frage von Seite des Richters gestellt werden. §. 46. Das dem Zwecke einer gerichtlichen Untersuchung und der gegenseitigen Stellung des Richters und des Arztes entsprechende Verfahren dürfte daher Folgendes sein. Bei keinem Menschen ist ohne besondere Veranlassung eben so wenig ein Grund vorhanden, zu vermuthen, dass er wahnsinnig sei, als dass er eine andere bestimmte Krankheit habe; es wird daher auch bei keinem Inquisiten die Nothwendigkeit vorhanden sein, desselben Geisteszustand ärztlich =erheben= zu lassen, wenn nicht besondere Erscheinungen, entweder an der =Person= des Inquisiten, oder in seinen =Handlungen=, dem Richter als =ungewöhnlich= auffallen. Solche ungewöhnliche Erscheinungen an der =Person= oder an dem Benehmen des Inquisiten zu =entdecken=, reicht die richterliche Beobachtung in der Regel hin, und für den =schlimmsten= Fall ist der Richter, wenigstens nach dem österreichischen Strafgesetze, auch hierin unter eine Kontrolle gesetzt, weil derselbe nach §. 373 I. Thl. nicht nur verbunden ist, alles dasjenige, was während der Untersuchung über die körperliche und sittliche Beschaffenheit des Verhafteten (durch ihn selbst, oder durch das Gefangenwärterpersonale, welches hiezu eigens angewiesen ist) beobachtet worden, im Akte zu =bemerken=, sondern auch die Besichtigung eines Verhafteten durch einen =Leib- und Wundarzt=, einer verhafteten Weibsperson aber durch eine =Hebamme= und die genaue Beschreibung von der =Leibesbeschaffenheit=, von den =Kräften= und den =Gebrechen= der besichtigten Person in =den Akten= vorgeschrieben ist. Fällt nun auf diese Art kein derartiges Bedenken auf, und ergibt sich aus der Untersuchung, dass das Verbrechen aus =Motiven= begangen ist, welche dem gewöhnlichen Bestreben des menschlichen Begehrungsvermögens =entsprechen=, und ist der Thäter dabei auf eine Art zu Werke gegangen, in welcher die gewählten Mittel in einem nach den vorhandenen Umständen =richtigen= Verhältnisse zu dem angestrebten =Zwecke= stehen, so ist wohl =kein= Grund vorhanden, die Zurechnungsfähigkeit in =Zweifel= zu ziehen, und deshalb eine ärztliche Untersuchung in Bezug auf die Geisteskräfte des Inquisiten zu veranlassen. Fällt jedoch ein Bedenken dieser Art auf, ist nämlich entweder die körperliche Beschaffenheit des Menschen von der Art; dass der Richter, oder die, die körperliche Untersuchung desselben pflegende, ärztliche Person eine solche Abnormität bemerkt, =welche möglicher Weise= das Zeichen oder die Veranlassung einer Geisteszerrüttung sein kann, oder kommen bei demselben Aeusserungen vor, welche =nicht= in dem Laufe der gewöhnlichen menschlichen Handlungsweise begründet sind, oder ist die =That= entweder von so gearteten =Umständen= begleitet, oder unter solchen Umständen begangen worden, unter welchen von vernünftigen Menschen ähnliche Thaten entweder gar nicht, oder doch nicht auf solche Art, wie es durch den Beschuldigten geschehen ist, begangen werden, oder ist endlich die =That selbst= von der Art, dass sie entweder dadurch, dass sie mit dem =sympathetischen= Gefühle, oder einem anderen auf menschliche Handlungen sonst =mächtig wirkenden Motive=, im =Widerspruche=, oder überhaupt =von der Art= ist, dass sie nach der Erfahrung in =jene Klasse= von Handlungen gehört, welche =auch= in Folge einer Geisteszerrüttung begangen werden (z. B. Mord, Brandlegung u. s. w.), so ist die hinreichende Veranlassung =vorhanden=, den Geisteszustand eines solchen Menschen einer besonderen ärztlichen Begutachtung zu unterziehen. §. 47. Der Arzt hat nun in einem solchen Falle die Aufgabe, richtig zu stellen, ob der Zustand des Menschen von der Art sei, dass derselbe =zur Zeit der Begehung der That= sich in einem solchen Zustande der Geisteszerrüttung befand, =dass er nicht im Stande war, seine Thätigkeit, so weit sie die verübte That zur Folge hat, nach Vorstellungen, in Uebereinstimmung mit der Objektivität der äussern Eindrücke zu bestimmen= (siehe hierüber das im §. 40 Gesagte), oder ob sich nach ärztlichen Prinzipien bestimmt erklären lasse, dass =kein= solcher abnormer Zustand vorhanden gewesen sei. Der Grund dieses ersten Ausspruches kann nur sein, dass die abnorme geistige oder physische Beschaffenheit des Menschen, welche diesen Ausspruch motivirt, im =Augenblicke der Untersuchung= von der Art ist, dass sie sich unmöglich =geändert= haben konnte, oder weil aus den bereits =erhobenen Umständen= erhellt, dass sie damals =gerade so= sich verhielt, wie im Augenblicke der Untersuchung. Aus Grund des, der =letzteren= Ansicht =entgegengesetzten=, Ausspruches muss die Nachweisung geliefert werden, warum das als Abnormität vom Richter Bemerkte entweder keine Abnormität, oder wenigstens keine solche sei, welche als Zeichen oder als Veranlassung einer Geisteszerrüttung erscheint. Lässt sich der erstere Ausspruch geben, so ist überhaupt kein Gegenstand zur weiteren =strafgerichtlichen= Untersuchung vorhanden, sondern es muss die Kriminaluntersuchung =unterbleiben=, weil kein Verbrechen =begangen= wurde. Lässt sich dieser Ausspruch jedoch =nicht= geben, entweder weil der Zustand sich nicht so deutlich ausspricht, um ohne weitere Erhebung sogleich die Gewissheit zu liefern, dass sich der Mensch im Augenblicke der That im gleichen Zustande wie in dem Zeitpunkte, wo die ärztliche Untersuchung Statt hatte, befunden habe, oder weil die Entscheidung über den Umstand, =ob= die That, und =inwiefern ganz allein= durch die vorhandene =Abnormität= seines Zustandes bedingt sei, ohne weitere gerichtliche Erhebung nicht gegeben werden kann, so muss die gerichtliche Untersuchung ihren Gang weiter =fortsetzen=, in welcher Beziehung dann die =ärztliche= Beurtheilung des Gemüthszustandes einen =wesentlichen= Bestandteil der gerichtlichen Untersuchung bilden wird. Zu diesem Zwecke ist es dann nothwendig, dass nicht nur =der Arzt= von jeder, gegen den Inquisiten gepflogenen Erhebung, sofern sie dessen persönliche Verhältnisse betrifft, =in Kenntniss= gesetzt werde, sondern dass er auch =angebe=, welche =Erhebungen= in dieser Beziehung =nöthig= sind, und diese Erhebungen, sofern hiezu besondere =ärztliche Kenntnisse= gehören, im Einverständnisse mit dem Gerichte auch =selbst vornehme=, z. B. Unterredungen mit dem Verhafteten pflege, oder zwischen letzterem und seinen Angehörigen veranstalte u. s. w. Der Arzt wird sich auch hierin nur durch die Grundsätze der Wissenschaft, durch die vorhandenen Umstände, und durch den Zweck der Erhebung, welcher die Ausmittlung des Verhältnisses der bestimmten That zu dessen Vorstellungsthätigkeit zum Gegenstande hat, bestimmen lassen, in =formeller= Beziehung aber nur so viel zu beobachten haben, dass kein Schritt seinerseits =ohne= Einvernehmen mit dem Gerichte geschehe, damit dieses einerseits in der Lage sei, das Ergebniss einer solchen Erhebung sogleich zu =konstatiren=, was besonders dort nothwendig ist, wo dasselbe zum =Nachtheile= des Inquisiten ausfällt, und er (Inquisit) darüber zur =Verantwortung= gezogen werden kann, und andererseits darüber zu wachen, dass nicht ärztlicherseits Schritte geschehen, =welche auf die gerichtliche Untersuchung von nachtheiligem Einflusse sein könnten=, was z. B. bei Fragen der Fall wäre, welche Umstände an dem Inquisiten verriethen, welche diesen, besonders im noch nicht entschiedenen Falle, ob der Inquisit sich =verstellte=, zur Zeit ihm nicht =eröffnet= werden =dürfen=, oder endlich, um überhaupt darüber wachen zu können, dass von Seite des Arztes nichts geschehe, =was die Gesetze nicht gestatten=. Dass etwas von =letzterer= Art von Seite des Arztes =nicht leicht= geschehen wird, leidet keinen Zweifel, allein da das Gericht für den Akt überhaupt =verantwortlich= ist, so liegt die =Ueberwachung= der letzteren Art entschieden in seinem =Berufe=, und muss daher hier besonders aufgeführt werden. §. 48. Die natürliche Folge dieser Prozedur wird sein, dass jede Erhebung des Richters von Seite des Arztes in ihrer =pathologischen= oder =psychischen Bedeutung gewürdigt= werde, und dass eben so der Ausspruch des Arztes insofern der richterlichen Beurtheilung unterzogen wird, =ob die Thatsachen, worauf er sich stützt, richtig, und gerade so und nicht anders seien, als der Arzt sie annimmt, und wenn ein Widerspruch in der Ansicht des Arztes und jener des Richters obwaltet, die Aufklärung, worin dieser Widerspruch bestehe, und dessen mögliche Behebung veranlasst werde=. Wenn es anders möglich ist, zu einem für die Gerichtspflege entscheidenden Resultate zu gelangen, so kann es =nur= auf diesem Wege geschehen, denn jeder andere Weg muss Lücken und Widersprüche erzeugen. -- Auf diesem Wege aber ist es dem Richter erst möglich -- seine =Bedenken= gegen den normalen Geisteszustand des Untersuchten, oder sein Bedenken gegen den =Ausspruch des Arztes=, welche auch dem Richter nur auf diesem Wege hinlänglich klar werden können, in =ordentliche Fragen= zu kleiden, die sich aber nicht auf =einmal=, oder in einem =bestimmten Stadium= der Untersuchung, sondern nur =allmälig=, wie sich die verschiedenen Ergebnisse eben gestalten, werden stellen lassen. Eben auf diesem Wege wird es aber auch für beide Theile erst möglich werden, die übrigen vorhandenen Umstände in ihrer Beziehung zum Geisteszustande des Untersuchten zu =gewahren= und recht =würdigen= zu können, so wie überhaupt einen sachgemässen Gang der Untersuchung zu erzielen. Ist nun auf diese Art der ganze Untersuchungsprozess durchgeführt, und nichts mehr zu erheben, so ist =erst= von Seite des Arztes =ein umfassendes Gutachten= möglich. Dieses Gutachten muss nun der Natur der Sache nach von dem ersten Schritte, nämlich der =ersten pathologischen Untersuchung= beginnen, und historisch die zur Erhebung des Geisteszustandes eingeleiteten Schritte und deren Ergebnisse darstellen. Es muss sich sodann, zur möglichen Beurtheilung, inwiefern der gegenwärtige, oder der zur Zeit der verübten That vorhanden gewesene Zustand nicht etwa nur =fingirt= war, über das =frühere Leben= des Inquisiten verbreiten, und aus =Thatsachen=, welche angeführt, und über deren =Wahrscheinlichkeit=, sofern sie nicht vollkommen erwiesen sind, so wie über deren pathologische Bedeutung, sich in ärztlicher Beziehung ausgesprochen werden muss, die Nachweisung geliefert werden, ob und inwieweit der =gegenwärtige=, oder =zur Zeit der That= Statt gefundene Zustand des Inquisiten sich als ein =früher schon= vorhandener, und daher nicht verstellter oder blos fingirter darstelle. Sofern es in medizinischer Beziehung nöthig scheint, ist auf die Zustände der =Eltern=, =Geschwister= des Inquisiten u. s. w. zurückzugehen, insbesondere aber darzustellen[26], ob in seinem Leben nicht =Momente= vorkommen, welche zu einer =Abnormität= bei demselben Veranlassung gegeben haben konnten, ein =Stoss=, ein =Fall=, eine =Krankheit=, =geheime Sünden=, =Eintritt= oder =Ausbleiben= der =Catamönien=, oder =Schwangerschaft= beim weiblichen Geschlechte etc., und ob und von welchem Einflusse diese Ereignisse auf den gegenwärtigen Zustand sind oder sein können; wenn allenfalls ein Bedenken von Seite des Richters obwaltet, welches der Arzt nicht theilt, so ist auszusprechen, =ob sie den vom Richter als möglich angenommenen Einfluss= etwa entschieden =nicht= haben können, oder wo ein bestimmter Ausspruch nicht möglich ist, so ist =ausdrücklich= anzugeben, dass und =warum= ein solcher Ausspruch nicht möglich ist. [26] Eine wesentliche Bedingung einer zweckmässigen Darstellung ist, dass eine vollständige =Krankengeschichte= erhoben wäre. Welche Punkte eine solche Krankengeschichte enthalten muss, um vollständig zu sein, ist bei §. 52 umständlich angegeben. Nach dieser Darstellung, deren Wichtigkeit und =Unerlässlichkeit= wohl keiner meiner verehrten Leser verkennen wird, kann erst derjenige Theil des Befundes und das Gutachten kommen, welches der =Richter= bedarf, um über die =Zurechenbarkeit= der That überhaupt, so wie über den Grad der Strafbarkeit der That, d. h. inwiefern der sich als sträflich darstellende Theil desselben als ein Produkt der =freien= Selbstbestimmung kann betrachtet werden[27], zu entscheiden. [27] Von einem =Grade= der =Zurechenbarkeit= zu sprechen ist eben so =unlogisch=, als von einem Grade der =Freiheit=; was =zugerechnet= werden kann, ist eben so =ganz und gar= zuzurechnen, als der Mensch, wo er frei, d. h. nicht gezwungen ist, auch gänzlich frei ist. Freiheit und Zurechenbarkeit sind =Begriffe=, wo aber vom Begriff ein wesentliches Merkmal fehlt, ist nicht der =halbe= Begriff, sondern der =ganze= Begriff aufgehoben. Im gemeinen Leben nimmt man es hierin nicht so genau, man sagt z. B. Jemand sei =halb todt= geschlagen, =halb verhungert= u. s. w., dies sind =Redefiguren=, von welchen Jeder weiss, was er darunter zu denken hat. Bei einer =wissenschaftlichen= Erörterung =schaden= aber derlei Verstösse gegen die Logik. Spricht man z. B. von einer =halben= Freiheit, so lässt sich leicht beweisen, dass es ein logischer Widerspruch ist, von einer =halben Freiheit= zu sprechen; wenn nun Derjenige, welcher sich des Ausdruckes bediente, für die =Sache=, welche er hiermit bezeichnen wollte, keinen passenden Ausdruck findet, so bleibt ein =wirkliches= Verhältniss =unerörtert=, und dadurch kann eine für die Rechtspflege =sehr schädliche Lücke= entstehen. Die auf solche Art zu liefernde Nachweisung hat nun die Aufgabe, aus den genommenen Daten die Ideenassociation, welche den Beschuldigten bei Begehung der That begleitet hat, =nachzuweisen=, und nach Möglichkeit =darzuthun=, ob und inwiefern die That das Produkt einer =krankhaften= Ideenassociation ist oder =nicht=, oder ob sie etwa gar aus keiner =Ideenassociation= entspringt, sondern (wie bei der Raserei) das Produkt einer abnormen überwiegenden physischen Thätigkeit, oder, wie beim Blödsinn, die Folge des mangelnden Gegengewichtes durch die dem Subjekt =mangelnden=, bei jedem andern normal beschaffenen Subjekte sonst vorhandenen, einer entstandenen Vorstellung oder einem geäusserten Triebe =entgegengesetzte= Vorstellung sei. Lässt sich auf diese Weise kein bestimmter Ausspruch erzielen, so müssen die Gründe, welche der Richter für die Geistesfreiheit zu haben glaubt, noch einer besondern =ärztlichen= Begutachtung unterzogen werden, um richtigzustellen, ob ihrer objektiven Richtigkeit nicht =ärztlicher= Seits gegründete =Bedenken= entgegenstehen. Wenn also der Befund auf obige Weise abgegeben ist, so stelle der Richter seine Fragen in diesem Sinne, um das etwa noch Mangelnde oder einer näheren Aufklärung Bedürfende ergänzen zu machen, und der ärztliche Ausspruch wird dann zuverlässig dem Bedürfnisse der Strafrechtspflege entsprechend sein, oder wenn er es =nicht= sein sollte, mit geringer Nachhilfe entsprechend gemacht werden. §. 49. Was die Rechtswirkung eines solchen Ausspruches betrifft, so wird sie verschieden sein, je nachdem dieser Ausspruch auf =apodiktische= Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft selbst, oder ob sich derselbe auf =hypothetische= Schlussfolgen des untersuchenden Arztes gründet, es mögen diese letzteren nun auf Hypothesen, bezüglich der Thätigkeit =des Untersuchten selbst= (z. B. als Ergänzungen von Thatsachen, die nicht vollkommen erörtert werden können), oder auf hypothetische Annahmen der =Medizin selbst= gegründet sein. Nur die =ersteren= Stützen, nämlich die =apodiktischen= Sätze, liefern einen =rechtlichen= Beweis zum =Nachtheile= des Inquisiten. Die =letzteren=, so wahrscheinlich sie übrigens =an und für sich=, oder nach der =Autorität= derjenigen Personen, welche sie ausgesprochen haben, sein mögen, können nicht als ein Beweis =gegen= den Beschuldigten gelten, sofern ihre Beweiskraft nicht durch =Thatsachen=, welche =objektive= Gewissheit haben, vollkommen erwiesen wird. Im Gegentheile aber können derlei Behauptungen zu =Gunsten des Inquisiten= als ein ihn von Strafe freisprechendes oder die Strafe milderndes Argument angenommen werden, weil sie immerhin =so viel= beweisen, dass die Sache sich =möglicher= Weise so verhalten =könne=, wie die Sachkundigen sagen; wenn daher nicht =nachgewiesen= werden kann, dass ihre Angabe auf einem =Irrthume= beruhe, so ist kein Grund vorhanden, sie =nicht zu Gunsten= des Inquisiten =gelten= zu lassen, während sich in dem Falle, wo es sich darum handelt, den Inquisiten auf Grund ihrer Angaben =straffällig= zu finden, noch immer die Möglichkeit einwenden und =nicht widerlegen= lässt, dass sich die Kunstverständigen geirrt haben können. Ist z. B. der Fall vorhanden, dass Jemand, welcher erwiesenermassen in einer fixen Idee lebt, eine =sträfliche=, dieser fixen Idee entsprechende That begangen hat, so wird, wenn die Aerzte nachweisen, die That liege blos in der durch diese fixe Idee hervorgebrachten physischen Thätigkeit, die =Lossprechung= erfolgen müssen, weil sich ihre Behauptung einerseits durch die Beobachtung des Untersuchten, wonach der Umstand, dass er von dieser fixen Idee behaftet ist, =ausser Zweifel gesetzt erscheint=, andererseits aber auf =Axiome= der medizinischen Wissenschaft über die Möglichkeit und den Einfluss der fixen Idee gründet. Ihre Ansicht würde aber vom Richter =nicht= so =unbedingt= anzunehmen sein, wenn sie etwa dahin lautet: „Der Mensch =litt zwar= an der fixen Idee N. N., die That =entspricht= auch derselben, allein da hier nach genauer Beobachtung diese Idee =nicht= im Spiele war, so kann die That =nicht= als ein Produkt derselben angesehen werden,” denn dieser Ausspruch wäre =zweifelhaft=, da immerhin der Zweifel erübrigt, ob der Arzt, der dieses sagt, den psychischen Zustand auch =richtig aufgefasst= und nicht etwas =übersehen= und unberücksichtiget gelassen habe, welches, wenn es gewürdigt worden wäre, doch Anwendbarkeit des wissenschaftlichen Axioms auch =in diesem Falle= würde gestattet haben. Es folgt daher, dass der Arzt verpflichtet ist und vom Richter eben so sehr darauf =gedrungen= werden müsse, dass bei jeder =Behauptung= im Befunde oder im Gutachten angegeben werde, ob sie blos die =Ansicht= des begutachtenden =Arztes= enthalte, oder ein durch =objektive= und durch =welche= objektive Beobachtungs-=Ergebnisse= vom untersuchenden =Arzte= gewonnenes Resultat, oder ob sie ein entschiedenes Ergebniss der =Wissenschaft= sei, und im letzteren Falle, =warum= die Behauptung ein =Axiom= der Wissenschaft genannt werde, d. h. ob bereits Schriftsteller, und welche, sie als ein solches Axiom betrachten, und auf welcher, etwa für jeden Menschen zu beobachtenden, Erfahrung sie beruhen. Von der Richtigkeit der ersten Art von Behauptungen kann und muss sich der Richter so viel möglich durch =eigene= Anschauung, von der Richtigkeit der letzteren, im Falle des Zweifels, durch Einholung von Fakultätsgutachten die Gewissheit verschaffen. §. 50. Der =dritte= Fall, wo ein ärztliches Gutachten über den Geisteszustand eines Inquisiten benöthiget werden kann, tritt dann ein, wenn sich nach geschlossener Kriminaluntersuchung und nach bereits erflossenem Urtheile Spuren von Verrücktheit an dem Inquisiten zeigen. Da ein Verrückter den Sinn eines Strafurtheiles aller Wahrscheinlichkeit nach nicht =auffassen=, eben so wenig aber in dem Uebel, welches ihm zugefügt wird, eine =Strafe= erkennen kann, ja sogar das Uebel der Strafe auf seinen Zustand nachtheilig wirken könnte, so verordnet das österreichische Strafgesetzbuch §. 445, I. Theil, „dass in diesem Falle die Kundmachung des Urtheiles zu unterbleiben habe, bis der Verrückte wieder zur Vernunft gelangt ist.” Aus diesen Worten des Gesetzes ergibt sich daher, dass die ärztliche Untersuchung hier lediglich eine =pathologische= sei, und der Ausspruch daher nichts weiter, als die auf pathologische Gründe gestützte Erklärung enthalten dürfe, der Inquisit =sei verrückt=, oder er sei =wieder genesen=. Nur in dem Falle wäre seine =Pflicht=, in seinem Ausspruche =weiter= zu gehen, wenn ihm etwa aus sonstigen Daten die Möglichkeit auffiele, dass dieser Zustand auch schon =früher= vorhanden und =auf die That= von Einfluss gewesen sei. -- Eine solche Bemerkung müsste ausdrücklich gemacht werden, um dem Richter als Anhaltspunkt zur weitern Erhebung zu dienen. Es scheint daher der Tendenz des Gesetzes vollkommen gemäss, dass der Richter durch Mittheilung der nöthigen Aktenstücke an den Arzt sich die Gewissheit verschaffe, dass =kein= solches Bedenken obwaltet, weil im Falle der =Begründung= eines solchen Bedenkens das Urtheil selbst nothwendig eine Abänderung erleiden müsste. B. Beim Civilverfahren. §. 51. Der Zweck der Erhebung des Irrsinnes im =Civilverfahren= ist ein ganz anderer als jener im Strafverfahren, denn hier handelt es sich in der Regel nicht darum, in welchem Verhältnisse die Vorstellungsthätigkeit zu einer =bestimmten= äusseren Thätigkeit stehe, sondern lediglich =darum=, ob man einem Menschen, =ohne ihn der Gefahr auszusetzen, dass er sich oder einem Anderen= an der Person oder an bürgerlichen Rechten =Schaden zufüge=, seiner Freiheit überlassen könne. Eine Ausnahme von dieser Regel bildet lediglich der Fall, wo es sich darum handelt, einen bestimmten =rechtlichen Akt= als =ungiltig= zu erklären, =weil= er in einem Zustande Statt hatte, von welchem es glaublich ist, dass der Handelnde nicht genau wusste was er that. Es ergibt sich daher, dass es sich in einem solchen Falle der ersteren Art lediglich um die Frage handelt: besitzt der Mensch jene Richtigkeit der geistigen Funktionen, welche man bei Denjenigen voraussetzt, denen vermöge der gesetzlichen Bestimmung die Verwaltung ihrer Rechte freigestellt ist? -- Also diejenige =Ueberlegung= und =Beurtheilung=, welche dort, wo das Gesetz etwa das Alter von 24 Jahren als jenes der bürgerlichen Freiheit festsetzt, einem =minder= begabten, jedoch nicht =schwachsinnigen= Menschen in diesem Alter zukommt. Da es sich hier nun nicht darum handelt, dem zu Untersuchenden =ein Uebel= zuzufügen, sondern im Gegentheile ihn =gegen= ein Uebel, das er sich selbst oder Anderen zufügen könnte, zu =bewahren=, so wird auch die Erhebung nicht mit jener =Strenge= durchzuführen sein, wie beim =Strafverfahren=, sondern es wird in der Regel genügen, wenn nur =eine= oder die andere =unmotivirte Thatsache= vorliegt und durch ein =ärztliches= Gutachten nachgewiesen wird, dass =das Motiv= dieser Thatsache, wenn auch nur =theilweise=, in einer =Geisteszerrüttung= liege. Ja es wird auch genügen, wenn der Richter nach genauer Untersuchung mehrere Thatsachen entdeckt, welche =unmotivirt= und von =nachtheiligem= Einflusse sind, sich aber durch den ärztlichen Ausspruch die Ansicht, dass der Mensch geistesverwirrt sei, nicht bestimmt =widerlegt=. Nach dem für das Civilverfahren in Oesterreich geltenden Verfahren des Gesetzes gehört auch der Ausspruch, ob ein Mensch für wahn- oder blödsinnig solle gehalten werden, nach §. 273 des bürgerlichen Gesetzbuches: „dass nur Derjenige dafür soll gehalten werden, welcher nach genauer Erforschung seines =Betragens=, und nach Einvernehmung der vom Gerichte =ebenfalls= hierzu verordneten Aerzte =gerichtlich= dafür erklärt ist,” entschieden der Gerichtsbehörde zu. Um übrigens in dieser Beziehung nicht schon Gesagtes zu wiederholen, kann ich nur auf dasjenige verweisen, welches in meinem „Handbuche der gerichtlichen Arzneikunde” im VIII. Hauptstücke der II. Abtheilung über diesen Gegenstand bereits gesagt wurde. * * * * * Zum Schlusse dieses Aufsatzes erlaube ich mir hier noch eine am 24. März 1843, Z. 11,500, ergangene Verordnung der hochlöbl. k. k. niederösterr. Regierung aufzuführen, weil dieselbe ein Formular zur Verfassung der Krankengeschichte irrsinniger Personen zum Behufe der Abgabe in eine öffentliche Irrenanstalt enthält, welches sowohl an und für sich für den Fall, als eine solche Abgabe vorkommt, als auch in gerichtlich-medizinischer Beziehung von Wichtigkeit ist, weil dieses Formular in der That die wesentlichsten Punkte enthält, welche in dem Befunde bei einem solchen gerichtlichen Akte aufzunehmen kommen. Diese Verordnung lautet folgendermassen: Da sich der Fall so oft wiederholt, dass bei Ueberbringung eines Geisteskranken in die öffentlichen k. k. Irrenanstalten ungenügende und höchst mangelhafte Krankengeschichten einlangen, so fand sich die Regierung veranlasst, ein Formular zur Ausstellung solcher Krankheitsgeschichten zu entwerfen und in Druck legen zu lassen, zur Vertheilung an die angestellten und praktischen Aerzte, welche sämmtlich anzuweisen sind, sich die im Formulare enthaltenen Fragepunkte bei Erstattung von Krankengeschichten, Behufs der Ueberbringung eines Geisteskranken in eine öffentliche Irrenanstalt, gegenwärtig zu halten. =Formular zur Ausstellung von Krankengeschichten geisteskranker Personen, Behufs ihrer Aufnahme in eine öffentliche Irrenanstalt.= 1. Name, Alter, Stand, Beschäftigung, Geburtsort und letzter Aufenthaltsort des (der) Kranken. 2. Was für Krankheiten (Kinder-, Entwicklungs- und andere Krankheiten) überstand dieses Individuum bis zum Beginne dieser Geisteskrankheit? Hier sind auch die erlittenen Verletzungen, besonders die des Kopfes, anzumerken. 3. Litt das Individuum früher schon an Irrsinn? Wie oft und wie lange war es schon in einer Irrenanstalt? Wie wurde es aus solcher entlassen[28]? [28] Bei gerichtlich-medizinischen Untersuchungen wird noch zu beantworten sein: wie oft und wie lange zeigte sich das Individuum auch ohne Statt gefundene Ueberbringung in ein Irrenhaus als irrsinnig, wie wurde es behandelt, wie endete der Zustand, und insbesondere: auf wessen Aussage gründen sich die diesfälligen Angaben? 4. Hinsichtlich der disponirenden und veranlassenden Momente sind besonders noch folgende zu berücksichtigen: _a_) Physische Momente, als erbliche Anlage, wobei zu erforschen ist, welche Blutsverwandte des (der) Kranken an Irrsinn litten, oder noch leiden, körperliche Entwicklung, Geschlechtsleben, monatliche Reinigung, Schwangerschaften, Kindbetten u. s. w.[29] [29] Nach einer für das Land ob der Enns erlassenen, später näher bezeichneten ähnlichen Weisung ist sich auch über den Gesundheitsstand der Eltern im Allgemeinen, bezüglich des ersten Punktes, auszusprechen; in Betreff des zweiten und des vierten Punktes sind als besonders zu berücksichtigende Momente vorgeschrieben: der Vorgang bei der Geburt, mit Bedachtnahme der hierbei etwa erlittenen Verletzungen, spätere Misshandlungen, frühzeitige allzu grosse Anstrengungen, Erscheinungen bei dem Hervorkommen der Zähne, Ablagerung von Ausschlagsübeln, Onanie. _b_) Psychische Momente, als: Erziehung, Entwicklung der intellectuellen und moralischen Fähigkeiten, religiöse Tendenz, moralische Aufführung, Umgang mit Anderen, vorherrschende Neigungen und Lieblingsbeschäftigungen, Leidenschaften, häusliche Verhältnisse, die merkwürdigeren Lebensereignisse und der Einfluss, den diese auf das Gemüth und den Geist des (der) Kranken gehabt hatten[30]. [30] Nach der vorerwähnten Verordnung sind insbesondere der Einfluss der Lecture, Schauspiele etc. auf eine etwaige Verbildung zu berücksichtigen. 5. Wann und wie äusserten sich die ersten Spuren dieser Geisteskrankheit? 6. Welchen Verlauf nahm diese Geisteskrankheit von ihrem ersten Auftreten bis zum Tage der Untersuchung? Welche abnorme Erscheinungen zeigten sich von physischer und psychischer Seite? Wodurch wurden Rückfälle und Verschlimmerungen, wenn solche Statt fanden, veranlasst[31]? [31] Nach obiger Verordnung Angabe der dem Ausbruche vorhergegangenen Ereignisse, namentlich jene, welche heftige Gemüthsbewegungen veranlasst haben. 7. Wurde diese Geisteskrankheit schon ärztlich behandelt? Worin bestand diese Behandlung und was hatte sie für einen Erfolg? 8. Was für ein Bild bietet diese Geisteskrankheit bei der gegenwärtigen Untersuchung dar? Hier sollen alle physischen und psychischen Krankheitssymptome[32], wie sie eine genaue und umfassende Erforschung entdeckt, aufgezeichnet werden. [32] Nach obiger Verordnung noch: Beweise, dass der Kranke Handlungen unternommen habe, welche ihm und Anderen hätten gefährlich werden können, dass diese jedoch in der Krankheit wirklich begründet, nicht aber Folgen zufälliger und vorübergehender Veranlassungen gewesen sind. 9. Diagnostische Entwicklung und Benennung der speziellen Krankheitsform[33]. [33] Nach der obigen Verordnung gehören insbesondere folgende Momente in diese und die folgende Nummer. 9. Die wahrscheinlichen äusseren Bedingungen, welche bei vorhandener innerer Anlage die Krankheit erzeugen konnten. Hinsichtlich der äusseren Einflüsse ist einestheils auf die allgemeinen Einflüsse der Natur und Umgebung, z. B. atmosphärische Luft, Jahreszeit, Wohnort, Nahrung, Getränke, Bekleidung, Beschäftigung, Lebensart, Einwirkung von Giften, besonders betäubender Art, Missbrauch gewisser Arzneimittel, des Aderlassens, Purgirens oder der geistigen Getränke, endlich auf Unglücksfälle, häusliche Ordnung Rücksicht zu nehmen. 10. Wann endlich eine ärztliche Behandlung der Krankheit Statt gefunden habe, welche Mittel, sowohl pharmaceutische als psychische, seit dem Ausbruche des Uebels und im ganzen Verlaufe desselben angewendet, wann, wie lange und unter welchen Bedingungen eine besondere Kurmethode versucht worden, welche Bändigungsmittel man benützt und welche Behandlung der Kranke von seinen Wärtern genossen habe. 10. Eignet sich der (die) Kranke mehr für die Abtheilung der heilbaren oder für jene der unheilbaren Geisteskrankheiten, und worin besteht die Gefahr, die man für ihn (sie) oder für seine (ihre) Umgebung und öffentliche Sicherheit zu besorgen hat? * * * * * Eine ähnliche Verordnung über die Verfassung der Krankengeschichte enthält auch die obderennsische Regierungsverordnung vom 5. Oktober 1833, Z. 28,281, welcher noch folgende hierher gehörige Weisung beigefügt ist: Die Angehörigen des Irrgewordenen sind verpflichtet, alsogleich nach dem Ausbruche der Krankheit die Anzeige hiervon bei der gehörigen Ortsobrigkeit zu machen, widrigens hat in Gemässheit des Strafgesetzbuches II. Theil, §. 140 (siehe mein „Systematisches Handbuch” §. 106) die Strafe des Arrestes von drei Tagen bis zu einem Monate einzutreten, je nachdem nämlich ein solcher Zustand lange verhehlt worden war, oder aber dessen Folgen wichtiger und nachtheiliger gewesen sind. Es liegt ihnen ferner ob, sobald der herbeigerufene Arzt in Anbetracht der Ungewissheit eines guten Erfolges der häuslichen Pflege die Unterbringung des Kranken in der Irrenanstalt für räthlich erklärt, um ihre Vermittlung bei der obrigkeitlichen Behörde anzusuchen, und die Anordnung des Arztes, gleichwie die Verfügung der Obrigkeit genau zu befolgen. In solchen Fällen hat demnach die Behörde, sobald die Angehörigen eines Irrgewordenen dessen Unterbringung in die Anstalt verlangen, oder wenn selbe schon an und für sich als nothwendig erscheint, das mit dem ärztlichen Zeugnisse über die eingetretene Geisteszerrüttung, ferner mit der Krankengeschichte und der ämtlich beglaubigten Haftungsurkunde zur Sicherstellung der Verpflegsgebühren belegte diesfällige Ansuchen schleunigst und nach voranstehender Weisung vollständig instruirt an die k. k. Landesregierung einzusenden, als jede wahrgenommene Nachlässigkeit geahndet werden soll. Da es in jenen Fällen, in welchen der Kranke keine ärztliche Behandlung genossen hat, unmöglich ist, eine vollständige Krankengeschichte einzusenden, so hat der zeugnissausstellende Arzt die vorausgegangenen Ereignisse, Umstände und Krankheitszufälle, so viel ihm möglich ist, einzuholen, und den Zustand, in welchem er den Irren fand, genau zu beschreiben; ist aber der Geisteskranke ein völlig Fremder, oder nur weniger bekannt, dann soll =von Seiten der Behörde= mit jenen Personen, die den Erkrankten zu kennen vorgeben und Einiges über seine Verhältnisse auszusagen im Stande sind, ein Protokoll, welches die nöthigen Aufklärungen über die vorwärts (bei der Krankengeschichte) angedeuteten Punkte gewährt, aufgenommen und eingesendet werden, um hierdurch die ausserdem unentbehrliche Krankengeschichte zu ersetzen. Der zur Aufnahme in die Heilanstalt bestimmte Kranke ist, nachdem der Irrenhausarzt das ihm zugekommene ärztliche Zeugniss sammt der Krankengeschichte, die Versorgungsverwaltung aber den Zahlungsrevers zur ferneren Benützung zurückbehalten hat, wenn es nöthig sein sollte einer allgemeinen Säuberung seines Körpers zu unterziehen, und nach Thunlichkeit mit reiner Leibwäsche so wie mit Kleidungsstücken in hinreichender Menge zum fernern Wechsel zu versehen, und sobald es geschehen kann auf die angemessenste Art und mit der nöthigen Vorsicht an die Anstalt einzusenden. Dass er übrigens in den meisten Fällen weder völlig frei noch in Ketten transportirt werden dürfe, versteht sich in unserer Zeit wohl von selbst; eine feste Zwangsjacke wird jedoch beinahe jederzeit den Zweck der Beschränkung vollkommen erfüllen, und nur bei jenen, welche einen mächtigen Trieb zum Entspringen äussern, dürfte das Anlegen einer einfachen Fussgurte genügen. * * * * * Mit Regierungsdekret von 5. Oktober 1833, Zahl 28,281, wurden die Erfordernisse zur Aufnahme in das Linzer Irrenhaus bekannt gegeben. Unter diesen Erfordernissen ist auch die Anordnung begriffen, dass das Dasein des Wahnsinnes durch das Zeugniss =eines= Kreis-, oder Bezirks-, oder Stadtarztes darzuthun kommt. Es wurden daher bisher vorzüglich auf den Grund des Zeugnisses Eines Arztes die betreffenden Individuen als irrsinnig anerkannt, in das Irrenhaus abgegeben, folglich faktisch als irrsinnig erklärt. Allein dieser Vorgang gewährt nicht die vollkommene Beruhigung, dass jeder Missgriff oder jede Irrung hinsichtlich der Unterbringung eines Individuums in die Irrenanstalt, ohne der Rechtlichkeit der die Zeugnisse ausstellenden Aerzte nahe zu treten, hintangehalten werde, besonders, da oft die vorgeschriebenen Krankengeschichten mangelhaft verfertiget sind oder gar nicht beigebracht werden können. Dagegen wird durch die genaue Beobachtung des §. 273 des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches die grösstmöglichste Beruhigung verschafft, dass Niemand als irrsinnig behandelt, daher in die Irrenanstalt abgegeben wird, welcher nicht wirklich mit Wahnsinn behaftet ist, denn nach diesem für die Behörden und für die Unterthanen verbindenden Gesetzbuche darf blos =Derjenige als irrsinnig anerkannt und behandelt, folglich in einer Irrenanstalt untergebracht werden, welcher von der kompetenten Gerichtsbehörde, nach der vorausgegangenen Erforschung seines Betragens über Einvernehmen= $zweier$ =Aerzte, als wahnsinnig erklärt wird=. Daraus folgt nun, dass in der Regel die gerichtliche Irrsinnigkeitserklärung eines Individuums =vorauszugehen= hat, bevor dasselbe in das Irrenhaus abgegeben werden darf. Die Regierung fand daher zum =Schutze der Freiheit und Ehre der Personen=, so wie zur Hintanhaltung jedes Missbrauches laut Dekret vom 10. Dezember v. J., Zahl 31,269, sich bewogen, die erwähnte Regierungsverordnung vom Jahre 1833 dahin zu modifiziren, dass die Aufnahme eines Individuums in das Irrenhaus =nur in dem Falle bewilligt= werden wird, wenn von Seite der kompetenten Gerichtsbehörde die Irrsinnigkeitserklärung desselben =erfolgt sein=, und diese gerichtliche Verfügung sammt der Anzeige des =aufgestellten Kurators= des Irrsinnigen dem Einschreiten der Unterbehörden um die Aufnahme in das Irrenhaus beigelegt sein wird. Wenn jedoch der Geisteskranke dergestalt in =Tobsucht= und =Raserei= verfallen sollte, dass derselbe ohne Gefahr für die Lebens- oder Eigenthumssicherheit überhaupt, oder nur seiner nächsten Umgebung, nicht mehr länger bei seiner Familie, oder bei den Angehörigen, oder in seiner Wohnung belassen werden kann, so wird auf das Einschreiten der politischen Unterbehörden, insofern in demselben diese mit Gefahr für die Umgebung verbundene Irrsinnigkeit von =zwei Aerzten= bestätiget ist, =wegen Gefahr auf Verzug= die Aufnahme in die Irrenanstalt =alsogleich=, jedoch nur =provisorisch= und blos gegen dem bewilligt werden, dass die vorschriftmässige gerichtliche =Irrsinnigkeitserklärung= der hohen Regierung bald thunlichst =nachträglich= vorgelegt werde. Um Missverständnissen vorzubeugen, wird ausgesprochen, dass unter dem Ausdrucke: =Aerzte=, =keineswegs die Wundärzte=, sondern blos die =Doktoren der Medizin= verstanden werden, weil nicht die Ersteren, sondern die Letzteren berufen sind, über Geisteskranke ein Gutachten abzugeben. (Cirkular des Kreisamtes zu Salzburg vom 15. Februar 1843, Zahl 1485.) * * * * * Aus diesen Verordnungen erhellt, dass von Seite der höheren Behörden die Aufnahme in eine Irrenanstalt nicht nur als eine Sanitätsmassregel, sondern auch in der Beziehung betrachtet wurde, dass nicht etwa ein Individuum aus Böswilligkeit für irrsinnig erklärt und dadurch seiner Freiheit verlustig werde. So wie für das Land unter und ob der Enns, bestehen nun ähnliche Verordnungen in allen Provinzen, in welchen Irrenhäuser bestehen, es ist daher die Pflicht eines jeden praktizirenden Arztes, sich mit den für die Provinz, in welcher er seine Praxis ausübt, bestehenden Verordnungen bezüglich dieses Gegenstandes bei Zeiten bekannt zu machen, um in einem vorkommenden Falle dieser Art keine Missgriffe zu begehen. Nachfolgende Verordnung, als von der Hofbehörde erflossen, ist in allen österreichischen Staaten, mit Ausnahme der ungarischen und siebenbürgischen Länder, giltig: Zufolge Hofdekretes vom 28. August 1837, Zahl 4647, wurde sämmtlichen Gerichtsbehörden aufgetragen, dass sie jedesmal, wenn eine Person als wahn- oder blödsinnig erklärt wird, das Resultat der diesfälligen über den Geisteszustand gepflogenen Amtshandlung, so wie den Namen des Vaters, Vormundes oder gerichtlich bestellten Kurators des irr- oder blödsinnigen Individuums der betroffenen Behörde, welcher die Verwaltung des Irrenhauses oder der diesfälligen Anstalt, worin der Wahn- oder Blödsinnige untergebracht wird, zugewiesen ist, unverweilt bekannt geben sollen, um sogleich entnehmen zu können, wem die Vormundschaft oder Kuratel anvertraut worden sei. (Band 19. der Provinzial-Gesetzsammlung für Oesterreich ob der Enns Nr. 105, Seite 172.) IV. Ueber die Erhebung zweifelhafter Gemüthszustände. Allgemeine Bemerkungen. §. 52. Der bekannte italienische Dichter Graf _Alfieri_ erzählt aus seinem Leben folgendes Ereigniss: Er hatte in England eine sehr vertraute Bekanntschaft mit einem Frauenzimmer, in welche er in der That sterblich verliebt war, wurde auch durch dieses Verhältniss in ein Duell verwickelt, in welchem er mit einer leichten Wunde davon kam, welches Duell jedoch einen Ehescheidungsprozess zur Folge hatte, der öffentlich verhandelt und daher in den öffentlichen Blättern besprochen wurde. Man denke sich nun seine Empfindung, als ihm ein solches Blatt eines Morgens zu Gesicht kam, in welchem die Liebesintriguen seiner Geliebten dargestellt waren, woraus jedoch hervorging, dass nicht =er= darin die Hauptrolle spielte, sondern dass diese bereits =vor= ihm von einem Bedienten derselben besetzt war, und ihm also nur die Nebenrolle zugetheilt gewesen sei. Dennoch konnte er es nicht über sich gewinnen, sie zu verlassen; er zog mit ihr auf den Kontinent, besuchte Italien, wurde von wüthender Eifersucht geplagt, in der er ihr täglich die bittersten Vorwürfe machte, und sie seiner tiefsten Verachtung versicherte, aber doch noch immer bei ihr blieb. In dieser Stimmung, die sein ganzes Wesen in eine fieberhafte Aufregung versetzt hatte, liess er sich eines Abends von seinem Bedienten, mit dem er nicht nur sehr zufrieden, sondern auch in einer Art von Vertraulichkeit war, die Haare kräuseln. Unglücklicher Weise rupfte ihn dieser ein wenig. _Alfieri_ sprang nun wüthend auf, ergriff den auf dem Tische stehenden Armleuchter und warf ihn dem Bedienten zum Kopfe, welcher dadurch glücklicher Weise nicht bedeutend verletzt wurde, und nichts Anderes glaubte, als sein Herr sei toll geworden -- worin er in der That nicht ganz unrecht gehabt zu haben scheint. -- Er rief daher die anderen Domestiken gegen seinen Herrn zu Hilfe, welcher sich nun mit dem Degen zur Wehre setzte, dabei aber doch so weit zur Besinnung kam, dass eine Verständigung erfolgte, so dass der Vorfall ohne weitere nachtheilige Folgen blieb. Nehmen wir nun an, _Alfieri_ hätte seinen Bedienten todt geworfen oder sonst schwer verletzt, oder einem seiner Domestiken den Degen durch den Leib gerannt, so würde es zuverlässig nicht zu billigen sein, wenn er so geradezu wegen Todtschlag oder wegen schwerer Verletzung wäre verurtheilt worden, denn Jeder fühlt zuverlässig, dass hier etwas im Mittel liegt, welches diesen Fall von andern Fällen der Tödtung oder der Verwundung wesentlich unterscheidet. Betrachten wir aber nun noch einen anderen Fall, welcher zuverlässig noch gegen Ende des vorigen Jahrhunderts nicht zu selten war, den Fall nämlich, wo Jemand, welcher der Erfindung der Goldtinktur auf der Spur zu sein glaubte, sich zu diesem Ende Jahre lang in sein chemisches Laboratorium verschloss, durch Nachtwachen, Einathmen schädlicher Dünste u. s. w. seine Gesundheit zerrüttete, und durch die Aufregung, in die ihn Hoffnung und Misslingen, und dann wieder die gewonnene, nach seiner Meinung untrügliche Aussicht auf die baldige Lösung des Problems versetzte, in jene Stimmung gerieth, in welcher dieser sein Lieblingsgedanke zur fixen Idee wurde, zur Realisirung derselben fremde Gelder durchbringt, so wird man schwerlich eine solche Handlung, wenn sie auch zum Besten seiner Lieblingsidee geschah, für unsträflich halten, denn es ist Jedem klar, dass, wenn auch die Lösung des Problems die fixe Idee des Adepten war, er doch dadurch nicht gehindert war, die Rechtswidrigkeit einzusehen, welche darin liegt, wenn Jemand ein Geld, welches ihm zur Aufbewahrung übergeben war, anstatt es aufzubewahren, zu irgend einem anderen Zwecke verwendet. Dies ist in einem und in dem anderen Falle nun diejenige Ansicht, welche sich jedem Unbefangenen so zu sagen von selbst darbietet; wenn es sich jedoch darum handelt, diese Ansicht =aktenmässig= in einer Art darzustellen, dass darauf ein richterliches Urtheil gegründet werden könne, so begegnet man mancherlei Schwierigkeiten, denn es kann nicht geläugnet werden, dass man im ersten Falle nicht sagen kann, _Alfieri_ sei krank gewesen, und dass man daher, wenn man Geisteskrankheit als den einzigen Entschuldigungsgrund einer sonst sträflichen That gelten lässt, es in der That schwer fällt, einen annehmbaren Entschuldigungsgrund vorzubringen. §. 53. Nach meiner Ansicht liegt die Schwierigkeit, welche dieser Gegenstand darbietet, jedoch weder in der Sache, noch in einer Insuffizienz der ärztlichen Wissenschaft, sondern lediglich in der ganz heterogenen Beschaffenheit der Rechts- und in der Arzneiwissenschaft, welche, indem sie einen ganz verschiedenen Zweck auf ganz verschiedene Weise verfolgen, so zu sagen aller Berührungspunkte und daher auch fast aller Mittel sich zu verständigen entbehren, wodurch am Ende das Resultat erzeugt wird, dass jede der beiden Wissenschaften ihre eigene, für Diejenigen, welche die fremde Wissenschaft üben, ganz unverständliche Sprache hat, dass der Jurist nur von dem Juristen, und der Mediziner nur von dem Mediziner verstanden wird, und verstanden sein will, und dass am Ende beide Theile sich auch dann nicht verstehen, wenn sie wirklich Dasselbe sagen. §. 54. Der Grund dieser Erscheinung scheint nun insbesondere in Bezug auf den in Frage stehenden Gegenstand in Folgendem zu liegen: Jede Wissenschaft bedarf zu ihrem Zwecke gewisser Eintheilungen, und zwar um so nöthiger, je reicher und je mannigfaltiger der Gegenstand ist, den sie behandelt. Diese Eintheilungen sind nun selbst auch dann, wo es sich blos um Gegenstände handelt, welche die Natur darbietet, nicht immer durch die Natur der Sache geboten, wie z. B. der Unterschied zwischen Thier und Pflanze, sondern sie sind der leichteren und besseren Uebersicht wegen, welche der =Zweck der Wissenschaft fordert=, aufgestellt. Je nachdem daher eine Wissenschaft einen verschiedenen Zweck verfolgt, wird auch eine verschiedene Eintheilung und Zusammenstellung nothwendig werden; so können in einer Lehre über die Gartenkunde, Rose und _Datura fastuosa_ neben einander stehen, während sie in einer Pharmacopöe möglichst weit entfernt sein müssen. Abgesehen daher von dem Umstande, dass bei keiner Erfahrungswissenschaft mit den getroffenen Eintheilungen immer ausgelangt werden kann, weil die Entdeckung neuer Spezies auch wieder neue Eintheilungen erfordert, muss sich daher eine höchst bedeutende Schwierigkeit in dem Falle ergeben, wo es sich darum handelt, die Resultate der einen Wissenschaft zum Zwecke einer anderen anzuwenden, deren Zweck ein ganz verschiedener ist, und daher solche Eintheilungen der anzuwendenden Erfahrungen erfordert, welche Eintheilungen die andere Wissenschaft nie gemacht hat, weil sie solche zu =ihrem= Zwecke nie bedurfte. Der Zweck der medizinischen Wissenschaften ist nun die Heilung von Krankheiten; Seelenzustände kommen daher in derselben nur insofern in Betrachtung, als sie Krankheiten oder Symptome von Krankheiten sind, oder auf Verschlimmerung oder Behebung von Krankheiten influiren, die =absolute= Bedeutung derselben, oder auch nur das Verhältniss, in welchem sich Seelenzustände zu anderen Beziehungen des Menschen, z. B. zur Moral, zum Rechte befinden, liegt offenbar nicht mehr im Bereiche des Zweckes dieser Wissenschaft. Bei der Rechtswissenschaft, insbesondere aber bei der Wissenschaft des Strafrechtes, ist es gerade umgekehrt, denn hier kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der gesunde so wie der kranke Mensch die gleiche Verpflichtung habe, sich von jeder Rechtsverletzung zu enthalten; es kann somit hier nur zwei Fälle geben, in welchen ein Mensch, welcher eine Thätigkeit ausgeübt hat, durch deren Folge er ein Strafgesetz verletzte, von der Strafe verschont bleiben darf, nämlich, dass nachgewiesen wird, es sei seine Thätigkeit eine solche gewesen, auf welche sein Wille gar keinen Einfluss geübt hat (z. B. wenn Jemand von einer Höhe herabfällt, und einen Anderen durch den Fall todtschlägt), oder wenn nachgewiesen wird, dass er sich in einem Irrthume, d. i. in einer solchen Gemüthsverfassung befunden habe, in welcher er wohl die materielle Folge seiner Thätigkeit beschlossen hat, jedoch aus einer dieselbe begründenden Vorstellung, welche, wenn sie richtig gewesen wäre, die hervorgebrachte Folge als straflos erscheinen gemacht haben würde, oder wenn diejenige Vorstellung, durch deren Vorhandensein die Sträflichkeit der That eingesehen worden wäre, gänzlich mangelte. Ein solcher Fall wäre etwa jener, wo Jemand in der Nacht in einer wegen Räubereien übel berüchtigten Gegend von einem betrunkenen, jedoch sonst nichts Böses im Schilde führenden Menschen angefallen wird, und in der Meinung, er sei ein Räuber, welcher ihn angreife, diesen todtsticht. Ist aber andererseits nachgewiesen, dass ein Mensch eine Wirkung nur darum hervorbrachte, weil er =genöthigt= war, eine Thätigkeit zu äussern, oder sonst eine Folge hervorzubringen, ohne mit seinem Willen diese Aeusserung =hindern= zu können, oder, weil er in einem Irrthume war, so ist es für die Straflosigkeit desselben in krimineller Beziehung auch ganz gleichgiltig, =wodurch= er in diesen Zustand gerieth, ob durch Krankheit oder durch einen anderen Zufall, denn gegenüber von der hervorgebrachten Wirkung ist alles =Zufall=, was nicht =Absicht= ist. Da nun die medizinische Wissenschaft mit Recht die Seelenstörungen als eine besondere Form der =Krankheit= betrachtet, so ist es klar, dass dasjenige Merkmal, worauf es der Rechtswissenschaft ankommt, nämlich ob die Seelenstörung in einem =bestimmten Falle= auf das bestimmte Individuum so wirkte, dass es entweder sich in einer unwillkürlichen Thätigkeit, oder in einem Irrthume befand, kein Gegenstand sei, zu dessen Auffindung die medizinische Wissenschaft nach ihrem Zwecke eine besondere Anweisung zu geben sich bestimmt finden könne, während dadurch, dass sie einen bestimmten Gemüthszustand als =Krankheit= erklärt, unmöglich dem richterlichen Bedürfnisse =genügt= werde. Es ergibt sich daher, dass wenn, wie es oft geschieht, beide Wissenschaften sich in der Beurtheilung eines konkreten Falles nicht vereinigen können, das Hinderniss nicht darin liege, weil die Gränze zwischen beiden Wissenschaften nicht scharf genug gezogen ist, sondern dass man vielmehr bekennen muss, diese beiden Wissenschaften seien, nach der Art und Weise wie die Sache gewöhnlich betrieben wird, noch gar nicht in der Richtung, in welcher sie aneinander gränzen können, da sie überhaupt nicht in gleicher Richtung laufen. §. 55. Um nun eine gleiche Richtung zwischen dem Laufe zweier mechanischen Grössen zu bewirken, muss man einen festen Punkt aufgefunden haben, auf welchen man fussen kann. Eben so geht es, wenn man eine Linie aufsucht, in welcher zwei Wissenschaften sich berühren können. Der Punkt, auf welchen im gegenwärtigen Falle beide Theile fussen können, ist hier offenbar das =positive= Gesetz selbst, denn indem man sich, und zwar in der Art wie das Gesetz es andeutet, auf den von demselben gegebenen Standpunkt stellt, sieht man genau die Richtung, welche die Forschungen beider Wissenschaften nehmen müssen, um wirklich nebeneinander zu bleiben, und sich nicht ins Unbestimmte zu verlieren. Das österreichische Strafgesetzbuch ordnet hierüber Folgendes an: §. 2. Daher[34] wird jede Handlung oder Unterlassung als Verbrechen nicht zugerechnet: [34] Dieses =daher= bezieht sich auf die Stelle im §. 1, welche lautet: Zu einem Verbrechen gehört böser Vorsatz. _a_) wenn der Thäter des Gebrauches der Vernunft gänzlich beraubt ist; _b_) wenn die That bei abwechselnder Sinnenverwirrung zur Zeit da die Verrückung dauerte; _c_) in einer ohne Absicht auf das Verbrechen zugezogenen vollen Berauschung, oder =in einer anderen Sinnenverwirrung=, in welcher der Thäter sich =seiner Handlung nicht bewusst war=, begangen wurde. Da der Irrsinn den Menschen des Gebrauches der Vernunft beraubt, so muss man daher dem Gesetze gemäss erklären, dass eine That im Irrsinne verübt straflos sei, nicht aber lässt es sich sagen, dass eine That, welche nicht im Irrsinne verübt ist, und ein Strafgesetz verletzt, auch nothwendig ein Verbrechen sei, denn der Gesetzgeber beschränkt die möglichen Fälle der Straflosigkeit =nicht= darauf, dass die That in immerwährender oder abwechselnder Sinnenverwirrung, im letzteren Falle, so lange der Anfall der Krankheit dauerte, geschehen sei (lit. _a_ und _b_), sondern er nimmt noch einen =dritten= Zustand als möglich und als hinreichenden Grund für die Entbindung von der Strafe an, nämlich =was immer für eine Sinnenverwirrung= (wenn auch keine krankhafte), wenn sie nur die Eigenschaft hatte, den Thäter, d. i. _a_) den Menschen, welcher eine bestimmte That beging, _b_) in dem Augenblicke, wo er sie beging, _c_) im Allgemeinen, oder _d_) in Bezug auf diese That des Bewusstseins seiner =Handlung= zu berauben. -- Als ein Beispiel dieser Art von Zustände führt der Gesetzgeber denjenigen Zustand an, welcher als =volle Berauschung= allgemein bekannt ist. Als ein Beispiel des Falles _d_) erlaube ich mir den Fall vorzuführen, wo Jemand, der sich vor einer Kreuzspinne im hohen Grade ekelt, von einem Andern, in dem Augenblicke als er gerade ein Messer in der Hand hat, in der Art geneckt wird, dass ihm dieser ein solches Thier ins Gesicht zu werfen sich anschickt, und dieser ihm in der Aufregung des heftigsten Entsetzens einen Stich mit dem Messer beibringt. Nur die in den mit _a_) und _b_) bezeichneten Punkten der obigen Gesetzesstelle ausgedrückten Fälle werden sich als in das Gebiet der Krankheit gehörend durchaus nach arzneiwissenschaftlichen Grundsätzen beurtheilen lassen. Denn nur in diesen Fällen liefert die Arzneiwissenschaft als solche die nöthigen Behelfe dahin, ob der Krankheitszustand vorhanden ist oder war, und bestätigt zugleich den Satz, dass dieser Krankheitszustand seiner Natur nach die Eigenschaft habe, jede willkürliche Bestimmung für das mit dieser Krankheitsform behaftete Individuum aufzuheben. Frägt es sich aber, welche Zustände der Gesetzgeber in dem Punkte _c_) noch ausser dem angeführten Beispiele der vollen Trunkenheit gemeint haben könne, so lässt sich nur die bereits oben angeführte Antwort dahin geben, dass darunter jeder Zustand zu verstehen sei, in welchem der Mensch sich =nicht= seiner Thätigkeit, als einer von seinem Willen abhängigen Aeusserung seiner Kraft, bewusst war, also z. B. der Zustand des Traumes, eines heftigen, ohne Absicht auf die That von ihm in sich erregten Affektes u. s. w. §. 56. Raserei, selbst ein hoher Grad von Wahn- oder Blödsinn, sind daher keineswegs die einzigen, noch diejenigen Zustände, deren Erhebung so wie bezüglich deren die Bestimmung des Verhältnisses der Strafbarkeit eines Individuums in Rücksicht auf eine bestimmte That, besondere Schwierigkeiten darbieten wird, auch sind derlei Zustände gewöhnlich von so in die Augen fallenden Kennzeichen begleitet, dass es selbst für einen Laien meistens nicht schwierig ist, in seiner Beurtheilung hierin der Wahrheit sehr nahe zu kommen. Es wird daher der Arzt in solchen Fällen vielfältig nichts Anders thun können, als die sich dem Richter so zu sagen von selbst darbietende Ansicht der Sache auf wissenschaftliche Prinzipien zurückzuführen, und zu bestätigen. (Siehe hierüber den ersten Aufsatz in diesem Buche §. 4 und fg.) Weit schwieriger ist jedoch die Aufgabe, wenn es sich darum handelt, dass von einem Menschen ein Verbrechen begangen wurde, von welchem entweder gar kein besonderer Krankheitszustand, oder doch kein solcher sich erheben lässt, von welchem sich sagen liesse, dass er unter diejenige Krankheitsform gehöre, welche als immerwährende oder abwechselnde Sinnenverwirrung durch die Arzneiwissenschaft bezeichnet werden, und wenn doch wieder andererseits Gründe vorliegen, welche es zweifelhaft machen, ob wirklich das in Frage stehende Individuum nicht unter einem Einflusse gestanden ist, welche seine Thätigkeit ohne den Einfluss seines Willens bestimmte, wie z. B. der hier im §. 53 erwähnte Fall. Die Lösung einer solchen Aufgabe ist immerhin =schwierig=, aber doch =nur= schwierig und nicht =unmöglich=, denn es lässt sich ohne Ueberschätzung behaupten, dass umsichtiges und tiefes Studium der menschlichen Natur, verbunden mit eigentlichen medizinischen Kenntnissen, und umsichtige Erwägung der sich darbietenden Verhältnisse, zur Lösung dieser Aufgabe führen müssen, ja es ist hier noch der Vortheil vorhanden, dass derlei Zustände vielfältig durch die Auffassung rein menschlicher Zustände sehr gründlich beurtheilt werden können, während zur Beurtheilung eigentlicher Krankheitszustände gerade nur diejenige beschränktere Zahl von Erfahrungen benützt werden kann, welche die Pathologie geliefert hat. Es wird sich also, um hier zu einem entsprechenden Resultate zu gelangen, weniger darum handeln, wie man es anfangen soll, um über solche Zustände klar zu sehen, als was zu geschehen habe, um die gewonnenen Resultate in einer solchen Form darzustellen, welche deren Ergebniss für den richterlichen Zweck brauchbar macht. §. 57. Richterlicherseits hat man sich die Lösung dieser Aufgabe nicht selten dadurch erschwert, dass man von der Ansicht ausging, es müsse, um Jemanden bezüglich einer bestimmten, als Verbrechen sich darstellenden, That straflos zu finden, dargethan sein, dass sein subjektiver Zustand, entweder überhaupt, oder im Augenblicke der verübten That =absolut= unzurechnungsfähig war, oder mit anderen Worten, dass er in einem solchen Zustande sich befand, in welchem er, -- er mochte nun was immer verübt haben, für unzurechnungsfähig müsse gehalten werden. Diese Ansicht ist nicht richtig, denn sie ist nicht nur nicht in den Worten des Gesetzes enthalten (sieh §. 55 und den mit lit. _d_) bezeichneten Fall), sondern sie lässt sich selbst nach psychologischen Grundsätzen nicht rechtfertigen, denn selbst beim Wahnsinne befindet sich der Mensch nicht in einem Zustande, der =alle= willkürliche Bestimmung ausschlösse. Das Materielle der Handlung eines Wahnsinnigen erscheint, wie bei einem Vernünftigen, willkürlich bestimmt, er wählt unter den Mitteln zur Ausführung nicht selten nach ganz richtiger Beurtheilung, er ist mit Einem Wort keine Maschine, die da getrieben wird, sondern er ist und bleibt Mensch, d. i. ein sich selbst nach Vorstellungen willkürlich bestimmendes Wesen, nur sind seine Vorstellungen von anderer Beschaffenheit, als jene anderer Menschen, er ist also nicht darum straflos, weil er absolut unzurechnungsfähig ist, sondern weil man, wenn man in seine Ideen eingeht, entweder wirklich findet, dass in der Art, wie er die Sache sieht, das Recht auf seiner Seite ist, oder weil man sich zugesteht, dass man in das Chaos seiner Gedanken nicht einzudringen vermag. Indem man sich daher die Aufgabe so stellt, wie sie oben ausgedrückt ist, spricht man einen Satz aus, den man in der Anwendung schon dadurch als unhaltbar erklärt, dass noch keinem vernünftigen Kriminalrichter eingefallen ist, einen Menschen, welcher ärztlich als wahnsinnig erklärt ist, und der in diesem Zustande ein Verbrechen verübte, blos darum in Kriminaluntersuchung zu ziehen, weil er bei Verübung des Verbrechens mit zweckmässiger Wahl der Mittel zu Werke gegangen ist, und dadurch kundgab, dass er allerdings in einem gewissen Grade einer vernünftigen Ueberlegung fähig war. Die Aufgabe der Erhebung muss daher anders und zwar in der Formel gestellt werden: =Ist die hervorgebrachte Wirkung= (die That), sofern sie gesetzwidrig erscheint, =eine Folge eines mit Willkür gefassten Entschlusses über die ihm möglich gewesene Disposition mit seinen Kräften, oder ist sie es nicht=? -- Denn ist einmal nachgewiesen, dass ein Mensch unter den inneren und äusseren Umständen, unter denen er sich befand, irgend eine Thätigkeit üben oder unterlassen =musste=, und dass es ihm an Ueberlegung gebrach, einen =anderen= Entschluss fassen zu können, als jenen, von dessen Vorhandensein die geübte Thätigkeit zeugt, so hat er zwar nach den Gesetzen der menschlichen Natur, d. h. nicht nach blos mechanischen Gesetzen, jedoch nicht als =freier=, eines zwischen bös und gut unterscheidenden Vorsatzes wählender Mensch gehandelt, dessen That ist daher keiner Zurechnung fähig, da ihr kein =böser= Vorsatz zu Grunde liegt. (Siehe §. 20.) §. 58. Um nun das bisher Gesagte noch mehr zu begründen, sei es mir vergönnt, einen Blick in das geheimnissvolle Getriebe der Tiefen des menschlichen Geistes zu thun, und das dortselbst Wahrgenommene in dem Sinne und zu dem Zwecke zu schildern, welchen ich mir im §. 5 dieses Aufsatzes aufzustellen erlaubte. Dieses Befugniss glaube ich, obwohl Laie in den medizinischen Wissenschaften in meiner Eigenschaft als Richter hier um so mehr in Anspruch nehmen zu dürfen, als es sich hier um Zustände handelt, welche, zu ihrer richtigen Auffassung, von dem =rein menschlichen= Standpunkte aufgefasst sein wollen, ein Standpunkt, welchen einzunehmen Niemand ausschliesslich, Jeder aber berufen ist, welcher zu diesem Geschlechte zu gehören sich bewusst ist. §. 59. Es ist oben bei §. 10 und dem Folgenden der Unterschied zwischen animalischen und den blos organischen Wesen angegeben worden, auch wurde daselbst auf den Unterschied hingedeutet, welcher zwischen dem Menschen und den übrigen blos animalischen Wesen obwaltet, und es wurden insbesondere zwei Erscheinungen angeführt, welche blos bei dem Menschen, sonst aber bei keinem animalischen Wesen zu gewahren sind, nämlich Sprache und Handeln nach =Begriffen=, als vorzügliches charakteristisches Merkmal der Menschheit aber die =Vernunft=, nämlich die Anlage des Menschen zur Sittlichkeit dargestellt. Betrachten wir nun aber auch die Verhältnisse, in welchen sich selbst jene Anlagen des Menschen, welche er mit dem Thiere gemein hat, gegen einander im Vergleiche mit dem Verhältnisse befinden, welches bei Thieren obwaltet. Der Mensch hat im Allgemeinen entschieden so viel mit dem Thiere gemein, dass seine Lebensthätigkeit eine aktive, d. i. eine solche ist, in welcher sich die Eindrücke der Aussenwelt nicht blos abspiegeln, oder denselben blos mechanisch oder chemisch verändern, sondern dass er gegen die äusseren Eindrücke einerseits reagirt, andererseits aber gewisse äussere Eindrücke =bedarf=, ohne deren Vorhandensein sich die =Lebensthätigkeit= selbst aufheben würde (Luft, Nahrung u. s. w.) und dass die Befriedigung oder Hemmung der Lebensthätigkeit nach Aussen mit einer eigenthümlichen Modifikation derselben verbunden ist, welche sich durch die =Empfindung=, nämlich durch das Bewusstwerden des Verhältnisses der Lebensthätigkeit zu dem äusseren Eindrucke kund gibt; endlich dass die Empfindung ihrerseits seine Thätigkeit nothwendig in eine entsprechende Bewegung setzt. So weit kommt der Mensch mit dem Thiere überein, dessen verschiedene Gattungen sich nach der Verschiedenheit der Vollkommenheit ihres Organismus darin unterscheiden, dass sie zu einer grösseren oder geringeren Zahl von Empfindungen, und in dieser Beziehung zu einem mehr oder minder klaren Bewusstsein derselben, also zu mehr oder minder zahlreichen und =lebhaften= Empfindungen geeignet sind. Sehen wir aber weiter, so finden wir eine Erscheinung, welche den Menschen wesentlich vom Thiere unterscheidet. Diejenige Aeusserung der Lebensthätigkeit, welche der Empfindung entspricht, der Trieb und nach den verschiedenen Arten der Empfindungen, die Triebe, sind nämlich bei dem Thiere die =einzigen= Motive seiner Thätigkeit gegen die Aussenwelt, und zwar in derjenigen Unmittelbarkeit, in welcher die Aussenwelt auf die Lebensthätigkeit wirkt. Das Thier äussert sich nicht nur =durch= seinen Trieb, sondern es äussert seine Thätigkeit =nicht ohne= seinen Trieb, und auch nicht =anders=, als sein Trieb es fordert; hat es aber seinen Trieb =befriedigt=, und hat dadurch das Motiv zur Aeusserung seiner Thätigkeit zu wirken =aufgehört=, so äussert es dieselbe, wenigstens in dieser Richtung, so lange =gar nicht mehr=, als sich der Trieb nicht wieder einstellt. Bei dem Menschen findet man nicht selten die entgegengesetzte Erscheinung, wenigstens gibt es Leute genug, welche, wenn sie ihre Triebe vollkommen befriedigt, oder wenn dieselben schon zu wirken aufgehört haben, noch immer nach =Wiederholung= des die Befriedigung dieser Triebe begleitenden =Genusses= streben. Diese Erscheinung, so verwerflich eine solche Aeusserung in moralischer Beziehung ist, ist doch eine zu charakteristische Abweichung von der Entwicklung der blos =thierischen= Thätigkeit, um nicht in psychologischer Beziehung gewürdigt zu werden, besonders da dieser Abweichung noch eine andere entspricht, die Erscheinung nämlich, dass kein Thier einen =anderen= Weg sucht seinen Trieb zu befriedigen, als den ihm von der =Natur= gebotenen, der Mensch aber sich Genüsse =raffinirt=, ja sogar Genüsse =erfindet=, welche oft =naturwidrig= sind, ja er bringt es sogar dahin, und dieses ist der eigentliche Kulminationspunkt seiner Abweichung vom Thiere in der Art und Weise der Befriedigung seiner Triebe, dass er sich, wie z. B. die Opiumesser und Raucher, mit Zerstörung seiner physischen Natur einen Genuss schafft, der =nur= in der Phantasie besteht, und diesen sogar den reellen Genüssen =vorzieht=. §. 60. Das Thier lebt nur für seinen Trieb. Was seinen Trieb nicht berührt, ist -- wenn es auch nicht ohne allen Eindruck auf seine Sinne bleibt -- doch für dasselbe so viel als gar nicht vorhanden. _Asinus ad lyram_ ist ein bekanntes Sprichwort, wenn man vollkommene Unempfindlichkeit für irgend einen in die Sinne fallenden Gegenstand ausdrücken will. Ebenso ist es unmöglich ein Thier zu etwas abzurichten, wozu es nicht ein gewisser, entweder allen Thieren, oder ein seiner Gattung eigenthümlicher Trieb leitet. Man kann einem Hunde, nicht aber einem Kalb apportiren lehren, einen Falken, nicht aber eine wilde Gans zur Jagd abrichten. Andererseits sehen wir aber auch, dass das Thier dort, wo es seine Triebe seiner organischen Natur gemäss entwickelt, auch =unmittelbar= der Befriedigung entgegengehe, ohne sich durch irgend eine Vorstellung, es müsste denn eine solche sein, welche einen noch stärkeren Trieb aufregt, von der Befriedigung abhalten zu lassen. Das hungernde Thier frisst, wo es etwas bekommt, und was es bekommt, wenn es seiner Natur angemessen ist, es kennt nicht Ekel noch irgend eine Rücksicht, z. B. auf das Bedürfniss Anderer u. s. w., höchstens die Aussicht auf Züchtigung oder gewisse sympathetische Triebe, z. B. der Liebe zu den Jungen, sind vermögend dieses Streben zu überwiegen. Wir sehen aber auch, dass der Trieb eines Thieres, wenn er einmal eine gewisse Stärke erreicht hat, =jede= andere Vorstellung überwiegt. Der gezähmte Wolf verschont, wenn er hungert, seinen Herrn nicht mehr, der läufige Hund ist durch keine Züchtigung abzuhalten der möglichen Befriedigung nachzulaufen u. s. w. §. 61. Ganz anders verhält sich die Sache bei dem =Menschen=. Wir sehen hier die verschiedenartigsten Entwicklungen bei einem im Wesentlichen gleichen Organismus, denn es ist bekannt, dass die Verschiedenheit der organischen Beschaffenheit zwischen einem normalen Menschen und einem (nur nicht verkrüppelten) Dummkopf beinahe Null ist, im Vergleiche mit der ungeheuren Verschiedenheit zwischen irgend einem Menschen und irgend einem Thiere, und eben so sehen wir, dass es beinahe keine Anlage gibt, in welcher ein Mensch etwas geleistet hat, in welcher nicht auch =jeder Andere etwas= leisten könnte. Es ist freilich ein gewaltiger Unterschied zwischen einem Gemälde eines _Raphael_ und einem Fratzengesichte, welches irgend ein Stümper, der nichts besseres zu Wege bringt, an eine Wand mit Kohle hinzeichnet, allein Beide kommen doch darin überein, dass zu beiden die Gabe der Nachahmung gehört, ohne welche es unmöglich bleibt auch nur ein Fratzengesicht aufzuzeichnen. Dass endlich der Mensch im Stande sei, seine stärksten Triebe, ja selbst jenen der Erhaltung seines Lebens, einer Vorstellung zu opfern, ist eine Thatsache, deren Exemplifikation sich Jeder aus seiner geschichtlichen Erinnerung zu geben vermag. §. 62. Noch auffallender ist der Unterschied in der Art und Weise, wie der Mensch der Befriedigung gewisser Triebe entgegengeht, und hier tritt insbesondere die Aeusserung des Geschlechtstriebes entgegen. Das Thier geht hier mit der entschiedensten Unmittelbarkeit zu Werke, es sucht sich ein Geschöpf seiner Gattung und befriedigt damit seinen Trieb mit Gewalt, wenn das andere die Befriedigung nicht gutwillig gestattet, und kümmert sich auch nicht darum, ob es dem anderen angenehm oder unangenehm ist, wie man dieses beim Hornvieh sehen kann, wo es sich ereignet, dass ein schwerer Stier einer Kuh das Rückgrath abdrückt, und er doch von seiner Bemühung nicht eher ablässt, als bis sie am Boden liegt und nicht mehr aufstehen kann. Bei dem naturgemäss Entwickelten, d. h. weder in stumpfer Roheit aufgewachsenen, noch moralisch verdorbenen Menschen ist die erste thätige Aeusserung des erwachenden Geschlechtstriebes die Geschlechts=liebe=, welche sich aber oft so sonderbar äussert, dass man Mühe hat, die =wahre= Veranlassung in ihren Aeusserungen aufzufinden. Nicht selten geschieht es, dass beide Theile gar nicht daran denken, dieses Motiv als die Veranlassung ihrer wechselseitigen Zuneigung zu vermuthen; man nennt das Gefühl, welchem man sich hingibt, Freundschaft, Hochachtung, und sucht die Zuneigung des anderen Gegenstandes auf jede andere Weise eher, als auf diejenige zu gewinnen, welche das bezeichnete Motiv klar an den Tag legte. In der That lässt sich auch nicht verkennen, dass durch diese Art und Weise, wie sich der erwachende Geschlechtstrieb in vielen Fällen ausspricht, der Entwicklung des Sittlichkeitsgefühles vortrefflich gedient ist, denn der Mensch lernt Selbstbeherrschung und aufopfernde Hingebung dadurch mehr und besser üben, als er bis dahin noch wahrscheinlich in den wenigsten Fällen Veranlassung hatte, er fühlt sich selbstständig, weil er nicht mehr blos seinen eigenen Empfindungen, sondern für ein anderes Wesen zu leben fühlt. Diese Art der Aeusserung des Geschlechtstriebes ist aber auch die, jedem unverdorbenen Menschen natürliche, weil sie sich in der That bei jedem unverdorbenen Menschen findet, wo sie sich aber findet, es unverkennbar ist, dass der Mensch gerade in dieser Art Entwicklung seines Wesens vielleicht die grösste Seligkeit empfindet, deren er auf Erden fähig ist, es ist das Paradies der Unschuld; ehe sie zum vollen Bewusstsein erwacht ist, denn in diesem Zustande, wo der Mensch Alles, was sein durch den erwachenden Trieb aufgeregtes Lebensgefühl Schönes und Erhabenes in seiner Phantasie erzeugt, auf den geliebten Gegenstand überträgt, ist ihm dasjenige goldene Zeitalter gegeben, in welchem die Gottheit noch sichtbar auf Erden wandelte. Es ist freilich ein Traum, dem Erwachen folgen muss, allein so viel ist gewiss, wenn die Liebe einmal sieht, so hat sie aufgehört =Liebe= zu sein. §. 63. Diese Thatsachen, deren Wahrheit zu tief in dem menschlichen Gefühle gegründet ist, als dass man sie im Ernste bezweifeln könnte, wären nun entschieden unmöglich, wenn der Mensch gleich dem Thiere lediglich auf eine seinen Trieben unmittelbar entsprechende Thätigkeit angewiesen wäre, sie beweisen vielmehr[35], und zwar sowohl in ihrer verderblichen, als in ihrer den sittlichen Zustand befördernden Erscheinung, dass die Lebensthätigkeit des Menschen so konstituirt sei, dass die Thätigkeit des Organismus desselben von dessen Vorstellungsthätigkeit bedeutend =überwogen= werde, und dass daher das eigentliche Leben des Menschen ein =geistiges=, ein =Leben in der Vorstellungsthätigkeit= sei. [35] Hätte der Mensch Kunsttriebe gleich den Insekten, so wäre es mit allen Werken des menschlichen Geistes vorbei, denn er müsste dann seinen Kunsttrieben obliegen und könnte nicht mehr und nicht weniger leisten, als eben sein Trieb ihm eingibt, da er eben ein Trieb ist und somit alles Nachdenken ausschliesst. Man würde produziren wie man schläft, von selbst, ohne sich im Mindesten um das =Wie= zu bekümmern. Diese Wahrheit findet sich aber auch bestätigt, wenn man den =Organismus= des Menschen selbst betrachtet. Der bei dem Menschen, im Vergleiche mit allen Thiergattungen, am meisten ausgebildete Theil ist das =Nervensystem=, also gerade derjenige organische Theil, welcher der Vorstellungsthätigkeit zuverlässig am =nächsten= steht, dagegen aber gibt es kein einzelnes Sinneswerkzeug eines Menschen, welches nicht von jenem einer bestimmten Thiergattung =übertroffen= würde. -- Alle Sinneswerkzeuge eines normal organisirten Menschen sind aber wieder so beschaffen, dass sie, wie bereits im §. 61 bemerkt wurde, nicht nur einer Ausbildung fähig sind, welche jener der hierin am besten begabten Thiergattungen =nahe= kommt, sondern dass diese Ausbildung einzelner Sinne ohne =Nachtheil=, ja sogar mit gleichzeitiger Entwicklung auch der =übrigen= Sinne Statt finden kann. Als Beispiel möge der feine Geruch- und Gehörsinn der Wilden und der hohe Grad von Gelenkigkeit dienen, welchen die Jugend unserer Zeit in orthopädischen Instituten etc. erwirbt, ohne dass man noch ein Beispiel erlebte, dass ein Jüngling, dessen Körperkräfte auf diese Art entwickelt wurden, dadurch an irgend einem Sinne oder gar in seinen =geistigen= Funktionen schwächer geworden sei, wohl aber dürfte es eben nicht schwer sein, Beispiele vom Gegentheile aufzufinden[36]. [36] Man eifert sehr gegen die materiellen Tendenzen unseres Zeitalters. Ich lasse es natürlich dahingestellt sein, ob es vernünftig ist, gegen die Tendenz des Zeitalters zu eifern, da das Zeitalter selbst sich um unseren Tadel oder unser Lob nicht bekümmert, und man überhaupt über die Richtung, in welcher man =fährt=, immerhin etwas schwer urtheilen kann, wenn man selbst im Wagen sitzt. Dreierlei Wahrheiten, die denn doch nicht ganz unvorteilhaft für die Sittlichkeit des Zeitalters zeugen, sind jedoch in eben diesem materiellen Zeitalter zum Bewusstsein der Menschen gelangt, an deren zwei man früher nicht dachte, die dritte aber fast vergessen hatte. -- Die ersten sind die Nothwendigkeit des Strebens nach Mässigkeit (Mässigkeitsvereine) und der Abstellung der Thierquälerei, die letzte die Erkenntniss, dass auch der Körper des Menschen entwickelt werden müsse, wenn der ganze Mensch etwas taugen soll. -- In diesen drei Wahrheiten liegt nach meiner unmassgeblichen Meinung ein besseres Zeugniss für die Moralität des gegenwärtigen, und eine Hoffnung für die künftigen Jahrhunderte, welche eine bedeutende Dosis Weltschmerz -- die gerechte Geissel Derjenigen, welche den Egoismus des gegenwärtigen Zeitalters repräsentiren -- aufwiegt. -- „Das Leben,” sagt _Jean Paul_, „ist eine bittere Frucht, man greife es nur mit Presse und Zange an und es hat den süssesten Kern.” Ebenso begegnet man der Erfahrung, dass der Mensch im Stande ist, die Thätigkeit der am meisten in gewissen Beziehungen begabten Thiere, sofern ihre Organe, wie etwa jene der Insekten, nicht gar zu verschieden sind, beinahe zu erreichen, nicht einmal der Biegsamkeit der menschlichen Stimme zu gedenken, durch welche er vermag, die Laute der Thiere, vom Miauen der Katze bis zum Schlag der Nachtigall, oft täuschend nachzuahmen, eine Fähigkeit, welche, im Vorbeigehen gesagt, nicht wenig zur Bildung der menschlichen Sprache beigetragen haben mag, sobald einmal der Mensch das Bedürfnis fühlte, seine Vorstellungen Anderen mitzutheilen. Mit dieser Bildungsfähigkeit aller Organe des Menschen ist es nun entschieden nicht zu vereinbaren, dass ein einzelnes Organ die übrigen überragte, denn wäre dieses der Fall, so könnten wir nicht =willkürlich= das eine oder das andere der menschlichen Organe in so hohem Grade ausbilden, wie es wirklich geschieht. Es folgt daher, dass die Organe des Menschen und daher auch die ihren Aeusserungen entsprechenden Triebe so im =Gleichgewichte= stehen, dass der Mensch nicht zur Entwicklung gewisser =einzelner= Triebe bestimmt sei, sondern seine Bestimmung in dem =Resultate= der Kombination seiner Triebe durch die =Vorstellungs=thätigkeit liege. Bei keinem =Thiere= finden wir endlich die Erscheinung des =Wahnsinns=, wir finden sie aber bei dem =Menschen=, und zwar insbesondere in jenem Falle, wo irgend eine Funktion (z. B. die Geschlechtsfunktion bei dem _furor uterinus_) eine übermässige Stärke erlangt, und also ein Theil des menschlichen Organismus aus seiner coordinirten Stellung zu den übrigen heraustritt. Dennoch dürfte der bei dem Furor erregte Trieb an Stärke schwerlich jenem, welchen ein Thier zur Brunstzeit empfindet, gleichkommen[37]. [37] Hat man schon die Erscheinung des Wahnsinnes bei einem Kinde gefunden? Ich bin nicht sachverständig genug, um diese Frage zu beantworten, doch erinnere ich mich nie, von einer solchen Erscheinung gehört zu haben. Es erhellt daher, dass ohne gänzliche Zerrüttung des menschlichen Sein's die Beschaffenheit keines =einzelnen= Organes sich so gestalten kann, dass es sich zum Triebe in der Weise entwickle, wie dieses bei dem Thiere der Fall ist, und dass daher selbst der physische Organismus des Menschen so eingerichtet ist, dass alle dessen einzelne Theile in einem, der Bestimmung des Menschen, ein =geistiges= Leben zu führen, entsprechenden Verhältnisse stehen, welches Verhältniss, wo es gestört ist, jedenfalls eine Anomalie, entweder durch eine fehlerhafte ursprüngliche Anlage oder durch den Zustand der Krankheit, bildet. §. 64. Bereits bei §. 32 wurde der Satz ausgesprochen, dass der Mensch in seiner irdischen Laufbahn nur =ein= Wesen, d. i. ein vollkommenes in allen seinen den verschiedenen Aeusserungen desselben entsprechenden Anlagen innig verbundenes =Ganzes= sei, ja dass die Annahme von verschiedenen Anlagen =desselben= Menschen nicht in der objektiven Beschaffenheit des =Subjektes=, sondern nur in der subjektiven Vorstellung des =Beobachters= desselben gegründet sei, welcher, um sich die Uebersicht des Ganzen zu erleichtern, gewisse Abstufungen festsetzen muss. Aus dieser Ansicht folgt nun auch die Nothwendigkeit, den Satz, an dessen Richtigkeit übrigens ohnehin Niemand zweifelt, hier besonders auszusprechen, dass auch =kein einzelnes= Organ des Menschen ein =für sich= bestehendes Ganzes, sondern nur immer ein Theil jenes Wesens sei, welches wir =Mensch= nennen, und sich daher nur für den =dritten= Beobachter als ein =Theil= jenes Wesens ausspricht, weil es eine besondere Verrichtung übt, welche nur =dieses=, nicht aber ein anderes Organ zu leisten im Stande ist. -- Nur das Auge übt die Funktion des =Sehens=, nur das Ohr jene des =Hörens=, allein es lässt sich nicht sagen, das =Auge= sieht, oder das =Ohr= hört, sondern, wenn man nicht figürlich sprechen will, so muss man sagen: der =Mensch= sieht =mittelst= des Auges, der Mensch hört =mittelst= des Ohres u. s. w., welches mit anderen Worten so viel sagen will, als: er entwickelt Vorstellungen, die einer Empfindung entsprechen, welche in dem Angeregtwerden durch äussere Eindrücke =mittelst= des Auges, des Ohres u. s. w. entstanden sind. Jeder mögliche =neue= Eindruck, welchen der Mensch durch die Sinne erhält, trifft nun auf =alle= durch die früheren Eindrücke veranlassten, noch =vorhandenen= Vorstellungen, und bildet mit diesen ein =neues= Ganzes, wodurch daher in dem ganzen Wesen des Menschen nothwendig eine =Veränderung= entsteht. Diese Veränderung gibt sich nun durch jene Erscheinung kund, welche wir =Ideenassociation= nennen, und bezüglich deren uns die Erfahrung lehrt, dass jeder Eindruck, dessen sich der Mensch bewusst wird, somit jede Empfindung eine =eigene= Ideenassociation zur Folge hat. So richtig diese Erfahrung ist, so wenig darf man sich dadurch verleiten lassen, diese Erscheinung als etwas =Selbstständiges= zu betrachten, sondern sie ist, von Fall zu Fall, eine Wirkung der =Gesammtthätigkeit= eines Menschen, auf welche jedes =einzelne= (physische) =Organ= so gut seinen Einfluss hat, als auf die entstandene Empfindung selbst. Der etwa an Kopfschmerzen leidende Mensch empfindet bei dem Lärme einer Trommel etwas Anderes, als der Gesunde, der blosse Anblick einer Trommel wird ihm daher eine andere Ideenassociation erregen, als wenn er gesund wäre u. s. w. Die Richtigkeit dieser Ansicht ergibt sich aber noch mehr daraus, wenn man erwägt, welche =Rückwirkung= die Ideenassociation auf die physischen Organe hat, denn es gibt bekanntlich Nachrichten, die im Stande sind, einen Gesunden krank und einen Kranken gesund zu machen. Es ergibt sich daher, dass es sehr irrig wäre, anzunehmen, dass an der Ideenassociation nicht auch die =körperlichen= Organe ihren wesentlichen Antheil haben, dass daher die =Ideenassociation selbst=, wie jeder andere Zustand, eine Veränderung im =Gesammtleben= des Menschen sei. Hieraus ergibt sich nun der weitere Satz, dass bei jedem Eindrucke, welchen der Mensch erfährt, sich eine =doppelte= Wirkung in Bezug auf das Individuum als Ideenassociation aussprechen wird, nämlich nach der Art und Weise, wie er das =Organ= affizirt, welches denselben aufnimmt, und auf welche =Disposition des Gesammtlebens=, d. i. auf welche allgemeine =Stimmung= er in dem Augenblicke trifft, als er aufgenommen wird, insbesondere aber, welche =Vorstellungen= bei seinem Eintritte bereits =vorhanden= oder auch =nicht= vorhanden sind[38]. [38] Die Ideenassociation ist eines der wichtigsten Momente, welche auf die Stimmung des Menschen einwirken, allein es ist nicht das =einzige=, denn ausser dem Zustande der Krankheit können physische Eindrücke vorhanden sein, welche einen mächtigen Einfluss auf die allgemeine Stimmung ausüben, ohne dass es der Mensch gewahrt. Manche That, im Zorne verübt, würde unterblieben sein, wenn sich das Subjekt statt in einem von Tabakqualm erfüllten Lokale in freier Luft befunden hätte. -- Wo es sich also um Erforschung der Stimmung eines Menschen zur Ausmittlung des Umstandes handelt, ob er zurechnungsfähig war, müssen =alle= Umstände, daher auch solche =Neben=umstände berücksichtigt und bezüglich ihres Einflusses gewürdiget werden, welche auf die Stimmung der physischen Organe von Einfluss waren. Da sich nun die Handlungsweise des Menschen nach diesen beiden Momenten, nämlich nach der Beschaffenheit des wirklich vorhandenen äusseren Eindruckes und nach der Stimmung richten kann, in welcher er aufgenommen wird, so ergibt sich, dass, um das Verhältniss der Handlungsweise zu einem dritten Gegenstande, z. B. zu einem Strafgesetze, zu beurtheilen, es unumgänglich nothwendig ist, über die =Stimmung= des Menschen in dem =Augenblicke=, als irgend ein =äusserer Eindruck= eine gewisse Handlungsweise bei ihm hervorbrachte, im Klaren zu sein, um dadurch die Gewissheit zu erlangen, welche Vorstellungen auf seine Thätigkeit wirkten, und welche etwa bei einem Andern gewirkt hätten, bei diesem Individuum aber =nicht= vorhanden waren. Zur Ausmittlung dieses Verhältnisses ist nun insbesondere die Betrachtung gewisser Gemüthszustände vom objektiven Gesichtspunkte geeignet. Ich erlaube mir zu diesem Ende über folgende Gemüthszustände, nämlich über =Affekte= und =Leidenschaften= und =Schwärmerei= Einiges zu sagen, Zustände, welche in der Regel nicht unter die Krankheiten gehören. Dieser Darstellung folgen einige Bemerkungen über Blödsinn und Dummheit, weil diese Zustände nur zum Theile in die Kategorie von Krankheiten gehören. Diesen folgen einige Worte über einige wirkliche krankhafte Zustände, nämlich _monomania_ und fixe Idee, ferner Melancholie und _mania occulta_, weil, ungeachtet diese Zustände zu den entschieden krankhaften gehören, es doch in einzelnen Fällen zweifelhaft sein kann, ob und wiefern ihr blosses Vorhandensein die Strafbarkeit in Bezug auf eine bestimmte That aufzuheben geeignet sei; endlich Einiges über verstellte Gemüthszustände und Berauschung. Bei jedem dieser Zustände habe ich mich bemüht, so viel es mir möglich war, die besondern Modificationen anzugeben, welche der juridische Zweck einer solchen Erhebung erfordert, um zu einem, dem Zwecke dieser Erhebung entsprechenden Resultate zu gelangen, welcher Darstellung sodann einige im gleichen Sinne gesprochene Worte über verstellten Wahnsinn und über den Hang zu gewissen Verbrechen folgen. A. Affekte. §. 65. Das Wort Affekt, zu deutsch =angeregt sein= (nicht Anregung), bedarf in diesem allgemeinen Sinne keiner Erklärung. Gewöhnlich wird es jedoch in einem engeren Sinne genommen, wo es das spezielle, sich durch gewisse Aeusserungen kund gebende =Angeregtsein eines bestimmten Triebes=, eines animalische Wesens bezeichnet, wo dann dieser Begriff durch die Benennung der Aeusserung der Empfindung des in solcher Art angeregten Individuums näher bestimmt wird. Man unterscheidet auf diese Art einen Affekt des Schreckens, des Zornes, der Furcht, der Freude etc. Es wäre nun wohl eine vergebene Mühe, die charakteristischen Merkmale aufzusuchen, wodurch sich die einzelnen Affekte von einander unterscheiden, denn Jedem steht frei, die Zahl dieser Benennungen nach Gutdünken zu vermehren oder zu vermindern, die Wissenschaft, wenigstens die Rechtskunde, wird dabei weder gewinnen noch verlieren, so wenig als die Heilkunde dadurch gewinnen oder verlieren wird, wenn man mehr oder weniger Krankheitsformen, welche aber alle auf dieselbe Weise geheilt werden, aufstellt, wenn man nur in erster Beziehung das charakteristische Merkmal des sich äussernden =speziellen Triebes= nicht aus dem Auge verliert. Damit nämlich ein Trieb sich so entschieden äussere, dass man ihn von seiner Aeusserung mit Bestimmtheit zu erkennen vermag, muss nothwendig vorausgesetzt werden, dass dieser Trieb mehr als =andere= Triebe angeregt gewesen sei, und dass daher das =Gleichgewicht der Funktionen gestört wurde=. Diese Erscheinung ist nun, und zwar auf zweierlei Art, möglich, nämlich dadurch, dass ein Trieb in seiner natürlichen Aeusserung =gehemmt= und dadurch zu einer sonst =nicht normalen Stärke= gebracht wurde, oder dass ein der =natürlichen Entwicklung= des Triebes entgegenstehendes Hinderniss plötzlich =aufgehoben= wird. In dieser Rücksicht lassen sich die Affekte, jedoch ohne viel Gewinn für die Wissenschaft, in angenehme und unangenehme, und je nachdem das Hinderniss plötzlich oder allmälig eintritt oder gehoben wird, in erregende und deprimirende eintheilen u. s. w. Wichtiger als diese Eintheilungen wird es für den Zweck der richterlichen Erhebung sein, das =Vorhandensein= des Affektes und dessen =Einfluss auf den Willen= des Individuums zu bestimmen, zu welchem Behufe folgende Bemerkungen nicht überflüssig sein dürften. §. 66. Wenn wir diejenigen Erscheinungen betrachten, welche man als Affekte bezeichnet, so finden wir, wie bereits im vorigen Paragraph angegeben wurde, als gemeinschaftliches Merkmal eine Empfindung eines =angeregten Triebes=, d. i. (laut §. 10) das Bewusstwerden der =Befreiung= oder der =Hemmung= eines sich äussernden Triebes durch einen =äusseren Eindruck=. Der Affekt gehört also in das Gebiet der =Vorstellung=, und kann sich daher nur nach den Gesetzen der Vorstellungsthätigkeit äussern, d. h. er wird und =muss= auf die äussere Thätigkeit =reagiren=. Die einzige Art und Weise, wie die Vorstellung eines angeregten Triebes auf die äussere Thätigkeit reagiren kann, ist nun der Natur der Sache nach, dass er diese zur Befriedigung, wo diese möglich ist, und zur Hinwegräumung des Hindernisses, wo ein solches vorhanden ist, antreibt. -- Die eine oder die andere Wirkung =muss= also erfolgen, und wo sie nicht erfolgt, kann dieses Nichterfolgen nur darin seinen Grund haben, weil Vorstellungen vorhanden waren, welche hinlängliche Stärke besitzen, um diese Wirkung des Affektes zu =beseitigen=. =Mangeln= aber solche Vorstellungen, so ist es ganz =undenkbar=, dass der Affekt sich nicht =gerade so= äussern sollte, wie es nothwendig ist, um, und zwar auf dem möglich =kürzesten= Wege, zu seiner, d. i. des angeregten Triebes, =Befriedigung= zu gelangen. Soll daher eine im Affekte begangene That strafbar sein, so muss vor Allem nachgewiesen werden, dass bei dem Menschen, welcher die That beging, wirklich zur Zeit der Begehung der That Vorstellungen =vorhanden= waren, welche genug Stärke besessen haben, ihn von der Hingebung an den Einfluss seines Affektes abzuhalten, wenn er nur =gewollt= hätte. Dieser Beweis ist auch in dem Falle, wo das wirkliche Eintreten eines Affektes nachgewiesen wird, meistens gar nicht schwierig, es wolle daher der verehrte Leser wegen der Konsequenzen, welche daraus etwa hervorgehen, dass die Motivirung einer That durch den Affekt hier so zu sagen als ein Grund der Straflosigkeit dargestellt wird, sich immerhin einstweilen beruhigen, und mit Aufgebung aller Besorgnisse weiter lesen. §. 67. Zur Richtigstellung des Umstandes, ob wirklich bei dem Individuum, welches eine bestimmte Handlung verübte, Vorstellungen vorhanden waren, welche hinreichend stark waren, ihn von der Begehung der That abzuhalten, wenn er ihrem Impulse hätte folgen =wollen=, hat man nun zwei Anhaltspunkte, nämlich _a_) die durch die Beschaffenheit der menschlichen Natur =überhaupt= bedingte Stimmung in Bezug auf die vollbrachte That; _b_) die durch die =individuellen= Verhältnisse des betreffenden Subjektes bedingte Stimmung desselben in gleicher Beziehung. In erster Beziehung darf nicht ausser Acht gelassen werden, dass der Mensch, wie dies bei §. 20 erwähnt ist, immer ein =ganzes=, nicht ein getheiltes Wesen ist, dass daher kein Eindruck denkbar ist, der nicht sein =ganzes= Wesen affizirte. Wenn daher irgend ein Eindruck auf ihn wirkt, so kann dieser wohl eine bestimmte Funktion besonders anregen, immer bleibt jedoch der =ganze= Mensch angeregt, er wird daher immer als =Mensch=, niemals als =Thier= empfinden, und es werden daher seine Affekte ebenfalls immer die =Affekte eines Menschen=, niemals die Affekte eines Thieres sein. Zu den charakteristischen Merkmalen der Menschheit gehören nun einerseits =deutlichere= und =lebhaftere= Vorstellungen, somit eine viel lebhaftere und reichlichere Ideenassociation, und wie bei §. 20 nachgewiesen wurde, darunter die jedenfalls sehr lebhafte Vorstellung des Vorhandenseins der =sittlichen Freiheit=; es ist daher nur im =Ausnahmsfalle=, dessen Möglichkeit im folgenden Paragraph näher erörtert wird, denkbar, dass der Mensch auch im Affekte =ohne= das Bewusstsein der sittlichen Freiheit handle. Begeht daher der Mensch im Affekte eine strafbare Handlung, so bleibt er dennoch strafbar, weil er gegen das Sittengesetz, dessen Bewusstsein ihm =seiner Natur nach= auch im Affekte =nicht= mangelte, gehandelt hat; der Affekt beweist dann gegen die Strafbarkeit seiner Handlung nichts weiter, als dass es ihm =etwas schwerer= gewesen ist, auch in diesem Falle dem Sittengesetze zu folgen; es beweiset aber gar nichts =gegen= die Strafbarkeit seiner Handlung, wenn er bei sonst =ruhigem= Zustande die That =beschloss=, und sich willkürlich, um die That sicherer zu begehen, in einen Affekt versetzte. Ein Fall der letzteren Art wäre z. B., wenn Jemand beschlossen hätte, einen Anderen zu ermorden, dazu aber im ruhigen Gemüthszustande nicht sich entschliessen zu können fühlend, mit diesem einen Streit anfängt, um in dem dadurch hervorgerufenen Affekt des Zornes die zum Morde nöthige Stimmung zu gewinnen[39], eben so wenig gereicht es zur Entschuldigung, wenn er zwar im Affekte die That beschloss, jedoch dabei das Bewusstsein hatte, dass die That unerlaubt sei, welches Bewusstsein auch durch den Affekt nicht nothwendig aufgehoben wird. [39] Ganz Dasselbe gilt in dem Falle, wo Jemand, welcher einen Affekt, z. B. jenen des Zornes, in sich entstehen fühlt, und dabei die Neigung gewahrt, dem Andern etwas anzuthun, sich, obwohl es ihm möglich war, durch Entfernung etc. der Gefahr, von diesem Drange überwältigt zu werden, =nicht= entzieht. Das Strafbare liegt hier in seiner =Unthätigkeit=, mit der er sich einem Zustande =hingibt=, von welchem er fühlt, dass er dem Anderen gefährlich werden kann. Etwas ganz Aehnliches findet bei der Trunkenheit Statt. Fühlt nämlich Jemand beim ersten Glase die Lust, einen Anderen zu prügeln, und er trinkt, obwohl er bemerkt, dass diese Lust durch den Wein entstanden ist, noch ein zweites, und prügelt ihn dann wirklich, so liegt das Strafbare in jenem Trinken des zweiten Glases, und die Berauschung, die darauf folgt, kann diesen Akt nicht entschuldigen. Vom Gesichtspunkte der =menschlichen Natur= aus betrachtet kann daher der =Affekt nie= die Straflosigkeit wegen eines begangenen Verbrechens begründen. §. 68. Anders stellt sich die Sache dar, wenn man die Wirkung des Affektes von dem Standpunkte der durch die =individuellen= Verhältnisse des betreffenden Subjektes bedingten =Stimmung= desselben betrachtet. Der Mensch ist nämlich in seiner Totalität nicht =blos= ein sittliches, sondern er ist auch ein =sinnliches= Wesen, während er sich nämlich in dem Stoffe, aus welchem seine Vorstellungen gewebt sind, dadurch, dass diesem Stoffe wirklich ein Uebersinnliches =beigemischt= ist, wesentlich von dem Thiere =unterscheidet=, muss die Entwicklung der Vorstellungen, da hiezu die wirklich sinnlichen Organe das Werkzeug sind, =auch den organischen Gesetzen= gehorchen. Unter diese Gesetze gehört es nun auch, dass zwar keine Affektion des =einen= Organes, ohne den =Gesammt=organismus zu berühren, möglich ist, dass aber in dem Masse, als das einzelne Organ =stärker= berührt wird, die Berührung, welche der Gesammtorganismus dadurch erleidet, =weniger empfunden wird=, und dass daher, je heftiger ein Affekt hervortritt, um so geringer das Bewusstsein von dem Eindrucke, welchen das Gesammtleben dadurch erfährt, werde, am Ende aber, wenn der Affekt auf das Höchste gestiegen ist, auf den Nullpunkt herabsinken muss. Auch bei dem höchsten Affekte sind daher die Vorstellungen des Sittlichen nicht =ausgeschlossen=, in dem Masse jedoch, als der Affekt steigt, werden alle Vorstellungen, die mit dem Gegenstande des Affektes nicht im unmittelbaren Zusammenhange sind, =schwächer= werden, und daher minder im Stande sein, auf die Thätigkeit, welche der Affekt fordert, hemmend zu wirken, und daher im =heftigsten= Grade des Affektes ihre Wirksamkeit ganz =verlieren=. §. 69. Je heftiger ferner der Affekt ist, um so weniger können durch solchen selbst =andere= Vorstellungen =erzeugt= werden, als solche, welche sich eben auf die Entwicklung des sich äussernden Triebes[40] beziehen. Wenn also in dem Augenblicke, als ein solcher Affekt =eintritt=, nicht schon bestimmte sittliche Vorstellungen, und zwar mit einem gewissen Grade von Intensität vorhanden sind, so werden sie auch die Wirkung des Affektes nach Aussen zu nicht =hemmen= können. [40] Es steht wohl dieser Ansicht nicht entgegen, dass man nicht immer _a priori_ angeben kann, welcher Trieb angeregt werden muss, um irgend einen mit einem bestimmten Namen bezeichneten Affekt, z. B. Schrecken, zu erzeugen, ja dass zur Hervorbringung eines mit einem bestimmten Namen bezeichneten Affektes =verschiedene= Triebe geeignet sind. Es ist bei der Lebensart des Menschen immerhin denkbar, dass die die Anstrebung eines bestimmten Gegenstandes eine Komplikation =mehrerer= Triebe sei, und dass es schwer, ja unmöglich ist, denjenigen herauszufinden, der da =vorzugsweise= angeregt war, allein dies beweiset wohl nichts gegen die ausgesprochene Ansicht, sondern höchstens dafür, dass die verschiedenen Benennungen der Affekte von keinem praktischen Werthe sind. Der Grund eines solchen Mangels der Entwicklung sittlicher Vorstellungen gegenüber dem Affekte kann jedoch auch in der subjektiven Beschaffenheit des Individuums liegen, welches entweder durch natürlichen =Stumpfsinn= (Dummheit) oder durch Mangel an Statt gefundenem Eintritte deutlicher sittlicher Vorstellungen (Roheit) wenig derlei Produkte in sich aufgenommen hat, wo dann ein weit geringerer Grad des Affektes hinreicht, die im vorigen Paragraph angedeutete Wirkung zu erzeugen. Eben dieselbe Folge kann in dem Falle eintreten, wo bereits eine =krankhafte Disposition= im Menschen vorhanden ist, durch welche eine, wenn auch nicht vollkommen die Objektivität der Auffassung aufhebende, jedoch theilweise Geistesverwirrung entsteht, oder wodurch die sonst gewöhnliche Entwicklung der Ideenassociation entweder gehemmt (wenn auch nicht aufgehoben), oder nach einer besonderen Richtung geleitet, oder an der Verfolgung einer gewissen Richtung gehindert wird. Einiges in dieser Art wird beinahe jeder nur einigermassen erhebliche Krankheitszustand, so wie auch Trunkenheit, wenn sie auch den Menschen der Besinnung noch nicht vollständig beraubt hat, bewirken. Da nun, wie es bei §. 20 gezeigt wurde, die Vorstellung Desjenigen, was unter gewissen Verhältnissen das Sittengesetz von dem Menschen fordert, auf doppeltem Wege zum Bewusstsein gelangt, nämlich durch das eigene Sittlichkeitsgefühl und durch traditionelle Mittheilung, dass unter gewissen Verhältnissen ein gewisses Benehmen den Forderungen des Sittengesetzes entspreche oder nicht entspreche, so kann es geschehen, dass einem in einem heftigen Affekte befangenen Subjekte nur die =durch Tradition= erhaltene Vorstellung seiner Verpflichtung zum Bewusstsein kommt, während das =Gefühl=, welches dieses bestimmte Verhalten von ihm fordert, sich gar nicht, oder doch nicht mit solcher Energie, äussert, dass das Subjekt eine Empfindung von der hierdurch erfolgten Anregung erhielte. Da nun in solchen Fällen die Erinnerung an die blos =traditionell= überkommene Vorstellung ohne besondere =Anregung= bleiben wird, so ist es dann ganz natürlich, dass sie der durch den =Affekt= hervorgebrachten Anregung entweder =gar keinen= oder nur einen =ganz unbedeutenden= Widerstand zu leisten vermag, eine Stimmung, durch welche allein die Thatsache sich erklären lässt, dass zuweilen ein Subjekt angibt: ich wusste, dass dasjenige, welches ich that, Unrecht sei, allein ich konnte nicht anders -- eine Stimmung, deren psychologische Möglichkeit sich daher nicht schlechterdings läugnen lässt. §. 70. Dasjenige, welches hier von dem Einflusse der Affekte auf die Macht der sittlichen Vorstellungen in Bezug auf eine bestimmte Handlungsweise gilt, gilt um so mehr dann, wenn es sich um die Macht der =Mittel= handelt, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Der =Zorn= ist bekanntlich der schlechteste Fechter. Eben so geht es aber beinahe in allen Fällen, wo es sich darum handelt, ein taugliches Mittel zur Erreichung eines bestimmten Zweckes während der Dauer eines Affektes aufzufinden. Bei dem =Schrecken=, welchen eine entstandene Feuersbrunst verursacht, geschieht es nicht selten, dass Leute ihr Geld oder ihr Geschmeide liegen lassen und irgend einen werthlosen Plunder mit grosser Anstrengung ihrer Kräfte forttragen. Mir selbst kam die Thatsache vor, dass Jemand bei einer solchen Gelegenheit einen Korb voll Porzellain über die Kellertreppe hinab ausleerte. Es ergibt sich daher folgender, für die Rechtspflege höchst folgenreicher Satz: Ein Affekt kann möglicher Weise entweder für sich allein, oder in Verbindung mit andern, bei dem demselben unterworfenen Individuum Statt findenden, auf seine Stimmung wirkenden Einflüssen, die Wirkung haben, dass für den Augenblick, in welchem der Affekt seine Wirkung auf die äussere Thätigkeit äussert, =die Vorstellung von der Unsittlichkeit oder von sonstigen Eigenschaften der Handlung= (somit also insbesondere von der =Unrechtmässigkeit= derselben) ganz =unmächtig= zur Bestimmung seiner Thätigkeit, in Betreff der seinem Affekte entsprechenden =Handlungsweise=, bleibt. §. 71. Aus diesem Satze, dessen Richtigkeit nach dem Vorausgegangenen kaum mehr einem erheblichen Zweifel unterworfen sein dürfte, ergibt sich nun eine, für die Erhebung eines solchen Zustandes zu dem Ende, um hiernach die =Strafbarkeit= einer Handlung auszumitteln, höchst wichtige Folge. Es kann nämlich keinem Zweifel unterliegen, dass das Entstehen der Affekte nicht nothwendig die Folge eines =Krankheitszustandes= ist, sondern vielmehr in dem =natürlichen= Verhältnisse des Menschen zur Aussenwelt beruhe, dass daher zur Beurtheilung der =Gewalt= des Affektes die Materialien =zunächst= nicht im Gebiete der Pathologie, sondern recht eigentlich im Gebiete der durch die =gewöhnliche Lebenserfahrung= gewonnenen Resultate entnommen werden müssen; es ergibt sich aber auch, dass bei dem Umstande, wie wir gehört haben, auch solche Zustände, welche wirklich in das Gebiet der Pathologie gehören, auf die Wirkung der Affekte, insbesondere auf Ausschliessung von solchen Vorstellungen, welche ohne Vorhandensein dieses pathologischen Zustandes der Aeusserung des Affektes =entgegengetreten= wären, von grossem Einflusse sein können, dort, wo ein solcher Zustand =vermuthet= wird, auch die Erhebung die Beiziehung eines =Arztes= erfordere, dessen Aufgabe es dann sein wird, =nicht blos nach pathologischen Grundsätzen allein=, sondern mit genauer Berücksichtigung =aller= auf die That Beziehung nehmender Umstände darzustellen, =welche= Vorstellungen die That veranlassten, welche Vorstellungen, die etwa sonst geeignet waren, das Subjekt von der That =abzuhalten=, =mangelten=, oder =zu wenig intensiv= waren, um der That, als dem natürlichen Produkt des Affektes, hemmend entgegenzutreten, und =warum=, insbesondere aus welchen =pathologischen= Gründen sich für diesen Abgang ausgesprochen werden müsse. Wird aber diese Aufgabe in dieser Art mit Umsicht gelöst, so lässt sich auch erwarten, dass mit dieser Darstellung dem Bedürfnisse der Rechtspflege vollkommen entsprochen sein wird, indem in dem Falle, wenn eine solche Darstellung vorliegt, der Ausspruch des Richters: ist die That zurechenbar oder nicht? keinem, oder doch mindestens keinem erheblichen Anstande mehr unterliegen kann, denn es kann nicht bezweifelt werden, dass dort, wo die Vorstellung von der Strafbarkeit der Handlung nicht vorhanden oder erwiesenermassen nach seiner Stimmung unwirksam bleiben musste, auch die Zufügung der Strafe ihren Zweck verfehlen würde, der doch nur darin liegt, von der Begehung einer Handlung in Fällen abzuhalten, wo eine Abhaltung möglich ist, und zur Möglichkeit gehören eben sowohl die psychischen als die physischen Naturgesetze. Als ein Beispiel dieser Art Erhebung dürfte etwa der Fall dienen, in welchem bei einer Statt gefundenen Rauferei Jemand von einem Anderen so heftig am Halse gewürgt wird, dass er zu ersticken glaubt, dabei aber doch so viele Besinnung behält, sich zu erinnern, dass er ein Messer im Sacke habe, dieses zieht und dem Anderen einige Stiche beibringt, von denen Dieser todt bleibt. Hier lehrt die gewöhnliche Lebenserfahrung, dass das Gewürgtwerden eine sehr beängstigende Empfindung hervorbringt, welche die Thätigkeit der Menschen dahin bestimmt, sich aus dieser Lage zu =befreien=. -- Zur Richtigstellung dieses Umstandes bedarf es nun eben nicht nothwendig des ärztlichen Ausspruches. Es bedarf aber des ärztlichen Ausspruches zur Erhebung des Umstandes, ob nach den vorhandenen Spuren oder sonst nach der Art und Weise, wie das Würgen Statt hatte, insbesondere nach der physischen Beschaffenheit des gewürgten Subjektes, es denkbar sei, dass die Beängstigung einen =so hohen Grad= gewonnen habe, dass ihm unter anderen, vielleicht nach den Statt gefundenen Verhältnissen etwa wirklich vorhandenen Hilfsmitteln gerade nur das Eine, der Gebrauch des Messers nämlich, beigefallen sei etc. B. Leidenschaften. §. 72. =Was ist Leidenschaft?= Jede Wissenschaft, in welcher dieses Wort vorkommt, hat darüber ihre eigenen Ansichten, welche jenen anderer Wissenschaften oft schnurgerade entgegengesetzt sind. Die Moral findet in den Leidenschaften gerade den Weg, welcher den Menschen von seiner Bestimmung ablenkt, während der Geschichtschreiber in den menschlichen Leidenschaften gerade das Vehikel erblickt, welches ihn seiner Bestimmung zuführt u. s. w., und die Physiologie beweiset, dass gewisse Leidenschaften eine =nothwendige= Folge gewisser =organischer= Verhältnisse sind, und ohne diese Verhältnisse gar nicht eintreten =können=. Um nun bei diesen abweichenden Ansichten einen festen Grund zu finden, auf welchem man diesem Gegenstande die richtige Seite abzugewinnen vermag, erübrigt nichts, als solche Thatsachen aufzusuchen, welche hierüber ein hinreichendes Licht gewähren, und zugleich so allgemein bekannt oder doch Jedermann so vor Augen liegend sind, dass sie nicht wohl bestritten werden können. =Leidenschaft und Affekt sind verschiedene Begriffe.= Es gibt nämlich Affekte =ohne= Leidenschaft, auch sind die =Thiere= mancherlei Affekten unterworfen, Niemand hat jedoch von einer =Leidenschaft eines Thieres= im Ernste gesprochen[41]. Es ist also das Vorhandensein von Leidenschaften eine Erscheinung, welche man dem Menschen =im Unterschiede= von dem Thiere zuschreibt. [41] Man sagt zwar: der eitle Pfau, das stolze Pferd u. s. w., allein der Grund ist kein anderer, als weil ein eitler Mensch in seinem Betragen eine Aehnlichkeit mit dem nach unseren Begriffen wirklich schönen Pfau hat, auch man die Bemerkung gemacht zu haben glaubt, dass mancher Mensch, welcher stolz ist, auf eine ähnliche Art nickt, wie ein geputztes Schlittenpferd. Indess, der arme Pfau geht so, wie er gehen muss, weil ihm der schwere Schweif nachschleppt, und ein Esel, welchem man den Kopf durch ein Gebiss in die Höhe bindet und überdies noch einiges Bänderwerk anhängt, das ihn auf der Stirne und in die langen Ohren kitzelt, wird zuverlässig auch einige superbe Bewegungen machen. Eher könnte man davon sprechen, dass ein Jagdhund leidenschaftlich gerne jage u. s. w., allein auch dieses ist nur figürlich gesprochen, denn das Jagen ist hier die =einzige= Fähigkeit, die ein solches Thier, und zwar zufolge eines physischen Bedürfnisses, instinktmässig übt; eine solche Vorliebe eines Thieres für eine gewisse Thätigkeit =sieht daher wohl aus= wie Leidenschaft, ist aber in Wirklichkeit nur eine sich ganz =unbewusst= äussernde physische Thätigkeit. Man spricht aber ferner von der Leidenschaft als etwas, welches der Mensch zum Besten der Sittlichkeit =bekämpfen= soll, es muss daher unter Leidenschaft ein Zustand verstanden werden, welcher in naher Beziehung mit der =Sittlichkeit= steht. Man nennt ferner einen Menschen =leidenschaftlich=, wenn er von allen, oder doch verhältnissmässig von =vielen= Gegenständen, mit welchen er in Berührung kommt, so heftig angeregt wird, dass er dann Dinge, welche sonst entweder wirklich zur Sache gehört hätten oder für ihn doch sonst von Wichtigkeit gewesen wären, =nicht mehr berücksichtigt=. Man sagt, ein Mensch habe für einen =bestimmten Gegenstand= eine Leidenschaft, wenn er, um diesen Gegenstand zu erreichen, Dinge =unberücksichtigt= lässt, die er nach =vernünftiger= Beurtheilung der Sache nicht hätte ausser Acht lassen sollen. Die Leidenschaft besteht aber endlich nicht in dem =Streben des Affektes= nach Befriedigung, denn Niemand spricht bei Jemanden, welcher nun schon ein paar Tage gehungert hat, von einer Leidenschaft für das Essen, so wenig, als man von Jemanden, der auf einer schiefen Fläche steht, sagt, er habe einen =Trieb= zum Fallen, sondern man erkennt an, dass der Mensch im ersten Falle nothwendig einen heftigen Trieb zum Essen empfinden müsse, im letzteren aber durch eine äussere Gewalt zum Umfallen bestimmt wurde. Ein aufgeregter Trieb kann endlich wohl Leidenschaften =veranlassen=, allein es lässt sich nicht sagen, dass eben ein aufgeregter Trieb immer die =Quelle= der Leidenschaften sein müsse, denn bei den meisten jener Zustände, welche man als Leidenschaften bezeichnet, lässt sich gar nicht einmal nachweisen, =dass= ein und =welcher= Trieb ihnen zu Grunde liegen soll, z. B. bei der Leidenschaft des Spieles, des Trunkes u. s. w., ja es lässt sich nach dem, was eben gesagt wurde, behaupten, dass, wenn eine Handlungsweise =blos= durch einen aufgeregten Trieb bedingt wird, diese Veranlassung =nur= Affekt und =niemals= Leidenschaft =genannt= werden könne. Dagegen aber ist der Umstand unverkennbar, dass man =Zustände= als Leidenschaften bezeichnet, welche, wie oben erwähnt, gar nicht aus bestimmten =Trieben=, sondern nur aus solchen =Vorstellungen= hervorgehen, welche selbst nur die Folge einer =langen= und oft sehr =komplicirten= Reihe von Vorstellungen sind, z. B. Eifersucht, Herrschsucht, Geiz u. s. w., ja wir begegnen sogar der Erscheinung, dass der in Leidenschaft befangene Mensch im Stande ist, die =stärksten Triebe zu unterdrücken=, wenn sie dem Ziele seiner Leidenschaft entgegen sind, und zwar tritt hier noch der besonders zu berücksichtigende Umstand ein, dass diese Wirkung der Leidenschaft sich in um so höherem Grade und in desto grösserem Umfange gewahren lässt, je mehr der Gegenstand, welchen die Leidenschaft anstrebt, sich als ein =Begriff= darstellt, und daher =entfernt= ist, der Gegenstand eines bestimmten =Triebes= zu sein. Der =Wollüstling=, welcher einem bestimmten Gegenstände nachstrebt, wird gewöhnlich noch Musse genug behalten, noch =andere= Dinge zu treiben und sich noch =anderen Genüssen= hingeben; der =Ehrgeizige= wird =blos= seinem Ehrgeize leben, und was dieser Leidenschaft =nicht= dient, für schal und seines Strebens unwürdig halten. Es ergibt sich daher aus allen diesen Daten, dass Leidenschaft keineswegs ein =physischer= Hang des Menschen, sondern ein, durchaus durch seine =Vorstellungsthätigkeit= erzeugtes Resultat sei, welches durch =physische= Triebe wohl =veranlasst=, niemals aber durch diese Veranlassung =allein= hervorgebracht sein kann. -- Will man daher Leidenschaft definiren, so kann eine solche Definition nicht anders lauten, als: Leidenschaft sei derjenige Zustand des Menschen, in welchem er den Gegenstand einer ihm einen Genuss versprechenden =Vorstellung= mit =Unterordnung= jedes diesen Gegenstand nicht berührenden Strebens, anzustreben sich angeregt fühlt. §. 73. Es folgt jedoch aus dieser Ansicht von dem Wesen der Leidenschaft, dass dieser Zustand, eben weil derselbe ein rein psychischer Zustand ist, nur nach psychischen Gesetzen betrachtet und beurtheilt werden könne. Es folgt daher, weil gerade in der Region der Vorstellungsthätigkeit (wie dies bei §. 58 nachgewiesen wurde) das der menschlichen Natur nothwendige, und dieselbe charakterisirende =Gleichgewicht herrscht=, dort, wo =nur= Leidenschaft, nicht aber ein durch einen äusseren Eindruck bedingter =Affekt=, auf den Menschen wirkt, das Bewusstsein der Freiheit und Selbstbestimmung =niemals= aufgehoben sein könne, sondern dass der Zustand des Menschen, welcher eine Leidenschaft in sich entwickelt hat, sich immer so gestalten wird, dass er zwar sich der =Anregung zur Erstrebung= des Gegenstandes derselben bewusst ist, zugleich aber auch sich dabei als ein =freies= Wesen fühlt, welches, wenn er sich die Lust der Erreichung versagen =will=, sich dieselbe auch versagen =kann=. Leidenschaft ist daher als solche =niemals= ein moralischer Zwang für den Menschen, und daher =niemals= ein Grund, welcher die =Strafbarkeit= einer Handlung, welche zur Erreichung des Gegenstandes der Leidenschaft unternommen wurde, =aufhebt=. Diese Ansicht ergibt sich nun ausser aus der eben angeführten Rücksicht noch insbesondere aus der Betrachtung der früher bezeichneten Zustände, welche man Leidenschaft nennt. Keiner darunter ist unmittelbar aus dem =Bedürfnisse= der menschlichen Natur hervorgegangen, sondern jeder darunter kann nur durch eine Kombination von Begriffen entstanden sein, er muss daher die mannigfaltigsten, d. i. alle dem Menschen =seiner Natur nach= möglichen, und daher insbesondere diejenigen Vorstellungen in sich begreifen, welche mit dem Bewusstsein seiner =sittlichen Freiheit= verbunden sind. Umgekehrt lässt sich aber behaupten, dass das =Entstehen einer Leidenschaft= ohne die Bedingung des =freien= Hingebens an den Gegenstand derselben gar nicht einmal =denkbar= ist, -- denn wo kein freies Ergeben an die Macht einer Vorstellung Statt findet, kann diese entweder auf die Thätigkeit des Menschen =gar nicht= wirken, oder sie wirkt -- wie gewisse Affekte -- so schnell und so heftig, dass die Wirksamkeit jeder anderen Vorstellung =ausgeschlossen= ist, nicht aber in der Art, dass sich alle anderen Vorstellungen, ohne aus dem Bewusstsein zu verschwinden, nur dem durch die herrschende Vorstellung angeregten Streben =unterordnen=. Ist sich der Mensch aber anderer Vorstellungen =bewusst=, und er folgt ihnen =nicht=, wenn sie einer bestimmten Vorstellung entgegengesetzt sind, so handelt er nicht mehr auf eine bestimmte Weise so und nicht anders, weil er nicht anders =kann=, sondern weil er nicht anders handeln =will=, d. h. weil er der ihm =minder= zusagenden Vorstellung, gegenüber der ihm =angenehmeren=, keine Macht einzuräumen entschlossen ist; er entsagt somit der in der minder intensiven Vorstellung enthaltenen =Aufforderung= zu Gunsten der =ersteren=, und wenn diese =minder= intensive Vorstellung jene der =sittlichen= Autorität ist, so begibt er sich daher =ungezwungen= seiner sittlichen Freiheit, er handelt also mit =Willen= unsittlich. Betrachten wir aber nun _in concreto_ alle jene Zustände, welche man als Leidenschaften unter bestimmten Benennungen bezeichnet, so ist nicht ein einziger darunter, von welchem sich sagen liesse, dass er plötzlich entstehen könne, sondern jeder darunter setzt ein wiederholtes freiwilliges Nachgeben gegen gewisse Anregungen, und dort, wo das Endresultat ein Unsittliches ist, sogar ein wiederholtes unsittliches Handeln, oder mindestens wiederholte Gedankensünden voraus. -- Selbst die Leidenschaft der Liebe, obwohl derselben ein mächtiger, sinnlicher Trieb zunächst zu Grunde liegt, macht hievon keine Ausnahme. _Shakespeare_ lässt, um es wahrscheinlich zu machen, dass sein _Romeo_ im Augenblicke von einer heftigen Leidenschaft für _Julien_ ergriffen wird, denselben früher für eine _Rosalinde_ schwärmen, -- die Leidenschaft war also schon vorhanden, als er _Julien_ erblickte, nur der Gegenstand wechselte. Ausserdem finden sich Beispiele von unwiderstehlicher, im Augenblicke entstandener, unvertilgbarer Liebe, in _Lafontaine'schen_ und ähnlichen Romanen und -- sonst nirgends[42]. [42] _De mortuis nil nisi bene_, ist ein Spruch, den sich jeder lebende Autor gegenwärtig halten sollte, ich will daher auch diesem Autor nicht zu nahe treten, der in seinen eben so thränen- als bändereichen Romanen denn doch nur die Stimmung seines Zeitalters ausdrückte, welcher selbst _Schiller_ in seiner _Louise_ in etwa huldigte; so viel dürfte jedoch gewiss sein, dass von dieser Seite betrachtet, jeden Leser, der einen solchen Roman durchblättert -- ihn durchzu=lesen= wird wohl schwerlich Jemand von meinen verehrten Lesern Heldenmuth genug besitzen, -- wenigstens ein angenehmes Gefühl anwandeln wird, -- das Gefühl nämlich, dass das Zeitalter, in dem man so =dachte= und so =schrieb=, =glücklicherweise= vorüber sei. §. 74 Obwohl aus dem bisher Gesagten sich wohl der unbezweifelte Schluss ergibt, dass Leidenschaft die Strafbarkeit einer Handlung niemals aufzuheben vermag, so gilt diese Behauptung doch nur von der =Leidenschaft als solcher=, z. B. in Bezug eines Geizigen, welcher, weil er sich von seinem Mammon nicht trennen will, einem Anderen sein Geld vorenthält, nicht aber auch dann, wenn dadurch Gemüthszustände =hervorgerufen= werden, welche, einmal vorhanden, =selbstständig= auf die Vorstellungsthätigkeit wirken, und dann eine strafbare Handlung zur Folge haben. Diese Zustände können nämlich von der Art sein, dass sich mit Bestimmtheit sagen lässt, ihr Eintritt sei eben so wenig in der Absicht Desjenigen gelegen, welcher sich der =Leidenschaft= hingibt, als es in der Absicht Desjenigen, welcher sich blos aus Neigung zum Trunke voll betrinkt, gelegen ist, in diesem Zustande das Haus anzuzünden. -- Es lassen sich daher in Beziehung auf die Wirkung der Leidenschaften folgende Momente unterscheiden: I. Es kann geschehen, dass ein Mensch, welcher sich einer Leidenschaft hingibt, von dem Gegenstande derselben so ergriffen wird, dass der ganze Komplex der Vorstellungen, durch welche seine Handlung sich als eine unsittliche darstellt, ihm =gar nicht erscheint=, d. h. dass der Mensch sich hier in dem Zustande des Vergessens[43] befindet. In einem solchen Zustande lässt sich nicht sagen, dass der Mensch der Forderung der Sittlichkeit nicht folgen =wollte=, sondern er =konnte= dieser Forderung nicht folgen, weil sie an ihn in diesem Augenblicke =nicht gestellt= wurde. [43] Es ist ein Umstand, welcher alle Beachtung verdient, dass man für den Begriff des Vergessens in allen Sprachen ein eigenes Wort hat, während doch der richtige Begriff jener des =nicht Erinnerns= ist, denn das Vergessene wird in =jedem= Falle =wieder zur Erinnerung=, wenn gewisse vermittelnde Vorstellungen mit gehöriger Lebendigkeit angeregt werden. Wie ist es denn aber möglich, dass der Mensch alle Vorstellung der wirklich empfundenen Eindrücke, welche sich noch dazu in seiner Seele, wie in einem Kaleidoskope in's Unendliche combiniren, so festhalten kann, dass er sie bei gehöriger Anregung wiederfindet? -- Das =wie= lässt sich nun nicht erklären, allein es ist auch möglich, die unendliche Zahl der Sterne mit Einem Blicke zu übersehen, es lässt sich daher auch die Möglichkeit nicht bestreiten, dass es in dem unbegreiflichen Wesen des Menschen Raum für ein Unendliches gibt. Ob aber ein solcher Zustand wirklich vorhanden war, muss nach den über die Beurtheilung und Erhebung der =Affekte= aufgestellten Grundsätze beurtheilt werden. Die Vermuthung gilt immer für die =Regel=, das =Erinnern=. Es muss also die Erhebung von der Voraussetzung ausgehen, dass der Beschuldigte sich wirklich erinnert habe, dass die That unsittlich sei, und hiernach die Frage gestellt werden. II. Die Leidenschaft kann durch die aufgeregten Vorstellungen auf den Trieb =zurückwirken=, und dadurch einen heftigen Affekt =erzeugen=, besonders wenn die Anregung dazu durch einen äusseren Eindruck =plötzlich= gegeben wird. III. Die Leidenschaft kann durch die Rückwirkung der Vorstellungsthätigkeit auf den Organismus =Krankheiten=, und unter diesen wirklichen =Wahnsinn= erzeugen, in welchem von einer Strafverhängung, mindestens von dem Standpunkte aus, in welchem sich dritte Personen im Verhältnisse zu den Kranken befinden[44], keine Rede ist. [44] Es lässt sich schwer beweisen, dass ein Wahnsinniger in dem Kreise der Vorstellungen, in welchem er sich zu drehen vermag, nicht auch =moralisch= oder =unmoralisch= handeln könne und wirklich handle. Man betrachte den Wahnsinn einer Mutter, die über den Tod ihrer Kinder in diesen Zustand verfällt, und jenen eines Schlemmers, der am _delirium tremens_ leidet, und man wird sich von der Richtigkeit dieser Ansicht überzeugen. Nur von =Strafe= kann keine Rede sein, denn diese würde ein nach dem Sinne des =Ideenganges= des =Tollhäuslers= verfasstes Strafgesetzbuch voraussetzen, und dieses wäre denn doch eine sonderbare Idee. §. 75. Bisher wurde nur immer davon gesprochen, wie die =sittliche= Strafbarkeit der in verschiedenen Gemüthszuständen vorkommenden Handlungen zu beurtheilen sei, der =strafrechtlichen= Beurtheilung solcher Fälle aber nur im Vorbeigehen erwähnt. Der Grund, warum die sittliche Zurechnungsfähigkeit bisher nur =vorzugsweise= berücksichtigt werden konnte, ist, weil aus der menschlichen Natur =als solcher= wohl die =Sittlichkeit=, nicht aber das =Recht= abgeleitet werden kann, da der Begriff des Rechtes erst dadurch entsteht, dass =mehrere= Menschen zusammen leben. Nur aus der =Vereinigung= mehrerer Menschen, und zwar, wenn sich dieselben in eine Verbindung begeben, welche man unter der Benennung =Staat= versteht, ist aber ein positives Recht, und insbesondere ein =Strafrecht= denkbar, indem dann der Einzelne das Recht der unbeschränkten Selbstverteidigung zu dem Ende aufgibt, damit der Staat ihm den nöthigen Schutz verleiht, welcher Aufgabe der Staat dadurch entspricht, dass er gewisse Handlungen unter Androhung von Strafe verbietet. Der Grund, aus welchem daher der Staat eine Handlung verbietet, und auf die Uebertretung des Verbotes eine Strafe setzt, ist daher, auf das =Wollen= derjenigen Staatsbürger zu wirken, welche allenfalls geneigt sind, eine Handlung zu begehen, welche der Staat als schädlich für einen oder mehrere Staatsbewohner oder für den Staatsverband selbst erkennt. Da nun sehr viele Handlungen, welche unsittlich sind, auch zugleich schädlich für Andere wirken, so ist es natürlich, dass die =Unterlassung= von vielen Handlungen bei Androhung von Strafe =geboten= ist -- welche =zugleich= unsittlich sind; allein der Grund der Strafe ist =nicht= die Unsittlichkeit, sondern die =Schädlichkeit= der Handlung. Aus eben diesem Gesichtspunkte findet sich der Staat auch nach Massgabe der bestehenden Verhältnisse veranlasst, Handlungen bei Strafe zu verbieten, welche an und für sich ganz und gar =nicht= sittenwidrig sind, aber wegen den obwaltenden Verhältnissen =schädlich= werden, z. B. Ueberschreitung des Pestkordons u. dgl. Die Handlungen, welche für den Staat schädlich werden können, sind nun von zweierlei Art, nämlich solche, deren Schädlichkeit =Jeder= von seinem Standpunkte aus gewahren kann, z. B. Aufruhr, Mord, Raub, Diebstahl etc., oder dieses Verhältniss ist von seinem Standpunkte aus =nicht= erkennbar, sondern sie wird =vorläufig= nur von der Staatsverwaltung bemerkt, -- von dieser Art wäre z. B. der Umstand, dass in einem Orte die Pest ausgebrochen ist, welchen Umstand die Staatsverwaltung früher erfährt, als die einzelnen Bewohner. Die =erste= Gattung der Handlungen kann der Staat nach den Forderungen der Gerechtigkeit auch dann strafen, wenn Demjenigen, welcher eine solche That begeht, das Bestehen eines =Gesetzes= hierüber =nicht= bekannt gewesen wäre, denn Jeder kennt die =sittliche= Verpflichtung, nichts zu thun, wodurch für den Anderen oder für das Allgemeine Nachtheil entsteht. Handelt er daher gegen sein Pflichtgefühl, so ist dann die =rechtliche= Strafe die physische Folge seiner Unsittlichkeit. Das Vorgeben, dass das Individuum die Handlung zwar für =schädlich=, aber nicht für =unsittlich= gehalten habe, würde als widersinnig gar nicht in Betrachtung kommen. Erklärt aber das Individuum, dass es die Handlung =nicht= für schädlich gehalten habe, und ergibt sich, dass ihm das dagegen obwaltende Strafgesetz wirklich =unbekannt= gewesen sei, so wird zwar der Umstand, dass er die That für unsittlich gehalten habe, nicht die =Strafbarkeit= begründen, wohl aber in den meisten Fällen den Weg bahnen, dass er auch die Kenntniss der Schädlichkeit derselben zugebe, weil die meisten unsittlichen Handlungen eben darum unsittlich erscheinen, =weil= sie schädlich sind. Ist jedoch zwar nicht zu erweisen, dass das Individuum die Schädlichkeit oder Unsittlichkeit einer Handlung gekannt habe, es wird aber bewiesen, dass er das, eine Strafe auf die Handlung anordnende Gesetz gekannt habe, so ist er darum strafbar, weil es das ihm bekannte =Gesetz= übertreten hat. Bei Gesetzen, deren Grund nur die, auf besondere Verhältnisse sich gründende Schädlichkeit einer gewissen Handlung ist, wird die Strafbarkeit des Individuums natürlich nur davon abhängen, ob er das verbietende Gesetz gekannt habe, oder dasselbe zu kennen schuldig gewesen ist. §. 76. Die Fragen, auf welche es bei Bestimmung der Strafbarkeit einer gewissen Willensbestimmung ankommt, können daher sein: 1. Hat das Individuum das Gesetz gekannt, welches diese Handlung verbietet, oder doch die Schädlichkeit der Handlung eingesehen? 2. Hat es seine Thätigkeit als eine solche erkannt, wodurch gegen ein Gesetz gehandelt wird, oder als eine solche welche Schaden hervorzubringen geeignet war? Diese Punkte müssen richtig gestellt werden, und hiezu kann man die ärztliche Intervention benöthigen, um auszumitteln: Ob das Individuum nach seiner physischen und psychischen Beschaffenheit geeignet war _a_) das Gesetz, _b_) die Bedeutung seiner eigenen Thätigkeit und insbesondere den Nachtheil derselben, _c_) das Verhältniss seiner Handlung zum Gesetze aufzufassen, und _d_), ob diese Vorstellungen nach seiner und individuellen Stimmung hinreichende Energie gehabt haben, um neben der Statt gefundenen Anregung wirksam sein zu können (§. 70). Der Ausspruch, das Individuum sei zur Zeit der That wahnsinnig gewesen, befreit, sofern er gegründet ist, das Individuum nicht nur von der Strafe, sondern, sofern derselbe noch vor der eingeleiteten Untersuchung erfolgt, wie wir bei §. 47 gesehen haben, auch von der Untersuchung. Ausser diesem Ausspruche gibt es jedoch noch andere, welche im Vereine mit dem Gerichte zu geben sein werden, welche mindestens die Befreiung von der Strafe bewirken können, als: 1. Es sei durch eine im Augenblicke entstandene heftige Einwirkung, entweder durch einen sinnlichen Eindruck von Aussen oder durch eine erregte Vorstellung ein bestimmter Trieb so angeregt worden, dass gar keine andere Vorstellung als jene, welche dem Trieb entsprach, mit einiger Intensivität hervortreten konnte. In diese Klasse gehört der bei §. 70 bemerkte Fall des Würgens. 2. Eine bei sehr gereiztem Zustande plötzlich hinzutretende Anregung, wodurch ein Trieb, nach der Beschaffenheit der Anregung zu schliessen, wenn auch im minderen Grade gereizt wird. Hier gleicht der Mensch einem Gefässe, welches bis zum Rande gefüllt ist. Ein Tropfen dazu und es geht über, d. h. der angeregte Trieb findet keine Vorstellung mehr, welche ihm das Gegengewicht zu halten vermochte, hier mangeln alle Vorstellungen, welche das Gesetz als Bedingung der Strafe voraussetzt, denn der Mensch hat hier (im Augenblicke) ohne freie Besinnung gehandelt, wenn er auch bei der Handlung selbst nicht ohne alle Wahl der Mittel zu Werke ging. Eine solche Thätigkeit kann nun allerdings nicht zurechenbar sein, allein sie ist nicht =deswegen= nicht zurechenbar, weil der Mensch =krank= ist, sondern aus dem Grunde, weil besondere Verhältnisse wirkten, welche ihn in eine zwar durchaus naturgemässe, jedoch so gestaltete Aufregung versetzten, welche ihn unfähig machten, das durch seine Thätigkeit herbeigeführte widerrechtliche Verhältniss =aufzufassen= oder zu =vermeiden=. Auch in diesem Falle kann das Gutachten des Arztes von erheblichen Folgen für die Rechtspflege sein, indem es aus =physiologischen= Daten die besondere Disposition des Individuums für eine gewisse Art Aufregung und die darauf herbeigeführte Unmöglichkeit des Vorhandenseins einer hinlänglich intensiven Vorstellung, welche das Individuum von der Begehung der Rechtsverletzung abzuhalten im Stande gewesen wäre, nachweiset. -- In diese Klasse würde übrigens der bezüglich des Dichters _Alfieri_ erzählte Fall gehören, wo sich, wahrscheinlich durch Betrachtung des physischen und psychischen Organismus desselben und das durch den obgewalteten, durch die angeführten Verhältnisse herbeigeführten höchsten Grad von Aufregung die Wahrscheinlichkeit hätte darstellen lassen, dass derselbe sich in einem Zustande befand, welcher jenem gleichkam, in welcher sich ein im heftigen Fieber-Paroxismus liegender Kranker befindet, welcher durch eine geringe äussere Veranlassung in einen Zustand von Wuth versetzt wird, welchem keine Vorstellung Schranken zu setzen im Stande ist. 3. Es ist endlich noch der Fall denkbar, dass sich ein Mensch nicht in einem Zustande befindet, wo er =allen= Vorstellungen in der Art unzugänglich ist, dass sich sagen liesse, dass er =keiner= Forderung des Rechtsgesetzes sich bewusst sei, dass aber gerade jene Vorstellungen mangelten, welche nöthig gewesen wären, ihn von der Begehung derjenigen Rechtsverletzung, welche er wirklich begangen hat, zurückzuhalten, oder doch zu verhindern, dass er die nachtheilige Folge so weit trieb, als sie wirklich vorliegt. Wenn z. B. Jemand von sehr heftigem Temperamente, und dabei sehr kräftigem Körperbau, durch wiederholte Kränkungen von sehr empfindlicher Art gereizt wird, so kann es geschehen, dass er noch mit =freiem Entschlusse= sich bestimmt, dem Beleidiger mit dem Stocke, den er, der Beleidigte, gerade in der Hand hält, einen Schlag zu versetzen, dabei aber in der heftigen Aufregung, in welcher er sich befindet, vergisst, welches Gewicht der Stock hat, und inwiefern er seine Kraft mässigen muss, um nicht mehr als seine Absicht, den Beleidiger zu beschimpfen und ihm einigen körperlichen Schmerz zu verursachen, zu erreichen. Wird nun der Beleidiger durch einen solchen Schlag getödtet, oder schwer beschädigt, so kommt eigentlich nur der Umstand, dass er schlug, auf Rechnung des Vorsatzes des Beleidigten, der Umstand, dass er mit einem gefährlichen Werkzeuge und so stark schlug, dass diese nachtheilige Folge daraus entstand, kommt auf Rechnung der ohne sein Verschulden verursachten Aufregung, es kann ihm daher nur zugerechnet werden, dass er, ungeachtet er fühlte in einem Zustande zu sein, welcher eine sorgfältigere Bemessung seiner Kraft nicht gestattete, es nicht unterliess, davon einen unter diesen Umständen gefährlichen Gebrauch zu machen. Obwohl nun diese Rücksicht in den wenigsten Fällen das =Wesen= des verübten Verbrechens =ändern= wird, so wird sie doch als ein, seine Strafbarkeit mildernder Umstand erscheinen, muss daher durch die Untersuchung herausgestellt, und in ihrem vollen Umfange der Beurtheilung zugänglich gemacht werden. Der medizinische Theil der Erhebung erhält daher die Aufgabe, sich über das wirklich vorhandene Uebermass an Körperkraft bei dem Verbrechen, und über dessen Disposition zu heftigen, auf seine körperliche Thätigkeit Einfluss nehmenden Gemüthsbewegungen, mit sorgfältiger Prüfung der allenfalls vorhandenen, richterlicher Seits erhobenen Thatsachen über bereits Statt gefundene ähnliche Ausbrüche auszusprechen, und, wenn es der Richter unterlassen haben sollte, ähnliche Daten aufzusuchen, den Richter auf die Nothwendigkeit solcher Erhebungen in seinem Befunde ausdrücklich aufmerksam zu machen, und sie dadurch herbeizuführen. 4. Wie bereits erörtert wurde, ist =Leidenschaft= wohl ein prä-disponirendes Moment zu heftigen Gemüthsbewegungen, und diese letzteren können Verbrechen veranlassen, niemals darf aber gesagt werden, dass die =Leidenschaft= der Grund der Rechtsverletzung sei, da dieser Grund ohne den Eintritt einer solchen, das Bewusstsein aufhebenden, momentanen Gemüthsbewegung nur in dem Umstande liegt, dass der Verbrecher sich dem Hange nach Erreichung des Gegenstandes seiner Leidenschaft mit freiem Entschlusse hingab. Es muss also der Arzt, welcher ein Gutachten über den Gemüthszustand eines solchen Individuums abzugeben hat, immer die Leidenschaft vom Affekt zu unterscheiden wissen, und sein Gutachten so abgeben, dass diese Unterscheidung für den Leser auch klar hervortrete. 5. Von der Leidenschaft ist der Hang zu gewissen Verbrechen wesentlich verschieden, denn Leidenschaft setzt immer die Richtung nach einem individuell bestimmten äusseren Gegenstande, oder nach einer ebenso individuell bestimmten Richtung der physischen oder psychischen Thätigkeit voraus. Das =Verbrechen= aber, es möge wie immer Namen haben, ist immer ein allgemeiner Begriff von einer ganzen Gattung unter einander in materieller Beziehung wesentlich verschiedener Handlungen. Derjenige, welcher z. B. einen besondern Hang zeigt zu =morden=, wird nicht auf alle mögliche Weise morden, wozu sich ihm Gelegenheit darbietet, sondern gewisse Methoden darin üben; Derjenige, welcher einen Hang hat zu stehlen, stiehlt nicht alles Mögliche, was er stehlen kann, sondern nur gewisse Gegenstände, oder unter gewissen Verhältnissen. Es ist also nicht sowohl das Vergnügen an der Verübung des =Verbrechens=, was ihn zu seiner Thätigkeit antreibt, sondern es sind gewisse materielle Beziehungen, welche ihn zu der =bestimmten= That veranlassen. Da jedoch dieser Gegenstand eine besondere Besprechung erfordert, so ist derselbe im Verlaufe dieses Aufsatzes unter einer besondern Aufschrift behandelt. 6. Es kann nie genug empfohlen werden, bei einem Gutachten über Gemüthszustände alle Ausdrücke zu vermeiden, deren psychologische Richtigkeit einem gegründeten Bedenken unterliegt, sondern wenn ein Zustand sich so gestaltet, dass derselbe unter keinem anerkannt richtigen, und allgemein unter derselben Bedeutung anerkannten und angenommenen Ausdrucke subsumirt werden kann, ist es unerlässlich, diesem Mangel dadurch abzuhelfen, dass eine in das möglichste Detail gehende, alle bekannt gewordenen, oder sich als wahrscheinlich darbietenden Nebenumstände umfassende Schilderung des Zustandes, mit Einem Worte, dass ein =Bild der Sache=, und nicht =Worte= gegeben werden. Nur auf diese Weise lassen sich die ganz unlogischen, und daher unwahren Ausdrücke, halbe Freiheit, halber Wille u. dgl., welche nur geeignet sind, eine für die Rechtspflege höchst schädliche Begriffsverwirrung zu veranlassen, vermeiden, da alle diese Funktionen eben so wenig, wie dies am gehörigen Orte nachgewiesen wurde, einer =Theilung= fähig sind, als der Begriff der =Sittlichkeit=; der Mensch kann das sittliche Princip noch wenig entwickelt haben, er kann aber nicht =halb= sittlich handeln, denn dort wo auf eine Handlung der Begriff von Sittlichkeit angewendet werden kann, lässt sich nur sagen, er sei sittlich oder unsittlich. Der Wille kann durch psychische Zustände so beschränkt sein, dass er nur in einer gewissen Beziehung und in einem gewissen Grade auf die Thätigkeit eines Menschen Einfluss zu nehmen vermag; dies ist möglich, wo man aber dieses Verhältniss gewahrt, steht auch nichts entgegen, die Gründe durch Anführung von thatsächlichen Umständen auseinander zu setzen, warum in dem speziellen Falle der Wille gerade so weit, und nicht weiter, oder nicht in einem höheren Grade seinen Einfluss zu äussern vermochte, und man wird, wenn Derjenige, welchem eine solche Schilderung zu geben obliegt, anders die nöthigen psychologischen und anderen Kenntnisse besitzt, welche zur allseitigen Auffassung eines solchen Gegenstandes gehören, und die nöthigen Daten hiezu aufzufinden und zu würdigen versteht, immer zu dem Resultate kommen, dass es des Ausspruches, der Mensch habe nur mit halbem Willen gehandelt, eben so wenig bedarf, als sich bestimmt finden, einen Ausspruch über einen Divisor des Willens zu geben oder zu verlangen. 7. Bei der Darstellung muss immer so zu Werke gegangen werden, dass =ohne= Einbeziehung der =That=, um welche es sich handelt, =diese= als eine nothwendige Folge der bei dem Subjekte beobachteten Abnormitäten, in Verbindung mit den auf die Hervorbringung der That influirenden Verhältnisse nachgewiesen werde, nicht aber dass, wie es auch schon geschehen ist, die That selbst als einer der Gründe erklärt wird, aus welchen der Wahnsinn folgen soll. -- Obwohl es nicht geläugnet werden kann, dass ein solches Verfahren den Gesetzen einer richtigen Beweisführung widerstreitet, deren Regeln ein jeder ärztlicher Befund entsprechen muss, so ist es doch nicht unerhört, dass etwas dergleichen geschehen sei. Da aber in dem Falle, wo das Thema, welches zu beweisen ist, nämlich: die That NN. ist eine „Folge des Wahnsinns” -- wieder in den Beweissätzen oder gar im Schlusse vorkommt, z. B. es würde gesagt, weil der A die Thaten BCD und die That NN. beging, so folgt dass er wahnsinnig sei -- das ganze Raisonnement und daher auch der darauf gestützte Schluss den Gesetzen der Logik widerstreitet, so folgt, dass dieser Fehler nothwendig vermieden werden muss, weil sonst das Gutachten, als auf einem erweislichen Fehlschlusse beruhend, seine Giltigkeit verliert. -- Dieser Fehler rührt, wo er Statt findet, von gar nichts Anderem her, als weil man das eigentliche Thema, zu dessen Erörterung die ganze Erhebung Statt hatte, entweder sich nicht klar zu machen verstand, oder wieder aus den Augen verlor, und Beides ist nach der bisherigen Darstellung eben nicht schwer zu vermeiden. C. Schwärmerei. §. 77. Es ist in der That nicht leicht zu sagen, was unter diesem Zustande zu verstehen sei. So viel ist indessen gewiss, dass man von keiner Schwärmerei für das Spielen, für das Trinken spricht, und dass man jedenfalls darunter ein lebhaftes Anstreben eines Gegenstandes versteht, welcher anderen Menschen keineswegs einer so aufgeregten Thätigkeit werth scheint. Schwärmerei dürfte daher etwa so viel, als eine Leidenschaft für einen sittlichen, oder wenigstens dem Schwärmer selbst sittlich scheinenden Gegenstand bedeuten. Da nun Leidenschaft dem Menschen =natürlich= ist, so ist es auch die =Schwärmerei=, welche übrigens gerade darum, weil ihr Gegenstand zunächst ein nicht sinnlicher ist, eine besondere Thätigkeit der Einbildungskraft, und daher auch eine solche allgemeine Disposition des Individuums, durch welche eine besonders lebhafte Thätigkeit der Einbildungskraft bedingt ist, voraussetzen wird, woher es zuverlässig kommt, dass man sich Schwärmerei nicht ohne den Begriff von dem Nachjagen nach einem Phantasiegebilde denken kann, und dass überhaupt dieser Zustand nur bei phantasiereichen Leuten vorkommt. Dieser Zustand ist nun an und für sich kein =krankhafter= Gemüthszustand, er kann aber sowohl aus einer krankhaften Verstimmung =entstehen=, als eine krankhafte Verstimmung =zur Folge haben=, wie dieses in der Abhandlung _B._ nachgewiesen wurde, es lässt sich daher nicht läugnen, dass durch Schwärmerei, d. h. durch die, in Folge dieses Zustandes verursachte Krankheit verbrecherische Handlungen veranlasst werden können. Darüber kann nun wohl kein vernünftiger Zweifel obwalten, so wie an dem Umstande, dass es sich dann um die Frage handeln wird, ist der Mensch, indem er diese Handlung verübte, =wahnsinnig= gewesen, oder befand er sich in einem, wenn auch durch Schwärmerei erzeugten, Zustande heftigen =Affektes=, in welchem er in einer Stimmung war, worin sittliche Vorstellungen oder doch jene von der rechtswidrigen Schädlichkeit der That nicht mehr dem Ausbruche seines Affektes Einhalt zu thun vermochten. Dies ist nun allerdings die sich als nothwendig ergebende Ansicht der Sache, durch welche, wenn sie gehörig durchgeführt wird, sich zuverlässig ein für die richterliche Entscheidung vollkommen genügendes Resultat wird erzielen lassen. Gewöhnlich betrachtet man den Gegenstand jedoch noch von einer anderen Seite, man stellt sich nämlich die Frage auf: =ist es möglich, dass ein Mensch, ohne wahnsinnig zu sein, eine ihm offenbar als unsittlich bekannte That=, z. B. einen Mord, =zur Erreichung eines sittlichen Zweckes begehen, und diese= in den Augen eines jeden anderen Menschen als unsittlich erscheinende =That für sittlich halten könne=, und darum straflos bleiben müsse (oder mit anderen Worten unzurechenbar sei)? Dies ist nun viel auf einmal gefragt, viel mehr als man vernünftiger Weise fragen sollte, und noch dazu auf eine recht suggestive Weise gefragt, wodurch demjenigen, welcher die Mühe scheut, die Frage in allen ihren Punkten gehörig zu beleuchten, für den letzten Punkt eine Antwort in den Mund gelegt wird, weil sich in der That nicht verkennen lässt, dass aus den übrigen Theilen der Frage sich wirklich keine Anhaltspunkte ergeben, um diesen letzten Punkt beantworten zu können. Wir wollen daher die Frage in ihre einzelnen Theile zerlegen und sehen, in welchen Verhältnissen sie zur Rechtspflege sich befinden. Die Frage schliesst nämlich in ihrem ersten Theile: ist es möglich, dass ein Mensch zu einem sittlichen Zwecke eine unsittliche Handlung begehen könne? die Unterscheidung in sich: _a_) ist es möglich, dass ein Mensch zu einem sittlichen Zwecke eine Handlung begehen könne, die er selbst für unsittlich erkennt, oder _b_) ist es möglich, dass er in der Aufregung, in welcher er den sittlichen Zweck anstrebt, den Umstand, dass das Mittel, dessen er sich bedient, ein unsittliches sei, übersehen könne? Das Letztere kann man im Allgemeinen bejahen, ohne dass die Bejahung gerade irgend einen wesentlichen Nachtheil bringen könnte, denn der Mensch, welcher sittlich zu handeln entschlossen ist, wird sich schwerlich bedeutende Uebersehen dieser Art zu Schulden kommen lassen, er wird allenfalls fremdes Geld verschenken, weil er =vergisst=, dass es nicht ihm gehört, nicht aber, um einen Menschen aus dem Wasser zu ziehen, einen anderen, der nicht schwimmen kann, hineinwerfen. Der erste Punkt muss aber geradezu verneint werden, denn jeder Mensch fühlt, dass er selbst nicht das =Mittel= ist, um einzelne sittliche Zwecke zu erreichen, sondern dass er für =seine Person= sittlich zu sein habe. Handelt er daher für seine Person =unsittlich=, so handelt er gegen die Bestimmung, zu welcher er selbst auf der Welt ist. So viel zur Beantwortung der Frage vom moralischen Gesichtspunkte aus, von welchem daher nothwendig die Frage dahin beantwortet werden muss, dass Derjenige, welcher zu einem sittlichen Zwecke unsittlich handelt, schon dadurch sich gegen die Sittlichkeit verfehlt, weil er aus seinen Schranken als Mensch hinaustritt, und sich, ohne die göttliche Weisheit zu besitzen, die göttliche Gerechtigkeit zu exequiren anmasst. Eine Frage, welche nun so gestellt ist, dass man darauf ja und nein antworten, und in beiden Fällen Recht haben kann, ist entschieden mangelhaft gestellt. Noch weniger ist aber die Tendenz dieser Frage zu billigen, nämlich, der Schlusssatz: wenn es nicht möglich ist, dass Jemand mit dem Bestreben einen sittlichen Zweck zu erreichen, unsittlich gehandelt hat, -- so muss Derjenige, welcher eine solche That begangen hat, wahnsinnig und daher unzurechenbar sein; diese Wendung ist sogar den logischen Gesetzen entgegen, denn es heisst nach einer logischen Formel ausgedrückt dieser Schluss folgendermassen: Ein wirklich sittlicher Mensch handelt nicht unsittlich zu einem sittlichen Zwecke. Ein Wahnsinniger =kann= zu einem ihm als sittlich erscheinenden Zwecke unsittlich handeln, -- folglich ist Derjenige, welcher zu einem sittlichen Zwecke unsittlich handelt, wahnsinnig. Welcher vernünftige Mensch wird so schliessen, es folgt daher in der That nichts weiter aus dieser Formel, als dass unter die möglichen Fälle, in welchen sich jemand einer unsittlichen Handlung zur Erreichung eines sittlichen Zweckes bedient, auch dieser gehören kann, dass der Mensch wahnsinnig und daher an und für sich unzurechenbar ist, nicht aber, dass es in =allen= Fällen so sei. Wo daher ein solcher Fall vorkommt, wird es allerdings auch zur Aufgabe der Erhebung gehören, auszumitteln, ob der Mensch nicht wahnsinnig und daher überhaupt, oder doch in Betreff seiner That unzurechenbar sei, allein wenn aus den hierüber angestellten Erhebungen sich das Vorhandensein eines wirklichen Wahnsinns nicht herausstellt, so folgt auch gar nichts, um die Zurechenbarkeit in Zweifel zu ziehen. §. 78. Dieses Resultat ergibt sich, wenn man die Sache vom sittlichen Gesichtspunkte betrachtet. Noch weniger ergeben sich aber Gründe für die nicht Zurechenbarkeit einer solchen That vom psychologischen und vom rechtlichen Gesichtspunkte aus betrachtet. In erster Beziehung lässt sich nämlich nicht verkennen, dass keine Vorstellung des Menschen eine =rein= sittliche ist, sondern jede Vorstellung ist nur zum Theil ein sittliches Bild. Es ist wohl nicht zweifelhaft, dass Jemand, welcher einen Anderen mit Gefahr seines Lebens aus dem Wasser zieht, sehr sittlich handle, allein die Motive, welche ihn zu dieser Rettung bestimmten, liegen doch wohl auch in =anderen= Vorstellungen, als z. B. in dem erregten sympathetischen Gefühle, in der Vorstellung der Freude, welche der Gerettete und seine Angehörigen haben werden, auch hat vielleicht der Gedanke an den Ruhm, der durch eine solche That zu erwerben ist, einigen Antheil. -- Es liegt auch gar nicht in der menschlichen Natur, grosse Entschlüsse zu fassen, wenn nicht lebhafte Vorstellungen auf ihn wirken, und dazu gehören allerdings auch =sinnliche= Bilder (§. 20). Dieses Verhältniss benimmt nun der That allerdings nicht ihren sittlichen =Werth=, da es sehr möglich ist, dass =ohne= das rege Pflichtgefühl die That ungeachtet der =übrigen= Aufforderungen =unterblieben= wäre; kein Mensch, nicht einmal das handelnde Subjekt selbst, sondern nur Gott allein sieht aber, wie viel wirklich Sittliches an der Handlung war. Strebt nun ein Mensch nach einem Zwecke, von dem sich wirklich annehmen lässt, dass er ihn für sittlich gehalten habe, so lässt sich wohl eben so wenig bestimmen, ob es das =Sittliche=, was er daran gewahrte, gewesen ist, was sein Bestreben bestimmte, oder das mit Erreichung des Zweckes =sinnlich Angenehme=. Es kann daher sehr wohl geschehen, dass gerade diese =letztere= Vorstellung, ohne dass er es selbst ganz klar erfahren hätte, ihn bestimmt habe, den ordentlichen Weg des fortwährenden Anwendens =sittlicher= Mittel zu =verlassen=, oder das Sittliche an dem Zwecke selbst =aufzugeben=, nachdem er die Ueberzeugung gewann, dass er ihn auf dem Pfade der Sittlichkeit nicht erreichen kann, und sich zur Anwendung eines unsittlichen Mittels, den Weg abzukürzen, oder sich einen neuen Weg zu bahnen, und in diesem Falle ist seine That nichts weiter, als ein =unsittliches= Mittel zur Erreichung eines =egoistischen=, wenn auch gerade nicht objektiv =unsittlichen= Zweckes. -- Er bleibt daher für das angeordnete =Mittel= eben so sehr in moralischer Beziehung =verantwortlich=, als für die nachtheilige Folge rechtlich =strafbar=. So schwierig nun für jeden Dritten die Unterscheidung sein wird, ob nicht ein solches Individuum über den Umstand, dass es nicht sittlich erlaubt sei, zum Besten eines sittlichen Zweckes ein =bestimmtes= Mittel anzuwenden, sich etwa in einem =Irrthume= befand, so wenig schwierig scheint die Frage in =rechtlicher= Beziehung zu beantworten, ob ein Mensch =strafbar= ist, wenn er zur Erreichung eines sittlichen Zweckes sich eines Schaden bringenden Mittels bediente. In =sittlicher= Beziehung wird der Mensch zur Begehung oder Unterlassung einer Handlung durch sein =Gefühl= oder seine =Grundsätze= bestimmt, welche von einem Dritten am Ende doch nie vollständig controllirt werden können. Der Staat fordert von seinen Unterthanen jedoch nicht =Gefühle= oder =Grundsätze=, sondern =Handlungen= und =Unterlassungen=. Begeht nun Jemand, wie es sehr vielfältig geschieht, keine gesetzwidrigen Handlungen aus dem Grunde, weil er, und zwar mit Recht, die bürgerlich strafbaren Handlungen =zugleich für unsittlich hält=, so ist er ein um so besserer Bürger, und eines besonderen Vertrauens würdig. Begeht er aber verbotene Handlungen, oder macht er sich strafbarer Unterlassungen schuldig, weil er sie =nicht= für unsittlich hält, so legt er dadurch an den Tag, dass seine =Sittlichkeit keine= hinlängliche Bürgschaft für die =Unschädlichkeit= seines Benehmens gewähre, und setzt daher den Staat in die Nothwendigkeit, diejenigen Massregeln anzuwenden, wodurch er und Seinesgleichen =genügende= Motive zu einem legalen Benehmen erhalten, nämlich die Zufügung der für die Begehung oder Unterlassung gewisser Handlungen angedrohten Strafen. §. 79. Wir kehren nun wieder zu dem als Schwärmerei bezeichneten Gemüthszustände zurück, und wollen nun die besonderen Modificationen betrachten, welche die gerichtlich medizinische Untersuchung eines Individuums, welches in diesem Zustande ein Verbrechen begangen hat, berücksichtigen müsse. Es lässt sich nämlich nicht verkennen, dass der als =Schwärmerei= bekannte Zustand eben darum, weil derselbe besonders die Thätigkeit der Einbildungskraft in Anspruch nimmt, von gewissen Erscheinungen begleitet sein werde, welche bei =anderen= Leidenschaften, welche gewöhnlich =materielle= Bedürfnisse und Wünsche zum Gegenstande haben, oder doch durch materielle Bedürfnisse und Wünsche =veranlasst= werden, entweder =gar nicht=, oder doch in viel =geringerem Grade= vorkommen. Wir wenden uns daher unmittelbar an eine Erscheinung, in welcher die vorherrschende Thätigkeit der Einbildungskraft unverkennbar ist, nämlich den =Traum=. Wem ist es nicht schon begegnet, dass er, nach der Anhörung einer Erzählung von einem Verbrechen, nicht nur =von der That= geträumt, sondern im Traume =selbst= das =handelnde= Individuum war, ihm dabei wohl =einfiel=, dass dasjenige, was er da beginne, nicht in der Ordnung sei, dieser Gedanke ihn aber doch =nicht hinderte=, die That mit allen den Nebenumständen, wie er sie gehört oder gelesen hatte, zu Ende zu führen. Diese Erscheinung erklärt sich nun allerdings dadurch, dass die im Schlafe wirkende Vorstellungsthätigkeit nur die That mit ihren Nebenumständen, nicht aber auch diejenigen sittlichen Vorstellungen reproduzirte, welche im Wachen die Ausführung einer solchen That bei ihm zuverlässig unmöglich gemacht haben würden. Es frägt sich aber, ob der Mensch nicht auch wachend träumen und in einem solchen wachenden Schlummer nicht auch Thaten verüben könne, welche er bei vollkommen =reger= Besinnung zuverlässig =unterlassen= hätte. Folgende zwei Fälle, welche sich bei der, nunmehr kaum dem Namen nach mehr bekannten Sekte der Pöschlianer[45] zutrugen, scheinen für die Bejahung dieser Frage zu sprechen. [45] Die Pöschlianer, welche in den Jahren 1816 und 1817 sich insbesondere in einigen Gegenden des Inn- und Traunviertels in Oberösterreich bemerkbar machten, hatten eine eigene Gattung von Schwärmerei entwickelt, in der sie insbesondere die Erringung der Unschuld vor dem Sündenfall als möglich hielten, ferner die Lehre annahmen, dass die Begebenheiten, von welchen die heilige Schrift erzählt, sich wieder erneuern, und die göttlichen oder sonst zu göttlichen Zwecken auf Erden gewesenen Personen wieder in der Gestalt des einen oder andern von ihnen sich zeigen müssen. So war nun der eine von ihnen Gott Vater (ich hatte später im Jahre 1833 das Vergnügen, ihn und einen anderen, welcher der Apostel Johannes war, persönlich kennen zu lernen; der erste war ein stattlicher Mann), ein anderer war Christus, ein Mädchen die Jungfrau Maria u. s. w. Eine der vorzüglichsten Rollen darunter spielte _Pöschl_, welcher, ein anerkannt frommer und geachteter Mann, den unglücklichen Buchhändler _Palm_, welcher zu Braunau auf Befehl des damaligen Herrschers der Franzosen erschossen wurde, zum Tode vorbereitete. -- Ich habe mit Augenzeugen über diese Begebenheit gesprochen, -- es mag erschütternd genug gewesen sein. -- Die Exekution des Unglücklichen, welcher in der landgerichtlichen Frohnveste zu Braunau sich im Verhafte befand, wurde mit möglichster Beschleunigung betrieben. Die Gattin des Unglücklichen kam in Begleitung von zwei Kindern und brachte die Begnadigung an als das Exekutionskommando vom Richtplatze zurückkehrte, nachdem die ersten Schüsse den Verurtheilten nur verwundet, und erst wiederholte ihn getödtet hatten. Für _Pöschl_ hatten diese Szenen eine entschiedene Gemüthskrankheit zur Folge, in der er von jener Schwärmerei, welche in den Drangsalen des Krieges, denen diese Gegenden fortdauernd unterworfen waren, ihr ursprüngliches Motiv fand, fortgerissen wurde. Den weisen Bemühungen der österreichischen Regierung gelang es, durch die verfügten zweckmässigen Einschreitungen der weltlichen Gerichte, so wie der Geistlichkeit, diesem Unwesen, welches, wie aus den oben im Texte gelieferten Erzählungen erhellt, die furchtbarsten Folgen hatte, zu steuern, ohne dass nur ein einziger Derjenigen, welche sich dabei betheiligt hatten, eine Strafe erlitten hätte. (Sieh hierüber die hievon handelnde Schrift des Herrn Professors _Talat_ in Landshut.) Der Held des ersten dieser Fälle (er wurde mir von dem damaligen Herrn Bezirksarzte, jetzt quieszirten k. k. Kreisarzte, Dr. _Maffei_, der dabei selbst intervenirte, mitgetheilt) war ein Bauer, welcher sich einbildete der Erzvater Abraham zu sein, und wie Dieser den Beruf zu haben, seinen kleinen Sohn zu schlachten. In Ermanglung eines Berges ging er auf das flache Dach seines Hauses, errichtete dort einen Scheiterhaufen, führte seinen Sohn hinauf und hatte schon das Schlachtmesser in Bereitschaft. -- Sein Beginnen war jedoch glücklicher Weise von einem Nachbar bemerkt worden, der davon sogleich dem Gerichte die Anzeige machte, welches zum Glücke nicht weit entfernt war. -- Man verfügte sich eiligst an Ort und Stelle, fand das Haus verschlossen, ihn selbst aber eben im Begriffe das Opfer an seinem Sohne zu vollziehen. -- Das Eindringen in sein Haus würde die That beschleuniget haben, man verfiel daher auf das Mittel, dass einer der Anwesenden auf das Dach des gegenüberstehenden Hauses stieg, mit einer Flinte auf ihn anschlug und ihn zu erschiessen drohte. Dies störte ihn etwas in seinem Wahnsinne, er starrte den Mann mit der Flinte an, der seine Drohungen wiederholte. -- Indess waren Leute mit einer Leiter auf das Dach gestiegen und überfielen ihn von rückwärts, und so war das Opfer gerettet. Er selbst wurde der ärztlichen Behandlung übergeben und wieder zu Vernunft gebracht. Der andere Fall besteht in folgendem Ereignisse: Einige solche Schwärmer hatten sich in einem Hause zur Nachtszeit versammelt und übten ihre inspirirten Predigten. Mit Einemmale fiel ihnen bei, dass ein alter Mann, der in ihrer Nähe sein Haus hatte, nichts von ihrem neuen Glauben wissen wolle, und sie waren bald einverstanden, dass dieser jetzt bekehrt werden müsse. Sie begaben sich nun, unter ihnen ein achtzehnjähriges Mädchen, zu dem Hause desselben, und verlangten, er solle herauskommen. Erst als sie ihm drohten das Haus anzuzünden, öffnete er die Thüre und fragte sie, was sie wollen. Er solle mit ihnen kommen, ihren neuen Glauben annehmen u. s. w. Der Unglückliche antwortete ihnen nun, dass er von ihnen nichts wissen wolle -- da trat jenes junge Mädchen hervor und schlug ihn mit dem Ausrufe: „Der Geist befiehlt, der Ungläubige muss sterben!” mit einer Hacke zum Kopfe, dass er tödtlich getroffen zu Boden stürzte. Derlei Erscheinungen sind wohl entschieden wahnsinnige Thaten, allein lässt sich wohl annehmen, dass Hunderte von Menschen zugleich wahnsinnig wurden[46]? [46] Die Geschichte der Cholera und die Beschreibungen des _Boccaccio_ von der Pest liefern ähnliche Begebenheiten. Solche Szenen ereigneten sich in mehr als Einer Versammlung, sie loosten wer von ihnen als Opfer sterben müsse, und wen das Loos traf, liess sich ruhig langsam tödten. Einer der mit der Erhebung dieser That beauftragten Inquirenten, der gegenwärtig pensionirte Herr k. k. Pfleger von Neumarkt, _Joseph Gruber_, hatte sich in den Verhaftort begeben, um eine Mutter, welche einer Versammlung beigewohnt hatte, in welcher ein solches Opfer gebracht worden, und nun mit den Uebrigen in einem grossen Saale in Verhaft gebracht war, zum Verhöre abzuholen. -- Alle lagen auf den Knien und es herrschte Todtenstille. Als er nun mit dieser Verhafteten, welche ihr Kind auf den Armen hatte, das Arrestlokale verlassen wollte, sprang, als der Gerichtsdiener die Thüre öffnete, ihr Mann hervor, riss dem wachestehenden Soldaten das Bajonnet vom Gewehre und brachte seiner Frau einen Stich bei, der dem Kinde gegolten hatte, damit, wie er sich ausdrückte, die Seele des Kindes nicht in die Hände der Ungläubigen falle. Kann man nun wohl annehmen, dass Hunderte von Menschen zugleich von demselben Wahne befallen werden, wenn dieser ein Produkt einer =Krankheit= sein soll? -- Die Leute waren früher vernünftig und wurden es wieder, als man sie in eine vernünftigere Umgebung brachte, auch trugen ihre Thaten zu entschieden das Gepräge ihrer schwärmerischen Ansichten, als dass man nicht eben diese ihre Schwärmerei als die einzige Ursache ihrer Thaten betrachten sollte, sondern es lässt sich, besonders wenn man die Thaten betrachtet, die sie verübten, als sie _in corpore_ versammelt waren, nichts Anderes behaupten, als dass sie alle in einen Zustand versetzt waren, in welchem sie willenlos, sobald nur der Eine aus ihnen einen Impuls gab, welcher dem Ideengange ihrer Schwärmerei entsprach, diesem zu folgen und ihn auszuführen sich gedrungen fühlten, wobei nur Jeder nach seinem eigenen Ideengange etwas Weniges dazu oder davon that. Sie waren recht eigentlich im Zustande des wachenden Traumes, in welchem sie ihre Thaten gerade so begingen, wie sie ihnen ihre Phantasie vorgaukelte. Wie bereits oben erwähnt wurde, habe ich selbst solche Individuen gekannt, welche dieser Schwärmerei anhingen. Sie waren zwar von ihrer früheren Schwärmerei geheilt, allein sie waren düster und träumerisch gestimmt, gerade =wie es nach einem schweren Traume= zu geschehen pflegt. §. 80. Was jedoch die krankhafte Aeusserung, welche durch den exaltirten Zustand der Schwärmerei bei jenen Individuen entstanden war, vollkommen charakterisirt, ist der Umstand, dass sie ihre Thaten eben so ausführten, wie sie von ihnen =ursprünglich= konzipirt wurden, ohne dabei irgend einen materiellen Zweck erreichen zu wollen; Derjenige, welcher seinen Sohn schlachten wollte, schoss ihn nicht etwa mit einer Pistole todt, sondern er benahm sich ganz so, wie sein Vorbild es ihm darstellte. -- Hierauf muss man daher sehen, wenn es sich darum handelt auszumitteln, ob eine bestimmte That eine Folge der durch die Schwärmerei hervorgebrachten Lähmung der Willenskraft war. -- Ist eine solche That nicht irgend einem Vorbilde ähnlich oder in allen ihren Theilen nicht eine Folge des eingetretenen Impulses, sondern hat der Thäter zwischen den Mitteln in der Verübung seines Verbrechens =gewählt=, oder wird dadurch ein materieller Nutzen erreicht, so ist sie nach aller Wahrscheinlichkeit nicht mehr eine unwillkürliche Folge seiner schwärmerischen Aufregung, sondern ist mit =Willen= vollbracht und daher strafbar. -- Dieser Unterschied muss bei der Erhebung daher berücksichtiget und verfolgt werden, um eine vorgegebene unwillkürliche Handlungsweise von einer willkürlichen zu unterscheiden. Im Uebrigen dürfte die Schwärmerei, d. h. dasjenige Individuum, welches aus solcher ein Verbrechen verübte, nach denjenigen Grundsätzen zu beurtheilen sein, welche in den bisherigen Abhandlungen über Gemüthszustände erörtert wurden. D. Blödsinn. §. 81. Wie schon die Benennung ausdrückt, ist dieser Zustand eine Abnormität der =Sinnes=thätigkeit, und da die Natur des Menschen so beschaffen ist, dass die geistige und physische Thätigkeit des Menschen sich in innigster Beziehung befinden, so ist gegen die Möglichkeit des hierin bezeichneten Zustandes nicht das Mindeste zu erinnern, ja es lässt sich hierdurch vollkommen begreiflich machen, dass gewisse Störungen des =äusseren= Sinnes =gewissen= Störungen des =inneren= Sinnes entsprechen, =andere= Funktionen aber dabei =ungestört= bleiben. Die Erklärung, =wie= dies geschieht, ist nun wohl für die gerichtliche Erhebung ganz überflüssig, diese wird sich vielmehr in einem solchen Falle auf nachfolgende Punkte zu erstrecken haben: 1. Ist der Zustand des Beschuldigten von der Art, dass ihm überhaupt jede Kenntniss von der Bedeutung seiner Thätigkeit abgesprochen werden muss? 2. Ist im Falle der Verneinung dieser Frage seine That nicht von der Art, dass sie gerade dem =Mangel= an =jenen= Vorstellungen ihr Dasein verdankt, durch welche sich der Blödsinn bei =diesem= Menschen charakterisirt, z. B. ein Blödsinniger, welcher sich durch besondere Gleichgiltigkeit gegen die Leiden seiner Nebenmenschen auszeichnet, lässt ein von ihm zufällig in's Wasser gestossenes Kind umkommen. 3. Ist sein Blödsinn von der Art, dass eine seine Thätigkeit reizende Vorstellung nur darum zur That wurde, weil ihm alle jene Vorstellungen mangelten, durch welche die Ausführung der That gehindert, oder doch seine Thätigkeit so modifizirt worden wäre, dass sie nicht diese verbrecherische Wirkung gehabt hätte. Als nähere Beleuchtung dieses Satzes erlaube ich mir auf den dritten dieser Abhandlung folgenden Kriminalfall, den Vatermord des _M. Krotz_, hinzudeuten. 4. Ist der Blödsinn nicht etwa mit einer =fixen Idee= oder =Monomanie= verbunden, oder ergibt sich etwa aus den Erhebungen, dass der Blödsinnige von einer herrschenden Vorstellung befangen ist, welche das Verbrechen bedingte, und eben darum, weil sie die =einzige= ist, welche er mit einiger Energie zu entwickeln vermag, aus Mangel jeder =anderen= intensiven Vorstellung, welche dieser das Gleichgewicht zu halten vermochte, ihn mit =Nothwendigkeit= zur Verübung des Verbrechens bestimmte. In diese Klasse gehört offenbar der Fall, wo eine dritte Person auf ein solches Individuum eine grosse psychische Macht ausübt und es zur Verübung der That aufforderte. §. 82. Als Mittel, diese Fragen zu beantworten, ist nun wohl die ärztliche Untersuchung der =physischen= Beschaffenheit unumgänglich nothwendig, allein diese wird, den Fall des entschiedenen Kretinismus ausgenommen, nicht =genügen=. -- Ebensowenig wird eine blosse mit ihm angestellte =Unterredung= genügen, um hierüber ins Klare zu kommen, sondern es wird nothwendig sein, alles dasjenige zu beobachten, was im §. 43 und den folgenden hierüber angedeutet wurde, denn nur die Aufstellung des =vollständigen Bildes= eines solchen Zustandes vermag über das richtige Verhältniss desselben zu seiner That die nöthigen Anhaltspunkte zu geben. Nicht genug kann man aber vor einem Fehler warnen, welcher bei solchen Erhebungen nicht selten begangen wird, und welcher darin besteht, dass man eine Art =Katechisirung= mit einem solchen Menschen anstellt, und wenn er darin erträglich =besteht=, insbesondere Fragen, welche sich auf sein =Verbrechen= beziehen, so beantwortet, dass aus den Antworten hervorgeht, er habe die =Benennung=, welche die That führt, unter die =Rubrik= der unerlaubten Handlungen in seiner Gedächtnisstafel eingetragen, und wenn er dabei noch auf Fragen, die sich auf das gewöhnliche Treiben beziehen, ziemlich passende Antworten gibt, sogleich den Schluss zu ziehen -- also ist der Mensch im Stande gewesen, das =Gesetzwidrige= seiner That =einzusehen=. Denkt man sich noch dazu, dass der Richter in seinem Verhöre dasjenige, was der Inquisit =unzusammenhängend= und widersinnig =vorbringt=, in zusammenhängender Erzählung zu Protokoll diktirt, so kann man wohl nicht ohne ängstliche Empfindung auf die Folgen denken, welche, besonders bei =wichtigen= Verbrechen, eine solche Prozedur haben kann. Jedes Spruchgericht dürfte, besonders wenn etwa aus Zeugenaussagen oder durch den beliebten Beisatz im Gutachten: „der Mensch sei zwar auf einer sehr niederen Stufe der Bildung, aber sonst von richtigem Urtheile,” sich im Vergleiche mit dem Inhalte des Verhörsprotokolles ein solches Bedenken ergibt, sich bestimmt finden, eine genaue Erhebung über den Gemüthszustand zu verlangen, und sich die =protokollarische Verhandlung hierüber vorlegen zu lassen=, damit es in die ihm sonst unmögliche Lage komme, entweder =selbst= beurtheilen zu können, ob wirklich mit Sachkenntniss vorgegangen worden sei, oder hierüber ein =Fakultätsgutachten= einholen könne, ehe es, besonders bei solchen Verbrechen, worauf =Todesstrafe= oder eine langjährige Kerkerstrafe verhängt werden muss, eine =Verurtheilung= ausspricht. Der Grund aber, aus welchem ein solches Verfahren, wie es oben erwähnt wurde, nicht genügend scheint, um ein verlässliches Urtheil über die Zurechnungsfähigkeit des Subjektes darauf zu gründen, ist der bereits bei §. 20 entwickelte. Es lässt sich nämlich die Möglichkeit nicht verkennen, dass bei dem Unterrichte, welchen ein solches Subjekt in der Schule erhält, sich gewisse Lehren, d. h. die =Worte=, in welchen diese Lehren gegeben sind, seinem Gedächtnisse einprägen, und dass, wenn die ihm wohl =wohlbekannte Frage= gestellt wird, diese =Worte=, welche die Antwort hierauf bilden, reproduzirt und von ihm =ausgesprochen= werden. -- Geschieht dieses, so beweiset es nichts weiter, als dass ihm nicht =alles Gedächtniss= mangle, nicht aber, dass er die behaltenen Worte =verstehe=, d. h. ihren Sinn =fühle=, und noch weniger, dass sie auch dort irgend eine =Wirkung= auf seine Handlungsweise zu äussern vermögen, wenn irgend ein =wirklich= vorhandenes =Gefühl= ihn zu einer, wenn auch widersinnigen, Thätigkeit veranlasst. Es kann sein, dass ein Blödsinniger, welcher einen Anderen getödtet hat, die zehn Gebote weiss, es ist auch möglich, dass er nach der Frage: „Welches Gebot glaubst Du übertreten zu haben?” bei dem fünften Gebote richtig einfällt; es kann sich aber auch treffen, dass er über seine Antwort =Freude= äussert, wenn er aus den Mienen der Fragenden die Bestätigung entnimmt, dass er seine Lektion richtig gekannt habe. Es ergibt sich daher bei einer solchen Erhebung die Nothwendigkeit eines zwischen Arzt und Richter durchaus =gemeinschaftlichen= Verfahrens. Nur die Beurtheilung der physischen Beschaffenheit bleibe dem Arzte =allein= überlassen, bei allen sonstigen Erhebungen muss, und zwar in der Art, wie es zu geschehen hat, wenn der Thatbestand über einen für die Untersuchung wichtigen Umstand erhoben werden soll, mit steter Intervenirung der =Gerichtspersonen=, und mit sogleicher =Aufzeichnung= der angewendeten Prozedur und der gewonnenen Resultate verfahren werden, zwar nicht gerade im Wege eines artikulirten =Verhöres=, aber doch so, dass das Gericht unmittelbar von den Ergebnissen =Kenntniss= erhalte. Wo sich daher eine Unterredung des Gefangenen mit dem Arzte allein oder mit seinen Angehörigen als zweckmässig zeigt, ist sie zu gestatten, es auch so einzuleiten, dass das Subjekt sich unbeachtet =glaubt=, dass er es aber nicht wirklich =ist=, überhaupt aber so zu verfahren, wie dieses bei §. 43 und den folgenden bezüglich der Erhebung des Wahnsinnes dargestellt wurde. §. 83. Dass übrigens Blödsinn, dann Roheit und Mangel an Ausbildung nicht mit einander verwechselt werden dürfen, bedarf keiner Erinnerung. Um aber nicht in einen solchen Fehler zu verfallen, ist es nothwendig, dass man mit dem Subjekte in dem =Dialekte= spreche, den es zu hören =gewohnt= ist, nicht um Dinge frage, von denen es vielleicht nie etwas =gehört= hat, und bei Dingen, die nicht unbekannt sein können, sich =solcher= Ausdrücke bediene, die es zu hören =gewohnt= ist, sonst erhält man entweder gar keine oder verkehrte Antworten. Gibt ein solcher Mensch scheinbar unpassende Antworten, so forsche man nach, ob nach den ihm zugänglichen Begriffen nicht etwa doch ein vernünftiger Sinn in seinen Worten liege. -- Es gehört also zu einer solchen Unterredung, dass Derjenige, welcher sie einleitet, genau mit den Sitten und der Lebensweise derjenigen Klasse in demjenigen Orte, in welchem sie Statt fand, bekannt ist, widrigens man unmöglich zu einem entscheidenden Resultate gelangen kann. §. 84. Derjenige Zustand, welchen man als =Dummheit= bezeichnet, kommt im Wesentlichen, wenigstens in =rechtlicher= Beziehung, mit dem Blödsinne überein, denn es ist dies ein Zustand, welcher ebenfalls aus einer mangelhaften Anlage des Menschen entspringt, und daher in keinem Verschulden desselben begründet ist. -- Der physiologische Unterschied zwischen diesen beiden Zuständen hat aber mit der rechtlichen Bedeutung eines solchen Zustandes nichts zu schaffen. E. Monomanie. Fixe Idee. §. 85. Was im Allgemeinen vom Wahnsinne gesagt wurde, gilt auch von diesem Zustande, insbesondere wird, sofern es sich um die Beurtheilung des Einflusses eines solchen Zustandes auf die Zurechenbarkeit einer bestimmten That handelt, Vieles von Demjenigen anzuwenden sein, was von dem Zustande des Blödsinnes gesagt wurde. Namentlich werden aber folgende zwei Fragen zu beantworten sein: _a_) Ist wirklich eine und welche fixe Idee, oder welche Art von Monomanie vorhanden? _b_) Entspricht die That der herrschenden fixen Idee oder Monomanie in der Art, dass sie durchaus nur als ein Produkt der durch diesen Zustand im Verhältnisse zu den eingetretenen Umständen angeregten Thätigkeit ist? Ist jedoch die That von der Art, dass sie =nicht= als eine erweisliche Folge der herrschenden fixen Idee oder der herrschenden Monomanie betrachtet werden kann, so ist es für den richterlichen Zweck nicht hinreichend, nur auszusprechen, es lasse sich kein erweislicher Zusammenhang darthun, sondern es muss der =positive= Beweis geliefert werden, dass ein solcher Zusammenhang =entschieden nicht bestehe=, und wenn sich dieser Beweis =nicht= liefern lässt, so muss ärztlicherseits ausdrücklich erklärt werden, dass und warum dieses nicht möglich sei. Der Grund, aus welchem in diesem Falle für den richterlichen Zweck eine solche entschiedene Erklärung nothwendig ist, liegt darin, dass dort, wo einmal die Erscheinung zu bemerken ist, dass von einem Individuum, welches in seiner äusserlichen Thätigkeit so weit von anderen Menschen abweicht, dass es gegen die Verhältnisse der Aussenwelt seine Vorstellungen für etwas Wirkliches oder die Erscheinungen der Aussenwelt für etwas Unwirkliches hält, nothwendig vermuthet werden muss, dass seine ganze Vorstellungsthätigkeit auf ganz =anderen=, für dritte Personen, zuverlässig aber für den =Richter= ganz =unzugänglichen= Prinzipien beruhe. Diese Voraussetzung, welche sich durch die Natur der Sache von selbst rechtfertigt, kann insofern =irrig= sein, als die Arzneikunde möglicher Weise Wege entdeckt haben kann, um hierin klar zu sehen. Damit aber der Richter in einem solchen Falle seine durch die Natur der Sache begründete =Vermuthung aufgeben= könne und dürfe, ist das Geringste, was er zu fordern berechtiget und verpflichtet ist, eine =entschiedene Erklärung= von Seite der Kunstverständigen, =dass= und =warum= seine Vermuthung in diesem Falle =irrig= sei. Uebrigens dürfte es kaum von wesentlichen Folgen für die Rechtspflege sein, zwischen Monomania und fixer Idee scharf zu unterscheiden. Die erste Art von Geisteszerrüttung scheint sich mehr auf =äussere= Thätigkeit, die letztere mehr auf die =Vorstellungs=thätigkeit zu beziehen, sofern sie aber auf die =äussere= Thätigkeit, auf die es hier allein ankommt, von einigem Einflusse sind, dürften sie wohl das =Gleiche= bedeuten. F. Melancholie. Mania occulta. §. 86. Dieser Zustand bedeutet eigentlich eine Krankheit, welche noch in keine =Thätigkeit= ausgeartet ist, welche aber, sofern sie eine gesetzwidrige Thätigkeit zur Folge hat, entweder nach dem unter der vorigen Aufschrift bezeichneten Grundsatze, oder nach denjenigen Grundsätzen, welche über Wahnsinn überhaupt oder über Affekte und Leidenschaften ausgesprochen wurden, in =rechtlicher= Beziehung zu betrachten kommt. Jedenfalls war es ein Missgriff, dass man diesen Zuständen eine =besondere Abtheilung= in der =gerichtlichen= Arzneikunde widmete, insbesondere aber, dass man von _Mania occulta_ als einer =besonderen= Erscheinung sprach, als ob der Umstand, dass eine Krankheit noch nicht so heftig ist, dass man sie gewahr wird, oder weil der Leidende bisher nur an Theilen befallen wurde, die man nicht =sieht=, im Mindesten etwas an der =Natur= der Krankheit änderte! -- Die Krankheit, welche im Zunehmen ist, wird und muss sich =einmal äussern=, =wann= und =wo= sie sich aber so kräftig äussert, dass ihr Vorhandensein von einem Dritten =bemerkt= wird, ist wenigstens nach meiner unmassgeblichen Meinung zur Bestimmung des =Charakters= der Krankheit sehr gleichgiltig, wenn die Art und Weise, =wie= sie sich äussert, an ihrem Charakter keinen Zweifel lässt, denn das erstere hängt von Zufällen ab, die mit der Entstehungsart und dem Entwicklungsgange der Krankheit vielleicht gar nichts gemein haben. Es kann daher allerdings geschehen, dass die =erste= Erscheinung, welche die Existenz der Mania bei einem Individuum kundgibt, ein =Verbrechen= ist, was er begeht, allein es folgt auch nicht im Mindesten daraus, dass er nicht schon =früher= mit =derselben= Mania behaftet war, sondern nur, dass die Personen, welche seine Umgebung bildeten, nicht Scharfblick genug besassen, dieselbe zu =entdecken=, und dieser Umstand ist doch wahrlich nicht erheblich genug, und überhaupt zu sehr dem Zufalle unterworfen, um darauf eine =wissenschaftliche= Eintheilung zu gründen, die eben darum, weil sie eines jeden Grundes entbehrt, welcher für die =richterliche Beurtheilung= von irgend einer Bedeutung ist, nur schaden, in keiner Beziehung aber nützen kann. G. Berauschung. §. 87. Berauschung ist ein durch Genussmittel künstlich hervorgerufener ungewöhnlicher Zustand der =Aufregung= oder =Herabstimmung= der Organe, welcher auf die Vorstellungsthätigkeit ebenfalls einwirken kann, so dass dadurch entweder im Allgemeinen ein =schnellerer= Gang der Vorstellungen erfolgt, oder dass gewisse Vorstellungen zu einer besondern =Energie= gesteigert werden, andere aber dadurch nothwendiger Weise an der sonst =gewöhnlichen= Energie =verlieren=. -- Da nun ein Aehnliches auch in Bezug der =einzelnen Organe= Statt finden kann, so ergibt sich, dass die Berauschung in ihren Folgen nach aussen nach denselben Grundsätzen beurtheilt werden muss, wie Gemüthszustände überhaupt, denn wenn man nur die in diesem Zustande verübte That selbst betrachtet, so erscheint sie als eine in einem =ungewöhnlichen= Gemüthszustande Statt gefundene Wirkung der Kraftentwicklung eines Menschen, und der =Gemüthszustand= selbst aber als die =Folge= einer Statt gefundenen =Aufregung des Organismus=. Die Veranlassung zu dieser Aufregung ist in dem Falle, als sich nicht ergibt, dass sie der Mensch =absichtlich= herbeigeführt hat, um zur Verübung der That =gestimmt= zu sein, entweder ein blosser =Zufall=, welcher daher für die Beurtheilung des Verhältnisses der Willensäusserung in Bezug auf die That von =gar keiner= Bedeutung ist, oder es ist der Mensch nur dadurch strafbar, weil er sich durch seine =Nachlässigkeit=, mit welcher er sich dem =Gelüste= nach unmässigem Genusse hingab, der Gefahr aussetzte, in einen Zustand der Bewusstlosigkeit zu gerathen, in welchem er den Ausbruch seiner natürlichen Kraft nicht mehr zu regeln vermag[47]. Diese Art von strafbarer =Unterlassung= hat daher mit der Strafbarkeit derjenigen Thätigkeit, welche er in diesem selbstverschuldeten Zustande =ausübte=, nichts mehr gemein. Die gerichtliche Erhebung wird daher in solchen Fällen zwei Momente auf verschiedenen Wegen auszumitteln haben, nämlich _a_) ob in der Thätigkeit, durch welche er sich die Trunkenheit zuzog, eine strafbare Unterlassung liege, und _b_) ob die That, welche er beging, in einer, =wenn auch= durch die Trunkenheit hervorgebrachten =Sinnenverwirrung= motivirt sei. [47] Siehe hierüber die Anmerkung bei §. 67. Das österreichische Strafgesetz spricht sich hierüber folgendermassen aus: §. 120, II. Theil des Strafgesetzbuches: „Trunkenheit ist an Demjenigen zu bestrafen, der in der Berauschung eine Handlung ausgeübt hat, die ihm ausser diesem Zustande als Verbrechen zugerechnet würde.” Es erhellt daher, dass das Gesetz das Faktum der Trunkenheit überhaupt als eine zu missbilligende Handlung erkennt, die Sträflichkeit der dieser Thatsache zu Grunde liegenden Nachlässigkeit aber auf den Fall beschränkt, wenn in diesem Zustande eine Handlung begangen wurde, welche den objektiven Thatbestand eines Verbrechens bildet. Diese Ausschliessung der Strafe für die =Handlung selbst= tritt aber nur insofern ein, als die Trunkenheit oder Berauschung nicht selbst als ein von dem Thäter gewähltes =Mittel= zur sicheren Verübung des Verbrechens war, denn das Gesetz erklärt ferner als von Strafe für das Verbrechen befreiend im §. 2: _c_) eine volle, =ohne Absicht auf das Verbrechen= zugezogene Berauschung. Betrinkt sich aber Jemand, um ein Verbrechen auszuführen, zu welchem ihm sonst die nöthige Entschlossenheit fehlen würde, so ist die Thatsache des Betrinkens für ihn dasjenige, was eine Feuerwaffe für seine Hand ist, denn Mancher, welcher zu feige ist, einen Anderen anzugreifen, würde ohne das Vertrauen auf die Kraft der Kugel, welche der Druck seines Fingers weiter befördert, die That unterlassen. Das Gesetz fordert =volle= Berauschung, damit eine in der Trunkenheit begangene, sich sonst als Verbrechen darstellende Handlung oder Unterlassung =nicht= als Verbrechen zugerechnet werden könne, und was =volle= Trunkenheit ist, erklärt sich durch den Nachsatz des §. 2, _lit. b_) dahin, dass darunter eine =Sinnenverwirrung=, in welcher der Thäter sich seiner =Handlung= nicht bewusst war, verstanden werde; wenn er also in eine Art =Tobsucht= verfiel, oder in einen =Irrthum= gerieth, der ihm in diesem Augenblicke seine Handlung als eine erlaubte erscheinen liess, z. B. er eignet sich die Dose eines Anderen zu, weil er in den Wahn geräth, sie gekauft zu haben. Es kommt daher bei Beurtheilung des =rechtlichen= Einflusses der Trunkenheit nicht gerade immer auf den Ausspruch an, dass die =Trunkenheit= eine volle Besinnungslosigkeit zur Folge hatte, sondern vielmehr darauf, ob der Mensch in Bezug auf die ihm zur Last liegende =Thatsache= sich in einer Sinnenverwirrung befand, in welcher ihm seine Thätigkeit nicht als Verbrechen erschien, und in dieser Beziehung lässt es sich dann sagen, dass der Ausspruch über den Einfluss der Trunkenheit auf seine Zurechnungslosigkeit auf zweifache Art sich gestalten könne, nämlich _a_) es sei nach seiner physischen Beschaffenheit und nach der Quantität und Qualität des zu sich genommenen Getränkes gewiss, dass er sich in einem =alles= Bewusstsein seiner Handlungen ausschliessenden Zustande befand, oder _b_) es ergäbe sich aus seiner körperlichen und geistigen Beschaffenheit, verbunden mit anderen Umständen, z. B. seiner augenblicklichen, durch andere Ereignisse bedingten Stimmung im Verhältnisse zur That selbst, welche etwa zu ihrer richtigen Beurtheilung einen gewissen Grad Umsicht verlangte, dass er das Bewusstsein seiner Handlung =nicht= hatte. Hieraus folgt nun, dass die Erhebung über den Einfluss der Berauschung in Bezug auf die Erhebung des Einflusses anderer Arten von Sinnenverwirrung sich nur darin unterscheide, dass bei der ersten auch ausgemittelt werden muss, ob die Trunkenheit eine in =Absicht auf das Verbrechen zugezogene= war, welche Rücksicht bei anderen Arten von Sinnenverwirrungen in der Regel wegfällt. H. Unwiderstehlicher Hang zu gewissen Verbrechen. §. 88. Die _Gall_'sche Schädellehre hat ein Diebsorgan, ein Organ der Mordsucht etc. ausgemittelt, die Aufstellung dieses Grundsatzes kann jedoch nur auf der Wahrnehmung beruhen, dass man bei einigen Dieben ein solches craniologisches Organ wahrnahm, das man bei einigen Menschen, welche keine Diebe waren, nicht bemerkte. Ob es jedoch nicht sehr viele Personen gibt, welche mit demselben Organe versehen sind, und doch nie eine Lust zum Stehlen hatten, bleibt immerhin zweifelhaft, daher der ganze Grundsatz an und für sich von gar keinem wesentlichen Nutzen für die Rechtspflege ist. Von ähnlicher Erheblichkeit ist es mit den Grundsätzen, welche die Physiognomik über derlei Anlagen des Menschen aufgestellt hat, denn ein geübtes Auge kann wohl den Hang zu gewissen =Affekten= bei einem Menschen entdecken, welche =Thaten= aber diese Affekte hervorbringen werden, lässt sich unmöglich aus der Physiognomie entnehmen, da diese Thaten von =Zufälligkeiten des Lebens= abhängen, die man eben so wenig aus der Physiognomie voraussagen kann, als die Zukunft eines Menschen aus dem Kaffeesatze. Ob nun ein Mensch gewisse Verbrechen begehen werde, hängt nun zuverlässig von äusseren Zufälligkeiten ab, welche sich unmöglich vorhersehen lassen, ja manche Verbrechen sind in der That von der Art, dass ein seltenes und für manchen Menschen sogar unmögliches Zusammentreffen von Umständen dazu gehört, um die Begehung derselben nur denkbar zu machen. Ehe man also sich die Mühe gibt, physiologische Thatsachen in Betreff der Anlage zu Verbrechen aufzusuchen, ist es zuverlässig sehr rathsam, die Beschaffenheit der möglichen =Verbrechen selbst= zu betrachten, um daraus zu entnehmen, ob wirklich in einer oder der anderen Art der Verbrechen Motive für das menschliche Begehrungsvermögen vorhanden sind, welche die =besondere Disposition= eines Menschen zu dessen Begehung denkbar erscheinen lassen, und worin diese Disposition bestehen könne, ein Verfahren, dem man die Möglichkeit des Gelingens eben so wenig absprechen kann, als man es für unmöglich halten wird, einem Menschen aus der Betrachtung seiner Gesichtszüge vorherzusagen, ob er auf Andere einen angenehmen oder unangenehmen Eindruck machen werde. §. 89. Wenn man von einem besonderen Hange zum Verbrechen spricht, so kann man darunter doch wohl nur einen Hang zu derjenigen Gattung von Handlungen verstehen, welche das Gesetz unter einer bestimmten Benennung als Verbrechen bezeichnet, zum Diebstahl, zur Brandlegung etc., man darf aber damit denjenigen Zustand nicht verwechseln, welcher den Menschen mit einem besonderen Drange zur Entwicklung seiner =Thatkraft= nach Aussen erfüllt, in welchem Zustande dem Menschen =jede= derartige Manifestation, =abgesehen= von ihrem Gegenstande, angenehm und wünschenswert ist. Dies ist offenbar der Zustand der Jugend in der Periode der =Pubertäts-Entwicklung=. Wenn in diesem Zeitalter des Menschen, in welchem der Augenblick, d. h. die Wirkung der vorhandenen Anregung noch eine grössere Rolle spielt, als im späteren Leben, und wo der Drang, sich thätig zu äussern, mit Einem Worte der Drang, sich der eigenen Kraft an ihrer Wirkung zu freuen, gewöhnlich den Gedanken an dasjenige, was dadurch hervorgebracht wird, überwiegt, zuweilen auch =Verbrechen= begangen werden, so darf man sich darüber gar nicht wundern, oder die Ursache einer solchen Aeusserung in einer besonderen =krankhaften= Verstimmung suchen, sondern vielmehr muss man darüber erstaunen, dass nicht =mehr= Verbrechen, als wirklich von jungen Leuten begangen werden, durch die jugendliche Kraftperiode, verbunden mit dem leichten Sinne der Jugend, ihre Veranlassung finden. Der Grund dieser Erscheinung liegt nun einerseits in der Erziehung, andererseits aber in der geringen Anziehungskraft, welche die meisten Verbrechen für die Jugend haben. Selbst denjenigen gesetzwidrigen Handlungen, welche die Jugend wirklich begeht, z. B. Obstdiebstahl, Beschädigungen fremden Eigenthumes u. s. w., liegen so nahe und überwiegende Motive zu Grunde, dass man gar nicht in Zweifel sein kann, dass kein besonderer Hang zur verbrecherischen =That=, sondern nur der augenblickliche =Genuss=, welcher durch die Handlung erworben werden soll, die Neigung, seine Geschicklichkeit zu üben oder zu zeigen, verbunden mit dem Leichtsinne der Jugend, welcher weder die Vorstellung der Folgen, welche die That in entfernterer Beziehung haben kann, noch jene auf die allgemeinen Verhältnisse der Gesellschaft, welche dadurch beeinträchtigt werden, aufkommen lässt, die That veranlassen. Mir ist selbst der Fall vorgekommen, dass einige Burschen, welche im Begriffe waren einen Obstgarten zu bestehlen, einen Kerl gewahr wurden, welcher in einen Weinkeller einbrach und ihn sogleich für seine That tüchtig durchprügelten. Sie schienen also ganz und gar nicht zu bemerken, dass dasjenige, welches jener Kerl that, und das, was sie selber thaten, im Wesentlichen Eines und Dasselbe war. Etwas Aehnliches wie bei der Pubertäts-Entwicklung kann bei der Hysterie und dergleichen Krankheitszuständen eintreten. §. 90. Doch der verehrte Leser möge selbst urtheilen, und die Physiognomie jener Handlungen, welche das österreichische Strafgesetzbuch und eben so die Gesetzgebungen aller Nationen beiläufig mit denselben Benennungen als Verbrechen erklären, näher betrachten: Das österreichische Strafgesetzbuch erklärt folgende Handlungen als Verbrechen: 1. Hochverrath und andere die öffentliche Ruhe störende Handlungen. 2. Aufstand und Aufruhr. 3. Oeffentliche Gewaltthätigkeit (hierher gehören: Gewaltthätigkeit gegen die Obrigkeit oder Wache, gewaltsame Verletzungen des unbeweglichen Eigenthumes unter gewissen erschwerenden Umständen, ebenso gewaltsame Störungen des Hausfriedens, unbefugte Einschränkung der persönlichen Freiheit, Entführung). 4. Rückkehr eines Verwiesenen. 5. Missbrauch der Amtsgewalt. 6. Verfälschung öffentlicher Kreditspapiere. 7. Münzverfälschung. 8. Religionsstörung. 9. Nothzucht und andere Unzuchtfälle (insbesondere gewisse Gattungen von =Unzucht wider die Natur=). 10. =Mord und Todtschlag.= 11. Abtreibung der Leibesfrucht. 12. Weglegung eines Kindes. 13. =Verwundung= oder andere =körperliche Verletzungen=. 14. Zweikampf. 15. =Brandlegung.= 16. =Diebstahl= und Veruntreuung. 17. Raub. 18. Betrug. 19. Zweifache Ehe. 20. Verleumdung. 21. Verbrechern geleisteter Vorschub. Es bedarf wohl keines besonderen Scharfsinnes, um die Ueberzeugung zu erhalten, dass mehrere dieser Verbrechen unmöglich aus einem besondern Hange dazu, sondern nur dann entstehen können, wenn Umstände vorhanden sind, wo die Begehung dieser als Verbrechen bezeichneten Handlung einen Vortheil gewährt, dass daher die meisten dieser Verbrechen nur unter der Voraussetzung denkbar sind, dass sie als =Mittel= zu einem =ausserhalb= des Verbrechens liegenden Zweck erscheinen, der entweder =nur= durch das Verbrechen, oder doch unter den Verhältnissen, in welchen sich der Verbrecher befindet, auf =kürzerem= Wege durch das Verbrechen, als durch erlaubte Mittel, erreicht wird. Das Verbrechen der Rückkehr eines Verwiesenen gehört insbesondere zur letzten Art, denn die meisten Menschen, nämlich alle die, welche =nicht= verwiesen sind, können dieses Verbrechen =gar nicht begehen=, und selbst Derjenige, welcher es begehen kann, vollbringt dasselbe durch eine Handlung, welche jedem =nicht= Verwiesenen =erlaubt= ist, nämlich durch Ueberschreitung der Landesgrenze. Das Motiv, welches denselben zur Begehung dieses Verbrechens bestimmt, kann daher kein anderes sein als derselbe Beweggrund, welcher einen Anderen zur =erlaubten= Handlung der Grenzüberschreitung veranlasst hätte. Das Gegentheil tritt bei der Vorschubsleistung ein. Hier hat der Verbrecher den Zweck, einen anderen Menschen der bürgerlichen Strafe zu entziehen, und darum ist seine Handlung sträflich; das Materielle der Handlung ist etwas durchaus den Umständen Angemessenes, nämlich Verbergung, Unterstützung u. dgl., somit Thätigkeiten, welche ohne diesen Zweck vollkommen erlaubt sein würden. Die mit 1., 2., 3. bezeichneten, die Sicherheit des Staates verletzenden Handlungen sind nur in der Voraussetzung denkbar, dass der Verbrecher dadurch etwas erreichen will, welches ihm ohne dieses Verbrechen zu erreichen unmöglich, zweifelhaft oder zu mühsam scheint. Wer mit Demjenigen, welches die Obrigkeit durchsetzen will, einverstanden ist, und nicht etwa zu irgend einem Zwecke es für tauglich hält, die Thätigkeit der Obrigkeit zu vereiteln, wird sich, sofern er nicht wahnsinnig ist, nicht derselben gewaltsam widersetzen. Wenn sich aber Jemand gewaltthätig widersetzt, so thut er es auf dieselbe Art und Weise, wie es die Umstände mit sich bringen, er kämpft mit der Wache, ruft Leute zu Hilfe, um seinen Widerstand kräftiger zu machen etc., lauter Handlungen, welche keine andere Anziehungskraft haben, als wenn sie unter Umständen begangen wurden, wo sie nicht als Verbrechen behandelt werden könnten, z. B. zur Abwehrung einer unerlaubten Gewaltthätigkeit. Kreditspapiere werden nachgemacht oder falsche Münzen werden geprägt nicht des =Vergnügens des Nachmachens= oder des Prägens wegen, sondern wegen des =Nutzens=, welchen die =Verausgabung= derselben schaffen soll, denn wenn auch der Fall denkbar ist, dass Jemand ein unwiderstehliches Bedürfniss zu zeichnen fühlt, so kann er diesem Bedürfnisse eben so gut durch Nachzeichnung eines Kupferstiches genügen. Sollte aber auch jemals der Fall vorkommen, dass Jemand, der kein anderes Original findet, als eben eine Banknote, diese nachzeichnet und sich dann durch seinen unwiderstehlichen Hang zum Zeichnen entschuldigt, so lässt sich doch nur sagen, weil er keine Gelegenheit hatte, einem Talente auf eine erlaubte Art zu genügen, ist er auf eine unerlaubte Manifestation desselben verfallen, nicht aber er habe einen unwiderstehlichen Hang zum Verbrechen der Verfälschung öffentlicher Kreditspapiere gehabt. Wer eine bestehende Religionsübung stört, thut dieses entweder aus Fanatismus oder aus Mutwillen, um Unfug zu machen. Er muss aber im letzteren Falle wissen, dass eine =Religionsübung= dadurch gestört wird, sonst hört die That auf ein Verbrechen zu sein. In beiden Fällen, so wie auch dann, wenn eine Aufforderung dritter Personen eintritt, setzt dieses Verbrechen eine Kombination von Begriffen voraus, deren Komplex gar nicht in der Anlage der menschlichen Natur begründet sind, sondern welche zu ihrem Bestehen eine Menge von Zufälligkeiten voraussetzt, die auf gar keine bestimmte natürliche =Anlage= zurückwirken. Zur Abtreibung der Leibesfrucht kann unmöglich ein besonderer =Hang= Statt finden, da an und für sich die That nichts sinnlich Angenehmes enthält und nur durch die Vorstellung des Unangenehmen, welches durch die That vermieden werden soll, veranlasst werden kann. Das =Materielle= der Handlung ist nichts Anderes, als was bei jeder Krankheit geschieht. Es werden Arzneistoffe eingenommen etc., und mit Einem Worte Thätigkeiten geübt, die nur durch den =Zweck=, welchen sie erreichen sollen, sträflich sind. Die Weglegung eines Kindes ist nur dann ein Verbrechen, wenn sie zu dem =Zwecke= geschieht, um dasselbe der Gefahr des Todes auszusetzen, oder um seine Rettung dem Zufalle zu überlassen. Wer also den einen oder den anderen Zweck nicht hat, =kann= dieses Verbrechen gar nicht begehen, somit auch keinen Hang dazu haben. Von einem =Hange= zu diesem Verbrechen kann daher nur insofern die Rede sein, als man überhaupt von einem Hange zur Tödtung oder Verletzung sprechen kann, von welchen später die Rede sein wird. Schwerlich hat man noch von einem unwiderstehlichen Hange zum Zweikampfe gesprochen. Es gibt allerdings Raufbolde, die sich ihrer natürlichen Kraft und Geschicklichkeit in Raufhändeln erfreuen, allein diese Gemüthsstimmung =entsteht= nicht aus dem =Hang= zum Raufen, sondern im Gegentheile ihr Hang zum Raufen ist die =Folge= einer herrsch- oder rachsüchtigen, oder zornigen Gemüthsstimmung, es ist daher ihre Neigung zu derlei Unternehmungen nur =eine= der durch ihre Gemüthsstimmung bedingten Aeusserungen. Es wäre daher eben so unrichtig zu sagen, dieselbe entspringe aus einem besonderen Hange zu diesem Verbrechen, als wenn man von Jemanden, welcher überhaupt sehr genäschig ist und =alles= Süsse gern verzehrt, sagen wollte, er habe einen besonderen Hang, =Zucker= zu naschen. Diebstahl, Raub, Betrug gehören in psychologischer Beziehung, wie in der Folge gezeigt wird, in Eine Klasse. Dass es einen besonderen Hang zum Verbrechen der =zweifachen Ehe=, d. i. zu derjenigen Handlung gebe, durch welche eine bereits verheiratete Person, noch ehe das Eheband gelöst ist, einen zweiten =Ehevertrag= schliesst, oder dass Jemand sich mit einer Person blos aus dem Grunde trauen liesse, =weil sie schon verheiratet und noch nicht verwitwet ist=, ist sicher noch keinem vernünftigen Menschen eingefallen. Die Leidenschaft oder das Verlangen nach der Mitgift kann allerdings ein sehr kräftiges =Motiv= sein, dieses Verbrechen zu begehen, dann aber ist es nicht mehr der Hang zum =Verbrechen= dieses Namens, sondern der Hang zu etwas ganz Anderem, welches den Menschen veranlasste, eine seinem =Zwecke= dienende Handlung =ungeachtet= ihrer Sträflichkeit zu unternehmen. Es gibt ferner allerdings Leute genug, welche ihrem Nächsten Dinge nachsagen, welche seinem Rufe nachtheilig sind, von deren Unwahrheit sie überzeugt sind, weil sie dieselben selbst erfunden haben. Allein diese Handlung ist nur dann ein Verbrechen, wenn sie mit der Absicht geschieht, denselben als Verbrecher der obrigkeitlichen Nachforschung auszusetzen, und nur dann eine schwere Polizeiübertretung, wenn durch die Unbestimmtheit in Bezug auf die Folge der Beschuldigung der gute Name angegriffen wird, ohne dass jedoch eine wirkliche Untersuchung dadurch veranlasst worden wäre, oder wenn die Anschuldigung zwar zur gerichtlichen Untersuchung, aber nicht zu jener wegen eines Verbrechens führt. Ein Hang zum =Verbrechen= der Verleumdung wäre daher eine spezielle Neigung, andere Leute zum Gegenstande einer gerichtlichen Untersuchung zu machen, und eine solche spezielle Neigung wird sich doch wohl schwerlich aus irgend einer physischen oder psychischen Anlage, es sei denn jene des ausgebildeten =Wahnsinns=, erklären lassen. Die blosse Sucht, den guten Namen des Nebenmenschen zu verunglimpfen, entspringt aber ihrerseits aus zu bekannten Motiven, als dass man zu ihrer Erklärung einen speziellen Hang anzunehmen brauchte. -- Die Sucht zu spotten, sich selbst einen Vortheil auf Kosten des Anderen zuzuwenden, das Bedürfniss etwas zu sagen, was die Anderen interessirt, verbunden mit einer Dosis Leichtsinn, endlich Neid und Schadenfreude genügen vollkommen, um diese Erscheinung zu erklären. Vergehen, welche blos in Unachtsamkeit ihren Grund haben, wie die meisten schweren Polizeiübertretungen, gehören nicht hierher, es sind also an und für sich sehr wenige sträfliche Handlungen, von welchen sich Erfahrungen aufweisen lassen, dass dazu ein besonderer Hang bei manchen Personen bestehe, und diese sind: 1. Verbrechen, welche die Geschlechtslust veranlasst. 2. Verbrechen, welche in Verletzung des Körpers, und 3. des Eigenthumes dritter Personen bestehen. 4. Verbrechen der Brandlegung[48]. [48] Ich bitte meine =juridischen= Leser, sich an den Umstand, dass dieses letztere Verbrechen hier abgesondert behandelt wird, nicht zu stossen, da mir sehr wohl bekannt ist, dass die Brandlegung ebenfalls unter die das Eigenthum verletzenden Verbrechen gehört; der Grund, warum dasselbe hier abgesondert wird, ergibt sich im Verlaufe der Darstellung. §. 91. 1. Was die durch die =Geschlechtslust= veranlassten Verbrechen betrifft, so gibt insbesondere das =Verbrechen der Unzucht wider die Natur= den eigentlichen Typus derjenigen Handlungen ab, welche in gewissen Fällen aus einem =Hange= zur Verübung eines =bestimmten Verbrechens= entspringen können. Wenn man nämlich von einem =Hange= zur Verübung eines bestimmten Verbrechens spricht, so versteht man, sofern man diesem Hange einen gewissen =rechtlichen= Einfluss auf die Strafzurechnung einräumt, nicht etwa ein Produkt eines bereits ausgesprochenen =Wahnsinns=, z. B. eine fixe Idee, sondern man nimmt an, dass der Mensch mit Ausnahme jenes Hanges sonst normale Geisteskräfte und normale physische Funktionen äussert, denn ist einmal das Vorhandensein einer Gemüthskrankheit ausgesprochen, deren =Produkt= ein solcher Hang ist, so kann kein Zweifel mehr sein, dass jener =Gemüthszustand=, somit die =Ursache=, die =Folge=, nämlich die in Folge eines solchen Hanges geäusserte Thätigkeit als unzurechenbar darstelle. Soll daher der Hang zu einem gewissen Verbrechen eine =rechtliche= Bedeutung haben, so muss er sich bei dem davon behafteten Subjekte gewissermassen als =isolirte= Thatsache darstellen. Was nun insbesondere das oben berührte Verbrechen betrifft, so leidet die Thatsache keinen Zweifel, dass es Menschen gibt, welche den Weg naturgemässer Befriedigung des Geschlechtstriebes verlassend, sich einer naturwidrigen Befriedigung hingeben, und dabei nicht nur die Fähigkeit zur naturgemässen Befriedigung verlieren, sondern bei ihrer entarteten Aeusserung nicht nur diejenige heftige Leidenschaft äussern, welche der ordentlichen Entwicklung des Geschlechtstriebes natürlich ist, sondern eben dadurch, weil durch ihr natur- und sittenwidriges Treiben sowohl das sittliche Gefühl, als auch der Geist abgestumpft wird, in einen Zustand verfallen, welchem man zu viel Ehre anthut, wenn man ihn „viehisch” nennt, da das „Vieh” doch immer auf dem natürlichen Wege bleibt. Genug, bei diesem Verbrechen spricht es sich klar aus, dass der sich demselben hingebende Mensch dabei nichts Anderes will, als =das Verbrechen selbst=, d. h. er will nichts Anderes als die naturwidrige Sünde, in der er zugleich seinen Zweck findet, nicht aber dadurch einen =anderen= Zweck erreichen. Die zur Strafmilderung gereichende Rücksicht kann hier offenbar nur darin liegen, dass bei dem zur Verhandlung kommenden Akte der Mensch bereits einen so hohen Grad von geistiger Abstumpfung erreicht hatte, dass es ihm nicht möglich war, sich von der ekelhaften Sünde durch irgend eine Vorstellung abhalten zu lassen, weil er entweder nicht im Stande war, eine solche zu reproduziren, oder so von der Vorstellung seiner Sünde befangen war, dass keine Vorstellung mehr gegenüber derselben eine hinlängliche Intensivität erlangt. Dass es solche Abscheu erregende Subjekte gebe, wird wenigstens keiner meiner medizinischen Leser bezweifeln. Ich selbst lernte ein Paar dieser Art kennen. Der eine davon studirte schon in den höheren Schulen, -- =wie= kann man sich denken. -- Ein junger Mann, der das saure Geschäft hatte ihn zu unterrichten, war manchmal genöthigt, ihn bei dem Ohre zu zupfen, um seine Gedanken auf die gehörige Bahn zu bringen, was er sich jedoch ohne Widerrede gefallen liess. Der andere, ein junger Mann, 23 Jahre alt, in glänzenden Vermögensumständen, hatte die Kräfte und den Verstand eines Kindes von etwa 6 Jahren, eine etwas laute unvermuthete Anrede brachte epileptische Zufälle bei ihm hervor, er konnte nur auf den Arm seines Begleiters gestützt gehen, und -- seine Sünde wiederholte er täglich, ungeachtet er stets die heftigsten Rückgratschmerzen darauf empfand, wie man mich versicherte. Handelt es sich bei Fällen, welche diese Sünde als Verbrechen darstellen, daher um den Umstand, inwiefern wirklich ein =unwiderstehlicher= Hang ihn zu der That veranlasste, so müssen solche und ähnliche Daten, wie die vorbenannten, aufgesucht und hieraus, und überhaupt aus der Beschaffenheit der physischen Organe und geistigen Kräfte argumentirt werden, ob und inwiefern das Subjekt wirklich nicht im Stande war, seinem, durch die Uebung des naturwidrigen Lasters erworbenen Hange Widerstand zu leisten. §. 92. Bei dem eigentlichen Verbrechen der =Nothzucht=, welches nämlich darin besteht, dass eine Weibsperson durch angethane Gewalt, gefährliche Drohung, oder arglistige Betäubung der Sinne ausser Stand gesetzt wird, den Lüsten des Angreifers Widerstand zu leisten, ist es durchaus =unmöglich=, diese That durch einen unüberwindlichen Hang zur Verübung des =Verbrechens= zu erklären. -- Es ist der Fall möglich, dass Jemand einen sehr heftigen Trieb hat, mit einer Person den Coitus zu pflegen, das Verbrechen bleibt aber dann doch nur das =Mittel=, diesen Zweck zu erreichen. Hier darf daher niemals gesagt werden, der Mensch habe einen besonderen Hang zu diesem =Verbrechen=, sondern es kann höchstens zuweilen der Fall eintreten, dass der Mensch, der sich in heftiger Geschlechtsaufregung befindet, und auf keine andere Weise zum Ziele gelangen konnte, durch die Heftigkeit seines Triebes zum Verbrechen =hingerissen= wird. Hier werden daher zur Bemessung des Grades seiner Strafbarkeit diejenigen Momente hervorgehoben werden müssen, in welchen sich die ungewöhnliche Heftigkeit seines Triebes im Allgemeinen kundgibt oder -gab, und die in dem speziellen Falle besonders eingetretenen diesfälligen Momente berücksichtigt werden müssen. §. 93. 2. Dass die Erfahrung wirklich Beispiele von Menschen liefere, welche ein Vergnügen an =Grausamkeiten=[49] besitzen, leidet keinen Zweifel, es kann also wohl geschehen, dass ein Individuum in gerichtliche Untersuchung kommt, welches über einen Mord ertappt, keinen anderen Grund seines Verbrechens anzugeben weiss, als eine unüberwindliche Mordlust. [49] Das Kennzeichen, durch welches ein solcher Hang sich kundgibt, seinerseits aber wieder Nahrung erhält, ist die Thierquälerei; dies letztere Moment ist sehr bedeutungsvoll, denn es kann keinem Zweifel unterliegen, dass das Bestreben, sich durch Quälen schwacher Geschöpfe das Bewusstsein seiner Ueberlegenheit zu verschaffen, und die Gewohnheit, sich an diesem Bewusstsein zu ergötzen, eine höchst gefährliche Stimmung erzeugen müsse. Da ein solcher Fall nothwendig eine ärztliche Intervenirung bedarf, so ist es wichtig, über den Zweck dieser Erhebung im Klaren zu sein. Die erste Frage ist in einem solchen Falle immer: ist der Mensch nicht etwa =wahnsinnig=? und zur richtigen Beantwortung dieser Frage wird dann dasjenige zu berücksichtigen sein, welches im Verlaufe dieser Darstellung hierüber gesagt wurde. Lautet nun die Antwort dahin, es sei =keine= Spur des Wahnsinns zu finden, wodurch dann diese Mordsucht als eine isolirte Thatsache zu stehen kommt, so handelt es sich darum, richtig zu stellen, ob es möglich ist, dass eine solche Mordsucht bei einem sonst =normalen= Menschen bestehen und sich thätig äussern könne, ohne dass der Mensch vermag, ihren Ausbruch durch seinen Willen zu hindern. Um bei dieser wichtigen Sache nicht irre zu gehen, darf man nicht übersehen, dass es =zweierlei= Arten des Mordes der =Erscheinung= und der physiologischen Motivirung nach gibt, nämlich den =gewalttätigen= Mord, und jenen, welcher durch Anwendung einer gewissen =Geschicklichkeit= vollbracht wird, wie z. B. =Giftmord=, oder der Mord durch =Erschiessen= u. s. w. Eine jede von diesen beiden Arten setzt bei dem Mörder eine wesentlich von der anderen =verschiedene= Gemüthsstimmung voraus. -- Bei der ersten ist es nämlich =physische Aufregung=, welche -- wie es im Felde bei den Kriegern der Fall ist -- =ohne= Verschulden durch den Anblick des Blutes, durch den Gedanken an die Todesgefahr entstehen kann. Jeder etwas heftige Mensch, der von Räubern angefallen, einen oder ein Paar davon zusammenhaut, wird schwerlich den dritten mehr schonen. Das Gewaltige der That, die Fülle von Kraft, deren sich der Mensch durch die Besiegung eines Feindes bewusst wird, muss nothwendig eine Anregung mit sich führen, welche dort, wo sich eine ähnliche Veranlassung zeigt, zur Wiederholung stimmt. Tritt hier nun sittliche Roheit, ein verwildertes Gemüth hinzu, so lässt es sich allerdings denken, dass der Mensch, um sich noch einmal jenes Bewusstsein der Fülle seiner Kraft zu verschaffen, sich angeregt fühlt, =ohne= sonstiges Motiv einen neuen Mord zu begehen, und dass er eben wegen seiner sittlichen Roheit bei einer sich zeigenden Gelegenheit diesen Drang unwiderstehlich angibt, oder dass er bei einem sonst sehr =geringen= Motive sich zur Begehung eines Mordes angeregt und bestimmt fühlt. -- Das Merkmal, dass ein =geringes= Motiv den Menschen bestimmte, d. h. ein solches, welches bei einem Anderen nicht eine so grässliche That veranlasste, ist übrigens hier von wesentlicher Bedeutung, denn hatte er ein für seine Verhältnisse =wichtiges= Motiv, so ist ohnehin die Voraussetzung, dass die That Mittel zum Zwecke war, ihre Zurechenbarkeit wird daher nicht zweifelhaft sein. Jedoch auch in der erstbezeichneten Voraussetzung erscheint eine solche That immerhin psychisch =motivirt=, es ist daher kein Grund vorhanden, das Motiv der That als =unbegreiflich= in den Bereich der =Krankheiten= zu versetzen, und es wird sich dann nur darum handeln, auszumitteln, ob der Mensch wirklich von einem so heftigen =Affekte= ergriffen war, welcher ihm alle Besinnung bezüglich der Gesetzwidrigkeit seiner That raubte. Ein solcher Fall wird daher lediglich nach denjenigen Grundsätzen sowohl von Seite des Richters, als von jener des Arztes zu beurtheilen sein, welche in der Lehre von den Affekten dargestellt wurden. Anders verhält sich die Sache bei der =zweiten= Gattung. -- Hier =mangelt= offenbar das die vorige charakterisirende Merkmal des Bewusstseins =physischer= Kraftentwicklung, sondern es tritt hier nur das Bewusstsein der Macht des =Wissens= und der erworbenen =Geschicklichkeit= ein. -- Der Giftmischer fühlt, dass er mit dem Staube, den zwei Finger fassen, der Schütze, dass er mit dem Drucke seines Fingers ein Leben vernichten kann. Bei der ersten Gattung des Mordes gehört offenbar der Anblick des =Todeskampfes= des Opfers mit unter die Motive der That, der =leidenschaftliche Giftmischer= bleibt kalt bei dessen Todesqual, und vermeidet auch wohl den Anblick; bei dem ersten ist das =Morden=, bei dem letzteren der =Tod= dasjenige, welches ihm Genuss gewährt. Zu der ersten Gattung gehört Roheit als nothwendige Bedingung, die letztere Gattung erfordert, dass der Mensch nicht in der starken =Erregung=, sondern im Gegentheile in dem Bewusstsein der =Unterdrückung= menschlicher Gefühle einen Genuss finde. Dieser Zustand ist nun allerdings =möglich=, denn er ist die grässliche Parodie der Sittlichkeit. So wie nämlich der Sittliche in dem Bewusstsein der Entsagung mancher Wünsche sich seiner Unabhängigkeit bewusst wird, und dieses Bewusstsein ihm ein =angenehmes= Gefühl gewährt, so kann auch der Bösewicht sich durch das Bewusstsein, dass ihn gewisse menschliche Gefühle =nicht mehr anregen=, in einem gewissen Grade behaglich fühlen, und sich der ihm hiedurch gewordenen Ueberlegenheit freuen. Auch dieser Zustand ist daher =ohne= Annahme einer =Gemüthskrankheit= psychologisch zu erklären, schwerlich werden jedoch, den Fall ausgenommen, wo der Mensch in wirklichen Wahnsinn verfallen ist, sich Motive der Strafmilderung finden lassen, denn der Mensch handelt =frei=, da er mit =Bewusstsein= dem bösen Principe huldigte, er hat sich freiwillig zum Teufel gemacht, und wenn er glaubte, einer =unwiderstehlichen= Macht zu folgen, so war es nur jene, die er =selbst= heraufbeschwor, und der er alles dasjenige =freiwillig= zum Opfer brachte, was dem Menschen sonst in Stunden der Versuchung zum Schilde dient. -- Nur die Furcht vor Strafe kann noch auf solche Menschen wirken, sie mögen daher jener Menschheit zur Sühne fallen, welche sie sich selbst zum frevelhaften Opfer gebracht haben. §. 94. 3. Was den Hang zum =Diebstahl=, Veruntreuung und wohl auch vielleicht zu =Betrügereien= betrifft, so lässt sich deren Vorhandensein bei manchen Menschen allerdings nicht in Abrede stellen, allein auch hier lässt sich nicht behaupten, dass dieser Hang, wo er sich zeigt, und nicht allein die =Folge= eines sich als Geistesverwirrung darstellenden Krankheitszustandes ist, als ein Hang zu diesem =Verbrechen=, oder zu dieser schweren Polizeiübertretung (sofern der Werth des Gutes 25 fl. nicht übersteigt, oder die That nicht unter besonderen erschwerenden Umständen begangen wird) betrachtet werden könne. Damit nämlich eine Handlung als Diebstahl betrachtet werden kann, müssen folgende Momente eintreten: _a_) es muss von Jemanden um seines Vortheils willen, _b_) fremdes (bewegliches) Gut, _c_) aus eines andern Besitz, _d_) ohne dessen Einwilligung =entzogen= werden. Hier muss also Derjenige, welcher als Dieb soll betrachtet werden, fünferlei Begriffe in sich entwickelt haben, und es gehörte also, um den Hang zum Diebstahl als eine =Anlage= anzunehmen, dazu, dass man zugibt, es könne ein Mensch von Natur so gestimmt sein, dass ihm die Vorstellungen, welche diesen fünf Begriffen entsprechen, durchaus widerstreiten. Dieses ist nun in der That von =einer= natürlichen Anlage viel gefordert. -- Die Unmöglichkeit der Annahme einer solchen natürlichen Anlage ergibt sich aber noch mehr, wenn man die Vorstellungen, welche diesen Begriffen entsprechen, näher analysirt. Dass der Mensch geneigt ist, um seines Vortheils willen zu handeln, ist ganz natürlich und bedarf nicht der Voraussetzung eines besonderen Hanges bei irgend einem Menschen, es ist dies ein allgemeines Merkmal aller Handlungen des Menschen, denn auch die sittlichen geschehen zu Gunsten eines, wenn auch unmateriellen Gutes. Dass es ferner möglich ist, zwischen =eigenem= und =fremdem= Gute zu unterscheiden, setzt nothwendig voraus, dass der Mensch den Begriff des =Eigenthums= in sich entwickelt habe. Dieser Begriff folgt nun nicht nothwendig aus der =menschlichen Natur= als solcher, wie etwa jener der Sittlichkeit, sondern aus der Natur des =geselligen Verhältnisses=, und erst von der Beschaffenheit des letzteren wird es abhängen, was, d. i. =welche= Sachen ein Gegenstand des Eigenthums werden können. -- Selbst in unserem entwickelten geselligen Zustande ist nicht =alles= Eigenthum, über welches Jemand zu disponiren berechtigt ist. Niemanden fällt es ein, dass es verboten sein könnte aus dem Brunnen zu trinken, der einem Anderen gehört, sich in den Schatten eines Baumes zu setzen u. s. w. Der Grund davon ist, weil die Gegenstände, von denen hier die Rede ist, z. B. das abfliessende Wasser u. s. w., keinen Werth, oder doch keinen solchen Werth haben, dass diese unbedeutende Benützungsart von irgend einem merkbaren Einflusse für den Dritten sein könnte. Gäbe es einen Goldbrunnen, so würde sich bald dessen Besitzer auch die unbedeutendste Consumtion verbieten. =Welche= Gegenstände nun aber so viel Werth haben, dass sie als Eigenthum von einzelnen Personen angesprochen werden mögen, hängt lediglich davon ab, ob und wieferne sie die Mühe einer besonderen Besitzergreifung lohnen, denn wenn sich auch Niemanden das Recht absprechen lässt, so steht doch weder zu erwarten, noch zu vermuthen, dass Jemand Sachen, welche für ihn ganz werthlos sind, weil er sie in jedem Augenblicke sich zur Genüge verschaffen kann, zu einem Gegenstande einer besonderen Besitzergreifung machen werde; so wird auf einer ganz mit Wald bewachsenen Insel, welche nur von wenigen Personen bewohnt wird, sich wohl Niemand die Mühe geben, diejenigen Bäume, die er umzuhauen gedenkt, in grösserer Anzahl früher zu bezeichnen. Es folgt daher, dass der Begriff, ob und was Eigenthum sei, erst durch das gesellige Verhältniss entwickelt wurde, und zwar dadurch, dass man zuerst das =Bedürfniss= fühlte, einen Gegenstand mit Ausschluss Anderer zu besitzen, und das Verhältniss, welches dadurch zwischen dem Besitzergreifer und dritten Personen in =Bezug= auf die fragliche Sache entstand, Eigenthum =nannte=. Das Gebot: du sollst nicht =stehlen=, kann daher nur dort und =insofern= übertreten werden, als der Begriff des Eigenthums entwickelt ist, während das Gebot: du sollst nicht =tödten=, überall und ohne Ausnahme gilt, wo ein Mensch dem andern begegnet. Dasjenige, was aber nur durch Aeusserlichkeiten bedingt ist, davon lässt sich nicht sagen, dass es mit einer menschlichen =Anlage= in so naher Verbindung ist, dass es durch sein blosses Dasein eine natürliche Anlage so aufregen könne, dass der blosse =Begriff= im Stande wäre, abgesehen von den Wünschen, welche die einzelnen Vorstellungen in ihm erzeugen, ihn schon zu einer die Aufhebung des =Begriffes= bezweckenden Thätigkeit zu veranlassen. -- Es kann eine Idiosynkrasie geben gegen =Spinnen=, nicht aber gegen den =Begriff= des =Eigenthums=. Wir haben hier daher zwei Begriffe, welche nothwendig zum Verbrechen des Diebstahls gehören, von denen sich nachweisen lässt, dass sie mit dem =sinnlichen= Hange eines Menschen nichts zu schaffen haben, weil der eine zu allgemein ist, um einem speciellen Hange zum Gegenstande dienen zu können, der andere aber eine reine Abstraction ist, zu deren richtiger Auffassung eine bedeutende Menge anderer abstracter Begriffe gehört; es lässt sich daher mit vollkommener Bestimmtheit sagen, dass zu derjenigen Handlung, =welche das Gesetz als Diebstahl erklärt=, von welcher also in gerichtlich-medicinischer Beziehung allein die Rede sein kann, ein besonderer Hang =gar nicht denkbar= ist. §. 95. Indess der Hang zu Diebereien steht als Thatsache da, welche Niemand läugnet, man muss daher die Sache von einem anderen Gesichtspunkte auffassen, nämlich zu erforschen suchen, worin denn das Motiv oder die Motive liegen, welche den Menschen veranlassen können diejenige Thätigkeit auszuüben, welche den =materiellen=, den =objektiven= Thatbestand des Diebstahls bilden. Das Materielle dieser Handlung besteht nun in folgenden Momenten: 1. In der Besitzergreifung einer Sache. 2. In der Besitzergreifung einer Sache, von der der Thäter sich bewusst ist, dass er sie nicht an sich bringen =soll=. 3. In der Entziehung derselben =ohne= Wissen und Willen, oder (wodurch sich das Verbrechen als Raub charakterisiren kann) =gegen= den Willen, und mit Beseitigung des =Widerstandes= des Besitzers. Jeder dieser drei Momente kann für sich betrachtet etwas Reizendes für manchen Menschen haben, so dass der =eine= dieser Momente ihn bestimmt, die Bedingungen zu erfüllen, welche in den beiden =übrigen= Momenten enthalten sind, obgleich dieselben sonst für ihn nicht besonders anziehend wären. Bei dem =ersten= dieser Momente lässt sich aber noch der Unterschied gewahren, dass man aus dem doppelten Grunde den Besitz einer Sache ergreifen kann, nämlich um sie zu =haben=, oder um sie zu =gebrauchen=, d. i. entweder um ihrer selbst willen, oder um sich damit irgend einen Genuss zu verschaffen. Die Handlung des Diebstahls wird daher nach ihren Motiven folgende Erscheinungen darbieten: Die letzte Gattung von dem Merkmale _a_) charakterisirt den wahren =Dieb=, dem das Verbrechen das Mittel zum Zwecke des Genusses ist. Er stiehlt nicht um zu stehlen, sondern um den gestohlenen Gegenstand zu verwenden, wird sich auch in der Wahl Desjenigen, =was= er stiehlt, nur darin beschränken, dass er nur Sachen stiehlt, die ihm nach seinen Verhältnissen Vortheil versprechen, Gegenstände aber, deren Gebahrung ihm nicht geläufig ist, liegen lassen. Diese Art des Diebstahls ist kein Gegenstand eines =besonderen Hanges=, sondern sie erklärt sich vollkommen aus dem natürlichen Bestreben, sich mit der möglichst geringen Anstrengung Vortheil zu verschaffen. Zunächst stiehlt also der Dieb dasjenige am liebsten, was seiner Denkungsweise am meisten zusagt. Trifft es sich nun dabei, dass durch irgend einen Eindruck sich der Diebstahl =gewisser= Gegenstände als besonders =schmählich= seiner Phantasie eingedrückt hat, so wird er diese =nicht=, oder doch nur im Nothfalle stehlen, und bei =je mehr= Gegenständen er diese Ansicht wirklich hat, um so geringer wird die Anzahl derjenigen Gegenstände sein, bezüglich deren er sich kein Gewissen daraus macht, sich derselben auch dann zu bemächtigen, wenn er weiss, dass sie bereits Jemands Eigenthum sind. Immer aber muss berücksichtigt werden, dass der gewöhnliche Dieb nicht etwa darum stiehlt, weil er dem =Eigenthumsrechte= im Allgemeinen den Krieg erklärt hat, sondern nur des =Gegenstandes= willen, den er auf keine andere Art zu bekommen weiss. Wenn also der eine Dieb blos Pferde, ein anderer blos Uhren, ein dritter -- wie mir selbst ein solches Individuum vorkam, das Eisenzeug mit grösster Beschwerde meilenweit nach seiner Behausung trug -- nur Eisenzeug stiehlt, so liegt die Veranlassung zu dieser Erscheinung in einem vollkommen normalen Gange menschlicher Vorstellungen. Er stiehlt blos den einen Gegenstand, weil bezüglich dieser Art von Diebstahl seine moralische Abneigung bereits =überwunden= ist, und er stiehlt andere Gegenstände nicht, weil er in ihrer Beziehung erst noch einen moralischen Widerstand =zu überwinden hat=. Die erste Abteilung des Merkmales _a_), wo Jemand eine Sache blos darum stiehlt, um sie zu =haben=, kommt mit der vorigen auf Eins hinaus, wenn der =Besitz= allein irgend einen Vortheil gewährt, z. B. der Gegenstand des Diebstahls ein Kleinod ist, mit welchem man Staat machen kann; indess ist hier bereits der Fall denkbar, dass Jemand durch eine Art Idiosynkrasie geleitet, einen unwiderstehlichen Trieb fühlt, die =Sache= in seine Gewalt zu bekommen. Dieser Zustand ist möglich, da er, wie die Erfahrung lehrt, wirklich vorkommt, und lässt sich allerdings nur aus irgend einer Abnormität im Menschen erklären, welche eben darum, weil sie eine Abnormität ist, und zwar ganz die Natur der fixen Idee an sich hat, auch nach den hierüber dargestellten Grundsätzen erhoben werden muss. Das Erste, worauf es dabei ankommt, ist die Nachweisung, dass der Mensch wirklich nur in Folge eines solchen Einflusses handle, und das =Mittel=, diese Nachweisung zu liefern, ist der Umstand, dass der Mensch wirklich nur diese =bestimmte= Sache, oder doch nur =eine= bestimmte Gattung von Sachen, =wo= er sie findet, sich zueigne, und die Nachweisung des Abganges aller =sonstigen= Motive zu dieser Art von Thätigkeit. Das Gegenstück zu diesem Zustande ist jene Art von Dieberei, welche nicht selten die Begleiterin desjenigen Zustandes ist, welchen man =Knauserei= nennt, und welcher in einem sehr grossen Abscheu vor =kleinen= Ausgaben besteht, welcher Abscheu sich entweder darauf bezieht, dass man kleine =Geldausgaben= oder die Verwendung =gewisser= Gegenstände, z. B. eines Bogens feinen Briefpapiers, der Federkiele u. s. w. scheut. Wenn durch eine solche Stimmung der Mensch zu kleinen Diebereien verleitet wird, so liegt der Grund in der Vorstellung, dass einerseits durch die Aneignung des fremden Gegenstandes dieser Art die Verwendung des =eigenen= überflüssig gemacht wird, andererseits aber dass der Andere, weil derselbe keinen solchen Werth auf diesen Gegenstand legt, den Abgang nicht rügen, und daher die Entfremdung, auch wenn er sie bemerkte, stillschweigend gestatten werde. -- Weit davon, dass ein solcher Zustand =selten= genannt werden kann, findet man ihn oft bei Leuten, bei welchen man etwas dergleichen in der That nicht vermuthen sollte. Derlei Aeusserungen gehören in die sehr weite Gattung der =Schmutzereien=, und fallen daher nur dort besonders auf, wo sie ein besonderes lächerliches Ansehen haben, oder wo sie Denjenigen, welcher sich ihnen ergibt, einmal veranlassen, das durch ein stillschweigendes Uebereinkommen der Gesellschaft festgesetzte Mass zu überschreiten, oder endlich wenn sie auf ein Subjekt gerathen, weiches auf eine ähnliche Weise, wie jene, denkt und fühlt. Kommt nun eine solche Thatsache zur gerichtlichen Erhebung, so wäre es wohl kaum die richtige Ansicht, wenn man sie als eine Folge irgend einer Abnormität betrachten würde, sondern sie ist in Wahrheit nichts Anderes, als eine Folge des =Sichgehenlassens= in dem Hange zu Schmutzereien, und verdient daher nur höchstens insofern eine Entschuldigung, als der Thäter voraussetzen konnte, dass ihm der Beeinträchtigte auch im Falle der Entdeckung die Sache hingehen lassen werde. §. 96. So wenig sich, wie bereits früher bemerkt wurde, eine eigentliche Idiosynkrasie wider den Begriff des Eigenthums denken lässt, so ist doch der Fall möglich, dass Jemanden eine Sache, so lange er sich bewusst ist, sie auf erlaubtem Wege nicht haben zu können, viel besser gefällt, als wenn er sie hat oder auf eine erlaubte Weise haben kann. _Nitimur in vetitum_ etc. ist ein längst bekannter Satz. Stiehlt nun Jemand eine Sache, die er sich nach dem Zustande seines Vermögens leicht hätte kaufen können, so liegt dieser That wahrscheinlich die Erfahrung zu Grunde, dass ihm eine Sache, auf =rechtliche= Weise erworben, bei weitem =nicht= so viel Vergnügen mache, als wenn er sie auf eine unerlaubte Weise erwirbt. So psychologisch richtig nun eine solche Ansicht an und für sich ist, so wenig wird sie als ein Grund der Straflosigkeit erscheinen, wohl aber kann es geschehen, dass die fortwährende Uebung in Kleinigkeiten oder unter Verhältnissen, wodurch der Thäter straflos blieb, eine solche =Gewohnheit= in dieser Art Praxis zur Folge hatten, dass er endlich stiehlt, wie ein Anderer eine Prise Tabak nimmt, ohne etwas dabei zu denken. Tritt jedoch wirkliches =Bewusstsein= ein, und hat der Thäter gewusst, dass er stehle, entschuldigt sich aber mit unwiderstehlichem Hange, fremdes Eigenthum sich zuzueignen, so ist entweder eine wirkliche =Krankheit= vorhanden, deren =Folge= dieser Zustand der unwiderstehlichen Bestimmung ist, oder es hat doch nur an =Willen= gefehlt, dem Hange Widerstand zu leisten, und die Strafe kann um so weniger vermieden werden, als nicht zu läugnen ist, dass die Vorstellung davon geeignet ist, den Widerstand gegen die Neigung beträchtlich zu verstärken. §. 97. Nicht minder als die in den vorigen Paragraphen ausgesprochenen Motive kann die Rücksicht auf die =Schwierigkeit=, welche zu überwinden, auf die Gefahr, welche zu bestehen ist, um in den Besitz einer Sache zu gelangen, Manchen bestimmen, sich einen Diebstahl zu erlauben, und zu dieser „einladenden” Gefahr gehört auch die Vermeidung der auf das „Ertapptwerden” gesetzten Strafen. Auch der Diebstahl hat seine poetische Seite; man denke an manche Diebereien, welche sich die Kinder erlauben, und man wird diese Bemerkung richtig finden. Schon die Griechen scheinen deren Richtigkeit erkannt zu haben, weil sie den Diebstahl zu einer eigenen Gottheit erhoben. Es kann sich daher allerdings treffen, dass das Motiv, welches den Menschen zum Diebstahl treibt, nicht eigentlich der =Diebstahl=, d. h. die Zueignung der fremden Sache, sondern die =Ausführung= der Besitzergreifung ist; es ist daher allerdings der Fall denkbar, dass ein Mensch, welcher einen oder mehrere Diebstähle verübte, nur darum stahl, weil ihn die Schwierigkeiten der Ausführung dieser That ausserordentlich anzogen. §. 98. Das Verbrechen der Brandlegung kann begangen werden: _a_) aus demjenigen Motive, aus welchem sonst jedes Verbrechen entspringt, nämlich zu dem Zwecke, um dadurch einen Vortheil zu erzielen oder irgend eine Leidenschaft, z. B. Rache, zu befriedigen; _b_) aus Vergnügen, brennen zu sehen; _c_) aus dem Drange, mit leichter Mühe eine grosse Wirkung hervorzubringen. Das erste Motiv bedarf keiner besondern Erörterung, denn wenn ein solches Motiv zu Grunde liegt, das Verbrechen daher als Mittel zum Zwecke erscheint, so lässt sich von keiner besonderen =Neigung= zur =Brandlegung= mehr sprechen, sondern es lässt sich höchstens sagen, dass der Verbrecher, seiner individuellen Stimmung oder Stellung nach, dieses Mittel einem anderen =vorgezogen= habe, welcher Umstand in rechtlicher Beziehung keinen wesentlichen Unterschied begründen wird, so wenig als es einen Unterschied macht, dass ein geschickter Schütze es vorzieht, einen Menschen zu erschiessen, als ihn zu erschlagen, wenn er einmal des Vorsatzes zu tödten überwiesen ist. Dass ein Mensch einen besonderen Geschmack an einem grossartigen =Feuer= haben könne, ist ganz in der menschlichen Natur gegründet. Jede Feuersbrunst hat an und für sich etwas Erhabenes, und auch für Jedermann etwas Anziehendes. Jeder würde auch dieses Gefühl in sich wahrnehmen, wenn es nicht durch den Anblick des Unglückes der dadurch betroffenen Personen, und durch das Bewusstsein der eigenen Gefahr, seiner Person, seiner Angehörigen und des Eigenthums wieder aufgehoben würde. Diese Ansicht der Sache ist so wahr, dass ich mich darüber auf das eigene Bewusstsein jedes meiner verehrten Leser zu berufen erlaube. Es kann nun allerdings Menschen geben, bei welchen diese letzten Rücksichten so in den Hintergrund treten, und vielleicht gar nicht vorhanden sind, dass auf sie blos der Gedanke nach dem Genusse des Schauspieles, welches sie sich durch die Brandlegung verschaffen können, einwirkt. Da jedoch nicht zu läugnen ist, dass die Vorstellung des Unglücks, welches eine Feuersbrunst mit sich bringt, sich bei jedem nicht ganz geistesschwachen Menschen mit dem Gedanken daran verbindet, so folgt, dass nur Derjenige sich durch eine solche Vorstellung zur Brandlegung wird bestimmen lassen, der entweder wirklich im hohen Grade geistesschwach ist oder an einer Geisteszerrüttung, oder, was das Nämliche ist, an einer Krankheit leidet, welche =zuweilen= eine Geisteszerrüttung, d. i. einen solchen Zustand zur Folge hat, in welchem er nicht im Stande ist Vorstellungen zu produziren oder festzuhalten, welche die Wirkung der einzigen, welche lebhaft auf ihn einwirkt, hemmen könnte. -- Solche Stimmung mag durch den Zustand der Hysterie, Melancholie etc. erfolgen. Ganz etwas Aehnliches findet bei dem dritten Motive, dem Gedanken an die durch den Brand entstehende =Verwirrung= Statt, und diese Ansicht der Sache macht es erklärlich, wie ein Mensch nach gelegtem Brande nun selbst thätig löschen hilft, denn diese Mithilfe kann sehr wesentlich mit zu dem ganzen Bilde gehören, welches er sich von seiner That entworfen hat. §. 99. Die Anwendung und der Nutzen des bisher Gesagten ergibt sich sehr leicht, wenn man den Zweck jeder gerichtlich-medizinischen Erhebung betrachtet, in welcher Beziehung es in dem Falle, wo es sich darum handelt, die =Gemüthsverfassung= eines Menschen, welcher eine bestimmte That begangen hat, zum Behufe der Bestimmung über die =Zurechnungsfähigkeit= klar darzustellen, es offenbar nicht gleichgiltig ist, ob man von einer =richtigen= oder von einer unrichtigen Ansicht ausgeht. Es mag immerhin für Denjenigen, welchem etwas gestohlen oder das Haus angezündet wurde, oder dem man eine Verletzung beibrachte, sehr gleichgiltig sein, warum ihm diese Beschädigung zugefügt wurde, für den Richter, welcher den Thäter bestrafen soll, ist es sehr nothwendig, das Motiv der Handlung genau und richtig zu erfahren. Wird nun von dem Arzte erklärt, es sei die That aus einem besonderen Hange zu gewissen Verbrechen entstanden, so ist diese Erklärung eben so wenig eine genaue, als eine richtige, denn =es gibt keinen natürlichen Hang zu Verbrechen, weder überhaupt noch zu speziellen Verbrechen insbesondere=, sondern es kann nur einen Hang zu gewissen =Handlungen= geben, welche unter =gewissen Umständen auch= als Verbrechen erscheinen können, =weil= sie sich unter gewissen Umständen nicht ohne Verletzung fremder Rechte in der Art, dass sie dann ein mit einem bestimmten Namen bezeichnetes Verbrechen darstellen, ausführen lassen. Nimmt man aber diese Ansicht nicht als die richtige an, und bleibt bei jener, wo man von einem Diebssinne, von einem Hange zum Brandlegen spricht, so lauft man Gefahr, entweder Handlungen, die vollkommen zurechenbar sind, als die Folge einer natürlichen unwiderstehlichen Anlage zu erklären, z. B. in dem Falle, wo Jemand eine Idiosynkrasie für eine gewisse Sache besitzt, und sich dieselbe wo er kann zueignet, und nun aus einem anderen Motive eine ganz verschiedene Sache, z. B. eine Summe Geldes stiehlt, oder man erklärt eine Handlung für zurechenbar, d. h. nicht aus einem unwiderstehlichen Drange erfolgt, die im Grunde nach dem Verhältnisse, in welchem sich die Beschaffenheit des Gesammtorganismus eines Menschen zu einer gewissen vorherrschenden Anlage, unter gewissen gegebenen Umständen befindet, für eine freie Handlung, die es im Grunde entweder gar nicht ist, oder doch nur in sehr geringem Grade als eine selbstständige Handlung erscheint, weil man keine solche Anlage wahrnimmt, welche den Menschen als mit dem Diebssinne etc. behaftet darstellt. -- Solche Fälle kommen insbesondere bei sehr jugendlichen Verbrechern, bei hysterischen Frauenspersonen, bei Schwangeren etc. vor. Man kann und darf nicht sagen, dass die Jugend oder hysterische Frauenspersonen als solche eine besondere Anlage zum Brandlegen besitzen, denn unter tausend Jünglingen und derartigen Frauenspersonen sind gewiss neunhundert neunundneunzig, denen das Brandlegen nie eingefallen ist, es kann aber Fälle geben, wo -- insbesondere vorausgegangene -- Beispiele so auf ihre Phantasie wirken, dass sie bei dem wenig entwickelten oder überreizten Zustande ihrer Geisteskräfte sich nicht enthalten =können=, dem Triebe der =Nachahmung= zu folgen; sie ahmen hier nach, weil =der Effekt der That ihrer Phantasie imponirt= und sie sich von diesem Bilde nicht losmachen können. Es ist hier weder Pyromanie noch sonst eine wirkliche Geistesverwirrung, so wenig als bei Demjenigen, welcher gähnt, weil er einen Anderen gähnen sieht, ein besonderer Sinn für das Gähnen. Will man daher nicht zahllose Sinne für gewisse Handlungen, darunter wieder zahllose unbegründete Ausnahmen annehmen, und dadurch in zahllose Inkonsequenzen verfallen, so muss man nothwendig alle derlei willkürliche Annahmen bei Seite setzen und den Zustand eines solchen Inquisiten vom rein menschlichen Gesichtspunkte in der Art darstellen, dass genau erhelle, was er eigentlich mit seiner Handlung, die nun als Verbrechen erscheint, erreichen wollte. Wo man dieses =kann=, ist die Aufgabe der Erhebung gelös't, wenn es möglich ist, darzuthun, ob und inwiefern wirklich ein unwiderstehlicher Hang, eben dieses zu wollen, zu Grunde lag, und wo es nicht möglich ist, so tief in seine geistige Thätigkeit einzudringen, um hierüber in's Klare zu kommen, ist es vollkommen =unnütz=, diese seine Stimmung dadurch zu erklären, dass man ihr eine =Benennung= gibt, von welcher sich, wie z. B. vom Diebssinne, nachweisen lässt, dass ihr ein reeller Gemüthszustand in der Wirklichkeit =nicht= entspreche, und dadurch Verwirrung in die Rechtspflege zu bringen. _I. Daemonomania._ §. 100. Derjenige Zustand, in welchem Jemand ein überirdisches Wesen ausser sich zu sehen oder zu hören vermeint, gehört, wie jede andere fixe Idee, in das Gebiet der Pathologie, und ist daher kein Gegenstand der gerichtlichen Arzneikunde. Irrig wäre es jedoch, ein solches Vorgeben, z. B. dass ein Verbrecher behauptet, eine Gestalt gesehen oder eine Stimme gehört zu haben, welche ihn zur Begehung des Verbrechens aufforderte, geradezu für eine lügenhafte Vorspieglung oder für das Produkt einer =krankhaften= Verstimmung des geistigen Zustandes eines solchen Menschen zu erklären, da zur Erklärung dieser Erscheinung allerdings noch eine dritte Möglichkeit vorhanden ist. Man darf nämlich nicht übersehen, dass solche Vorgeben, wenn sie nicht von hysterischen Frauenzimmern oder überhaupt von solchen Personen gemacht werden, an deren normalen Geisteskräften man ohnehin zu zweifeln Ursache hat, doch nur vorzugsweise bei Mord und Brandlegung vorzukommen pflegen. Schwerlich wird noch ein Fall vorgekommen sein, dass ein Verfertiger falscher Wechsel oder ein Taschendieb solche Erscheinungen gesehen oder gehört zu haben vorgibt, oder wenn ein solches Vorgeben bei ähnlichen Verbrechen vorkommt und dasselbe nicht auf einer Lüge beruht, so ist der Grund dazu meistens in dem inneren Kampfe enthalten, den es einen sonst ehrlichen Menschen kostet, ehe er sich zur Begehung eines solchen Verbrechens entschliesst. Nun gibt es aber im Inneren des Menschen zuverlässig einen grösseren Widerstand, ehe sich der Mensch entschliesst, einen persönlichen Angriff auf seinen Nebenmenschen zu unternehmen, oder einen Brand zu verursachen, als irgend etwas zu beginnen, welches weniger den sympathetischen Gefühlen entgegen ist, als ein Mord, der weniger furchtbar auftritt, als eine Feuersbrunst. Es ist also ganz natürlich, dass, so lange ein Mensch mit dem Entschlusse, ein solches Verbrechen zu begehen, umgeht, oder wenn er zur Ausführung schreitet, und endlich gar wenn er das Verbrechen vollführt hat, sein ganzes Wesen und insbesondere seine geistige Thätigkeit in die heftigste Aufregung geräth. -- In diesem Zustande werden nun natürlich gewisse sonst im Hintergrunde seiner geistigen Thätigkeit schlummernde Bilder, wenn sie sonst mit Demjenigen, welches er beginnen will, in einigem Zusammenhange stehen, zu einer Lebendigkeit gesteigert, welche es ihm bei dem sonstigen, durch sein der sittlichen Natur widerstreitendes Beginnen verstörten Zustande unmöglich machen, sich von deren Nichtrealität zu überzeugen. Dies sind längst bekannte Dinge, und auf diese Art werden solche Erscheinungen auch gewöhnlich erklärt, die Erklärung ist auch vollkommen richtig, denn es erklärt sich dadurch auch noch manches Andere, z. B. die nicht seltene Erscheinung, dass Jemand, der eine zur Ausführung des Verbrechens dienende, mit sehr wenig körperlicher Anstrengung verbundene Verrichtung ausübt, sich dabei im Schweisse gebadet fühlt, dass es ihm in einer warmen Sommernacht kalt überläuft u. dgl. Es gibt jedoch ausser dieser psychologischen noch eine in der That der =Aeusserlichkeit= angehörige Veranlassung solcher Erscheinungen, die man bei solchen Fällen oft viel zu wenig würdigt, ich meine jene Täuschungen des Gesichtes und Gehöres, denen fast jeder Mensch unterworfen ist, welche auf einer Aehnlichkeit, welche die zufällige Zusammenstellung mancher Gegenstände mit solchen dritten Gegenständen hervorbringt, die wir bereits gesehen, gehört oder uns doch schon vorgestellt haben, beruhen. Betrachtet man z. B. eine einfache oder doppelte Reihe aufgehäufter Garben auf einem Felde in Mondbeleuchtung, so kann man gar nicht umhin, darin eine Prozession verhüllter weiblicher Gestalten, denen ein weites Gewand nachschleppt, zu erblicken; es gehört die feste Ueberzeugung dazu, dass es Garben sind, um nicht an die Wahrheit des Gesehenen zu glauben; hört man einige Personen im richtigen Takte dreschen, und es fällt uns eine Melodie bei, die in diesem Takte spielt, so hört man die Melodie selbst und kann nicht umhin, immer die Melodie fort zu hören, so lange Jene im Dreschen den Takt einhalten. Bei derlei Dingen kommt es nun vorzüglich auf die Thätigkeit der Einbildungskraft und auf die Bilder an, die darin schlummern und durch solche Zufälligkeiten aufgeweckt werden, =ob= man etwas sieht oder hört, und =was= dieses Gesehene oder Gehörte sein soll; es kann sein, dass während der Eine gar nichts sieht, der Andere bereits eine bestimmte Gestalt entdeckt hat und es gar nicht mehr =vermag=, die wahrgenommene Gestalt =nicht= mehr zu entdecken. Ein Beispiel dieser Art ist insbesondere jene Abbildung des Grabmahles eines bekannten Helden, wo innerhalb der Bäume, welche darauf stehen, dessen Schatten erscheint. Hat man diese Schattengestalt einmal herausgefunden, so ist es ganz unmöglich, den Kupferstich oder das Gemälde zu betrachten, =ohne= diese Gestalt zu sehen, und doch gibt es Leute, welche ungeachtet aller Mühe, die sich ein Anderer gibt, ihnen die Umrisse dieser Schattengestalt zu zeigen, doch nichts sehen, als ein paar Bäume und einen Strauch zwischen ihnen. Da hier dies Gemälde =absichtlich= so eingerichtet ist, dass die Schattengestalt sich ausdrückt, so kann man nicht sagen, dass Diejenigen, welche die Gestalt =sehen=, in einer Täuschung befangen sind, sondern umgekehrt, Diejenigen, welche die Gestalt =nicht= sehen, sind Diejenigen, welche sich in der Täuschung befinden, dass nichts zu sehen sei. Was nun hier durch die Kunst geschah, kann auch durch Zufall geschehen. Wer daher in einem solchen Falle eine Gestalt sieht oder einen bestimmten Ton hört, hält daher nicht etwa eine bestimmte Vorstellung für etwas Reelles, sondern er sieht oder hört =wirklich=, und sein Fehler besteht nur darin, dass er nicht noch andere Sinne zu Hilfe nahm, um sich von der Realität des Gesehenen oder Gehörten, oder von dem Umstande, dass dieses sein Sehen oder Hören nur auf der Täuschung eines einzelnen Sinnes beruhe, zu überzeugen. Sagt also ein Verbrecher, dass eine Gestalt zur Nachtzeit im Zimmer gestanden sei u. dgl., so liegt daher gar nichts =Unmögliches= darin, dass er die Gestalt wirklich =gesehen= habe, weil ihm die Gestalt, d. i. deren Umrisse durch irgend eine Reflexion der Lichtstrahlen wirklich gegeben war, und der Umstand, dass ein Anderer, der vielleicht bei ihm war, dieselbe =nicht= erblickte, beweiset ganz und gar nicht, dass der Erste diese Gestalt nicht wirklich gesehen haben könne. Da es nun um so leichter ist, solche Gestalten zu erblicken, je aufgeregter die Phantasie ist, und da ferner gerade der Gedanke an die Ausführung gewisser Verbrechen eine starke Aufregung der Phantasie mit sich bringt, so sind derlei Visionen zuverlässig eine ganz natürliche, ohne Krankheit des Geistes mögliche, subjektiv =richtige Thatsache=. Von dieser Seite betrachtet erklärt sich Manches vollkommen, wozu man ohne Berücksichtigung dieser Thatsache vergebens den Schlüssel sucht, insbesondere manche Geistererscheinung. Folgender Fall gehört offenbar in die Klasse dieser Thatsachen. Der Sohn eines Bauers hatte seinen Vater ermordet, um sich einen Beutel mit Geld zuzueignen, den dieser in seiner Truhe hatte. Er wurde alsbald nach verübter That ergriffen, und gestand sein Verbrechen mit allen Nebenumständen; obwohl jedoch nicht die geringste Spur einer Geisteszerrüttung an ihm wahrzunehmen war, so gab er doch in Bezug des Geldbeutels an, dieser sei, als er die Truhe öffnete und darnach greifen wollte, davongelaufen und dann verschwunden, und bei dieser Behauptung blieb er, ungeachtet aller gemachten Gegenvorstellungen. Sollte hier nicht etwas Aehnliches eingetreten sein? Der Beutel konnte nun wohl nicht davonlaufen, allein es konnte der Fall sein, dass nicht der Beutel, wohl aber eine Ratte oder eine Maus in der Truhe war, die er in seiner Aufregung bei dem ersten Blicke, den er auf die Truhe machte, für den Beutel hielt, und die davon lief, als die Truhe geöffnet wurde; seine Angabe, dass der Beutel davonlief, war dann subjektiv richtig. Schwerer, als solche Irrthümer durch den =Gesichtssinn=, sind indess dergleichen Irrthümer durch den =Gehörssinn= möglich, obgleich es leichter ist, durch das Gehör als durch das Gesicht =getäuscht= zu werden. Der Gesichtssinn ist nämlich immerwährend =thätig=, man sieht niemals =nichts=, sondern nur ein Blinder =sieht nicht=. Wenn man die Augen zumacht oder in einem Gemache ist, wo kein Licht brennt und keine Fenster sind, so sieht man die Finsterniss, man sieht =schwarz=. Hört man aber =nichts=, so hört man auch nicht, und zwar so lange nicht, als nicht das Trommelfell durch einen Schall affizirt wird; man hört etwas, es ist aber möglich, dass man nicht unterscheide, mit welcher Art von Tönen das Gehörte Aehnlichkeit habe, oder dass man durch die Aehnlichkeit der Töne verleitet wird zu glauben, eine gewisse Art Schall gehört zu haben. -- Dieser Mangel an Unterscheidung kann jedoch nur so weit reichen, als der durch den Schall hervorgebrachte Ton selbst =unbestimmt= auf das Ohr wirkt, und kann daher nur von einem ebenfalls unbestimmten Tone nicht scharf unterschieden werden, man kann z. B. im Zweifel sein, ob dasjenige, was man hört, der Ton einer Trommel oder das Rauschen eines Wassers, der Pfiff eines Windes oder der Ruf einer Stimme sei, schwerlich aber ist eine solche Verwechslung eines Klanges mit einzelnen gesprochenen =Worten= möglich. Wenn also Jemand z. B. behauptet, im Gesange eines Vogels gewisse =Worte= gehört zu haben, so lässt sich diese Erscheinung wohl nur durch einen sehr hohen Grad =wahrscheinlich krankhafter= Aufregung der Einbildungskraft erklären, wenn der Vogel, welcher Worte gesprochen haben soll, nicht etwa ein Guckguck, welcher nichts Anderes als seinen Namen rief, oder ein abgerichteter Papagei gewesen ist. Man kann in Gegenständen, welche klingen, mit einer nicht krankhaften Einbildungskraft wohl =musikalische= Töne, auch wohl Melodien, nicht aber Worte =wirklich= hören, denn wenn _Schiller_ sagt: „Da lebte mir der Baum, die Rose, Da =sang= der Quelle Silberfall,” so glauben wir gerne seinen Worten; wäre es möglich gewesen, dass der Dichter gesagt hätte: da =sprach= die Quelle, oder gar, =was= sie gesprochen, so würde man das Gedicht wahrscheinlich nicht weiter lesen, denn Niemand würde es ihm glauben. Hieraus folgt, dass in dem Falle, als ein Beschuldigter behauptet, irgend eine ausserordentliche Erscheinung =gesehen= zu haben, und wenn sonst keine Spuren einer Geisteszerrüttung an ihm wahrzunehmen sind, die Wahrscheinlichkeit für eine wirkliche, durch eine zufällige Aehnlichkeit hervorgebrachte Wahrnehmung, dagegen bei gehörten =Worten= die Wahrscheinlichkeit für eine verstörte =Einbildungskraft= einträte, und zwar in dem Grade mehr für eine =krankhafte= Störung, als der Beschuldigte die Worte =bestimmt= gehört zu haben behauptet, und nicht etwa selbst im Zweifel ist, ob er sie auch wirklich =gehört= habe. Es ist indess nicht unmöglich, dass Jemand etwas, welches ihm im Augenblicke des Sehens oder Hörens eine auffallende Aehnlichkeit mit irgend einem bereits Gesehenen oder Gehörten darbot, in =diesem Augenblicke= nicht wirklich für etwas Reelles hält, später aber durch seine Einbildungskraft verleitet wird, zu glauben, dass dasjenige, welches ihm im Augenblicke des Sehens oder Hörens nicht als etwas Wirkliches vorkam, doch etwas Wirkliches gewesen sei. Gibt es doch Leute, die, wenn sie irgend eine Begebenheit mit einer Menge Uebertreibungen einige Mal erzählt haben, am Ende selbst glauben, es sei dabei wirklich gerade so zugegangen, wie sie die Begebenheit Anderen zum Besten geben. Ich selbst hörte einmal mit grösstem Vergnügen der Erzählung eines alten Soldaten zu, der behauptete, er sei einmal schon todt gewesen. Das Wahre an der Sache schien zu sein, dass er nach einer erhaltenen Wunde in der Schlacht sich todt stellte und wahrscheinlich einige Zeit lang das Bewusstsein verloren hatte. Derlei Spiele der Einbildungskraft sind nun aber ebenfalls nicht selten, und es können dadurch, besonders wenn Derjenige, welcher sie vorbringt, abergläubisch oder sonst auf einer geringen Stufe der Bildung befindlich ist, manchmal von ihm Dinge, als von ihm wirklich erlebt, behauptet werden, welche, wie man glauben sollte, nur einem Tollhäusler beifallen können, ohne dass derselbe deswegen wirklich an einer Geisteszerrüttung leidet. Es folgt daher, dass, wenn derlei Erscheinungen von Beschuldigten behauptet werden, deren Nichtrealität jedem Vernünftigen klar ist, man =deswegen allein= noch nicht Ursache hat, eine Geisteszerrüttung vorauszusetzen, sondern dass man vielmehr trachten muss, diejenigen Verhältnisse, welche derlei Angaben bei dem Beschuldigten zur subjektiven Wahrheit machten, zu erheben, und so viel als möglich richtigzustellen, welches einerseits dadurch geschehen kann, dass man die Lokalumstände, unter welchen derlei Erscheinungen Statt gehabt sollen, sorgfältig untersucht, andererseits aber den sonstigen Charakter eines solchen Individuums, z. B. ob er sonst in seinen Angaben von der Wahrheit abzuweichen pflegt, ob er abergläubisch und in welcher Art abergläubisch ist, oder ob er sich einer besonderen Leichtgläubigkeit hingibt u. dgl., durch Vernehmungen von Zeugen u. s. w. darzulegen sich bestrebt. _K. Verstellter Wahnsinn._ §. 101. Der verstellte Wahnsinn ist eben so wenig ein =Wahnsinn=, als eine =verstellte= Krankheit ein besonderer =pathologischer= Zustand ist, sondern diese Verstellung ist eine aus freiem Willen hervorgebrachte =That=, so gut als das Spielen einer Rolle auf dem Theater. Ob nun ein Zustand, welcher im Aeusseren die Thätigkeiten des Wahnsinnes nachahmt, ein =wahrer= oder ein =verstellter= sei, wird im Wesentlichen nach pathologischen Grundsätzen beurtheilt werden müssen, nämlich ob sich derjenige Komplex von Erscheinungen darbiete, welcher nach pathologischen Erfahrungen immer =vereinigt= angetroffen wird; ausserdem muss ein solcher Zustand auch nach denjenigen Grundsätzen beobachtet werden, welche sich aus der =Natur der Sache= ergeben, um überhaupt eine Verstellung zu =entdecken=. Die =erste= Rücksicht, welche man daher bei Erhebung eines solchen Zustandes zu nehmen hat, wird daher wohl immer darin liegen, ob =alle= Erscheinungen vorhanden sind, welche die =Pathologie= als einen solchen abnormen Zustand begleitend entdeckt hat, ergibt sich aber dann noch ein =Zweifel=, oder lässt sich die Möglichkeit denken, dass der Zustand, welchen der vorgebliche Patient äussert, ihm zu einem bestimmten Zwecke dienen könne, so muss nachgeforscht werden, ob der Zustand schon =früher= vorhanden war, als er den in Frage stehenden Zweck anzustreben begann, oder nicht. Ist =Letzteres= der Fall, so entsteht jedenfalls der Verdacht einer absichtlichen =Täuschung=, welche Voraussetzung auch dann viele Wahrscheinlichkeit erhält, wenn der Zustand selbst ihm irgend einen =Vortheil=, z. B. die Erhaltung einer Versorgung, zu gewähren verspricht. Je mehr nun von dieser Art Gründe eintreten, um eine =Verstellung= für wahrscheinlich zu halten, um so genauer muss die pathologische Beobachtung sich gestalten, es erhalten aber überhaupt alle diejenigen Personen, welche die Umgebung eines solchen in gerichtlicher Untersuchung befindlichen Menschen bilden, die Aufgabe, ihre Beobachtung dahin zu richten, jeder Verstellung auf die Spur zu kommen, wozu folgende Rücksichten nicht unerheblich sein dürften. Jede Krankheit, wohin auch der Wahnsinn gehört, ist ein Originalzustand, d. h. der Mensch braucht, um die verschiedenen Aeusserungen und Symptome der Krankheit darzustellen, nicht etwa ein besonderes Nachdenken oder einen besonderen Entschluss, sondern alles dieses lernt sich ohne alle Bemühung von selbst; dagegen ist jede Verstellung eine =Nachahmung=, welche, wie alle Nachahmungen, entweder hinter dem Originale zurückbleibt, oder gewisse Seiten des Originals verzerrt. -- Wer übrigens nicht ein vollendeter Künstler ist, wird mehr oder weniger in einem solchen Falle ein =bestimmtes= Original =kopiren=. Hat man daher den Fall eines wahrscheinlich verstellten Wahnsinnes, so forsche man nach, ob das Individuum, bei dem man die Verstellung vermuthet, nicht etwa in der Lage war, ein ähnliches Original beobachtet zu haben. Findet man diesen Umstand bestätigt, so suche man sich nähere Notizen über das fragliche Original zu verschaffen, und bringe den Ersteren dann in Lagen, zu denen ihm sein Original nicht gesessen ist. Sehr möglicher Weise wird er aus der Rolle fallen. -- Solche Originale können übrigens sowohl wirklich lebende Personen, als solche sein, welche aus Büchern entnommen sind, man frage daher bei gewissen Personen sein Gedächtniss, ob man nicht etwas Aehnliches irgendwo gelesen habe. Verstellung ist wie jede der Individualität nicht angemessene Thätigkeit etwas =Lästiges= für den Menschen, ein unbequem anliegendes Kleid, das man auszieht, wenn man schlafen geht. Man beobachte daher ein solches Individuum vorzüglich zu der Zeit, wo er sich unbemerkt glaubt, ob er nicht eine Blösse gibt. Wer Wahnsinn oder eine andere Krankheit simulirt, hat gewöhnlich einen für ihn wichtigen =Zweck=. Je wichtiger dem Menschen eine Sache ist, um so mehr vernachlässigt er =Kleinigkeiten=, die mit der Sache, um die es sich handelt, nichts zu schaffen haben. Man beobachte daher Kleinigkeiten, in denen sich seine Thätigkeit ausspricht[50]. Wenn man in dieser Art seine Beobachtungen fortzusetzen nicht ermüdet, wird man selten seinen Zweck verfehlen und nicht nöthig haben, seine Zuflucht zur Anwendung von schmerzhaften Mitteln zu nehmen, die zur Richtigstellung des =Verdachtes= nie gebilligt werden können[51]. [50] Ich erinnere mich gehört zu haben, dass man bei einem jungen Manne, der sich -- ich glaube als Spion zur Zeit der Kriegsjahre -- als Frauenzimmer angezogen hatte und seine Rolle recht gut spielte, dadurch Veranlassung fand, sein Geschlecht in Zweifel zu ziehen, weil er, als er einmal sich mit dem Stuhle, auf dem er sass, einem Tische nahen wollte, =zwischen den Schenkeln= nach dem Sessel griff, anstatt die bei solchen Gelegenheiten bei Frauenzimmern ihren Kleidern angemessene Bewegung, den Stuhl mit dem =Fusse= zu rücken, zu machen. [51] Ein Mann, welcher schon Monate lang zu schlafen schien, wurde dadurch des Betruges überwiesen, dass der Arzt, welcher ihn besichtigte, sich gegen seine Zuhörer über die Sonderbarkeit des Falles und insbesondere darüber aussprach, dass die Wirklichkeit des Schlafes ganz zweifellos sei. Er schilderte dabei die einzelnen Symptome, welche die Wirklichkeit ausser Zweifel setzen, zeigte sie am Körper des Schlafenden, und als er damit bis zu dem Gesichte gekommen war, sprach er zu dem Schlafenden: „Zeige die Zunge,” und -- er zeigte sie wirklich. Eben so verdient der Umstand Berücksichtigung, dass der sich Verstellende seine Verstellungskunst nicht selten gegenüber von Personen zu üben unterlässt, welchen er nicht Scharfsinn oder Interesse genug zutraut, ihn zu beobachten. Man unterlasse daher nicht, solche Personen, wozu insbesondere =Kinder= gehören, wo es nöthig ist, zu seiner Beobachtung zu benützen. Schlussbemerkung. §. 102. Obwohl ich nicht im Mindesten zweifle, dass sich über einzelne Gemüthszustände noch Vieles und Nützliches sagen lasse, so dürfte doch das bisher Gesagte genügen, um anzudeuten, worauf es bei der Erhebung gewisser Gemüthszustände in rechtlicher Beziehung eigentlich ankomme. Eine vollständige Exemplifikation zu liefern, in welcher zugleich eine vollkommene praktische Anweisung enthalten wäre, wie in einzelnen Fällen diese Aufgabe zu lösen ist, überschreitet die Grenzen dieses Werkes um so mehr, als hierzu die Anwendung medizinischer Kenntnisse nöthig wäre, die ich nicht besitze; ich kann mir daher nur die Bemerkung erlauben, dass in vorkommenden Fällen, wo sich ergibt, dass mehrere solcher von mir geschilderter Gemüthszustände thätig waren, auch alle diejenigen Grundsätze, welche ich in Bezug auf die einzelnen derartigen Gemüthsstimmungen schilderte, Anwendung finden werden. Mein Zweck, den ich bei diesen Erörterungen verfolgte, war, wie es sich von einem Autor voraussetzen lässt, welcher für einen solchen Leserkreis sich zu schreiben berufen fühlt, wie von jenen, für welchen dieses Werk bestimmt ist, nicht, eigenes Nachdenken überflüssig zu machen, sondern im Gegenteile dieses zu veranlassen und höchstens zuweilen die Bahn zu bezeichnen, auf welcher die eigene Forschung ihr Ziel verfolgen muss, um nicht auf Abwege zu gerathen. Mehr also, um dem Leser die Beruhigung zu geben, dass der von mir angedeutete Weg wirklich zu dem richtigen Ziele führe, als in dem Bestreben, dadurch dem Leser ein Muster zu geben, wie er sich in praktischen Fällen zu benehmen habe, erlaubte ich mir die drei nachfolgenden, durchaus wirklichen Kriminalakten entnommenen Fälle mitzutheilen. Der erste Fall mit dem wahnsinnigen Brandstifter _Joseph G._ ist in mancher Beziehung auf eine ungenügende Weise erhoben. Ich erlaubte mir die Fehler zu rügen und die Gründe beizusetzen, warum und worin gefehlt wurde, und wie ähnliche Missgriffe zu vermeiden sind. -- Der zweite Fall, unstreitig von Seite des Untersuchungsrichters ohne Tadel geführt, lässt von Seite der ärztlichen Begutachtung viel zu wünschen übrig; ich bestrebte mich, zu zeigen, wie es, wenigstens nach meiner geringen Einsicht, hätte besser gemacht werden können. Der dritte Fall, mit _Matthäus Grotz_, ist von Seite des Richters sowohl als von Seite des Arztes mit solcher Umsicht und solcher Sachkenntniss behandelt, dass er in der That als Muster zur Nachahmung empfohlen zu werden verdient. Der vierte Fall gehört der neuesten Zeit an. V. Kriminalfälle mit Erhebung des Irrsinnes. A. Der wahnsinnige Brandstifter Joseph G.[52]. [52] Aus dem Werke: „Merkwürdige Kriminalfälle,” von Dr. _Pfister_, Stadtdirektor in Heidelberg. Am 27. Jänner 1810 machte der Ortsseelsorger im O--thale dem grundherrlich von G.'schen Amte zu G. folgende Anzeige: „_Joseph G._ ist mir längst als ein bösartiger und gefährlicher Narr bekannt, ich brachte ihn nun durch Zureden und kleine Geschenke dahin, ihn geschwätzig zu machen, und da vertraute er mir, dass er 1. seiner Mutter eigenes Haus durch in Lumpen gewickeltes Feuer angezündet habe. Eben so wurde 2. das Berghaus des Nachbarn _Lorenz S._, in welchem seine Mutter nachher mit den Kindern aus Barmherzigkeit aufgenommen wurde, von ihm angezündet; 3. seien es noch nicht vier Wochen, so hat er wieder im Sinne gehabt, einen oder zwei Bauernhöfe anzuzünden, welches ihn aber jetzt reue, so dass er versichere, es nie thun zu wollen. Da jedoch der Versicherung des _Joseph G._ bei seinem Geisteszustände nicht zu trauen sei, so werde, =um Unglück zu verhüten=, das Amt hiervon in Kenntniss gesetzt.” _G._ wurde nun am 29. Jänner zu Verhaft gebracht. Es ergab sich, dass wirklich das Haus der Mutter des _Joseph G._ im Jänner 1803, und ungefähr vier Wochen darauf das Berghaus des _Lorenz S._ (am 19. Februar 1803) abgebrannt sei. -- Beide Brände hatten sich daher schon vor sieben Jahren ereignet. _Joseph G._ wurde übrigens als dasjenige Individuum erkannt, welches das Amt X. bereits in das Irrenhaus unterzubringen versucht habe. _Joseph G._ wurde nun verhört, da jedoch seine Aussagen nur summarisch eingetragen wurden, so genügt die Anschauung des wesentlichen Inhaltes desselben, welcher in Folgendem bestand: _Joseph_, seinen Zunamen wusste er nicht anzugeben, Sohn des Webers _Michael_, welcher ein vagabundirendes Leben führt, und dessen Eheweibes _Johanna_, lebt in dürftigen Umständen. In der Schule hat er nichts gelernt. Er hat an ein paar Orten gedient, war aber wieder fortgerannt, er sei ledig, habe, wenn es sein konnte, gebettelt. Er habe Niemanden etwas gestohlen. Zu A. habe er sich in den Bach gelegt, um sich zu ersäufen, die Bauern haben ihn wieder herausgethan. Einmal hat er sich in dem Hause des _H._ im J--thale gehängt, ein altes Weib hat ihn wieder losgemacht, zwei Knechte haben ihm gesagt, dass er sich hängen soll. Als er einmal in Z. aus der Kirche kam, hat er sich wieder gehängt, die Leute haben ihn herabgenommen. Das Leben sei ihm ganz verleidet gewesen, weil sein Bruder, der Weber _Hanns_, so mit seiner Mutter und ihm umgeht und sie schlägt. Ueber die Feuersbrünste äusserte er sich in einem späteren Verhöre, dass er den ersten Brand um die Mittagszeit angelegt habe, nachdem sich sein ältester Bruder _Johann_ entfernt hatte; den Brand habe er mit brennenden Kohlen gelegt, die er unter einem Hafen in der Küche hervorgenommen und in einen Lumpen gewickelt, welchen er schon am Morgen zu diesem Zwecke zu sich gesteckt, in das neben dem Hause befindliche Stroh warf. Dieses fing sogleich an zu brennen. Seine Mutter ergriff die Flucht, er aber blieb, ungeachtet ihres Zurufes, zurück; er hatte, wie er sagte, eben Lust zu verbrennen, da ihm aber seine Mutter zurief, so fiel ihn die Reue an, er änderte deshalb seinen Entschluss und sprang aus dem Hause fort. Er half seiner Mutter jedoch nicht, als sie ein Schwein aus dem Stalle rettete, da er, nach seiner Angabe, zu erschrocken war, weil er das Haus angezündet hatte. =Frage=: Warum er das Haus angezündet habe. =Antwort=: Ich zündete es aus dem Grunde an, damit mein ältester Bruder das Haus nicht bekomme, da dieser mich und die Mutter misshandelt hatte. =Frage=: Ob er nicht bedacht habe, dass er durch das Anzünden des Hauses seine Mutter selbst unglücklich mache. =Antwort=: Es fiel mir freilich bei, aber der Zorn gegen meinen Bruder wegen den von ihm erlittenen Misshandlungen =überwog= den Gedanken. =Frage=: Ob er nicht bedachte, dass er sich durch das Anzünden, dadurch dass seine in der Kiste der Mutter verwahrten Kleider auch mit verbrannten, =selbst= schade. =Antwort=: Dieses fiel mir zwar auch ein, aber ich that es doch, wie schon gesagt, in =Hinsicht= meines Bruders. =Joseph G.= war indess wegen Mangel an Gefängnissen (freilich ein etwas sonderbarer Mangel bei einem Kriminalgerichte) einem Bürger in Verwahrung gegeben worden. -- Am 26. Februar wurde das Verhör wegen des Brandes im Berghäuschen gehalten. -- Seine Angabe bestand in Folgendem: „Ich legte im Berghause zweimal Feuer an. Es war schon finstere Nacht, als ich allein in der Küche war und auf Geheiss meiner Mutter Suppe kochen musste. Bei dieser Gelegenheit fiel mir mein Bruder, der _Johann_, ein, und ich dachte: „Wart', Bruder, nun will ich das Berghaus anzünden, damit du nicht mehr =hinein= und mich =d'rin= schlagen kannst.” Aus Zorn gegen meinen Bruder _Johann_ steckte ich in der Stube kurz vorher einen Lumpen, ohne dass es meine Mutter bemerkte, in den Hosensack, und in der Küche ergriff ich in aller Eile aus dem Ofen, worin ich die Suppe kochte, eine feurige Kohle; wickelte sie in den Lumpen und warf sie augenblicklich durch den Rauchfang, welcher nur sechs Schuh vom Boden der Küche entfernt war, auf das Dach. Diese Kohle zündete aber das Haus nicht an, weil sie nur neben demselben auf die blosse Erde fiel. Der Bruder _Christian_ hatte die Kohle hinabfallen gesehen, und auf seinen Ruf lief ich auch hinaus und half ihm die Kohle auslöschen. -- Am anderen Tage, als ich allein zu Hause war, nahm ich wieder eine Kohle aus dem Ofen und steckte sie, in einen Lumpen gewickelt, in das Strohdach. -- Um keinen Verdacht zu erregen, sprach ich mit meinem Bruder _Mathes_ gleichgiltige Sachen; als ich aus der Nebenkammer das Feuer aufgehen sah, rief ich dem _Mathes_ zu: „Komm, Mathes, es brennt.” -- Ich half nun dem _Mathes_ beim Heraustragen der Kleider, weil es mich reute, dass ich das Berghaus angezündet hatte. Indessen kamen Leute herbei -- die Hilfe war jedoch vergebens.” So weit die Erzählung des _Joseph G._ über seine Thaten, mit welcher die Erhebungen des Gerichtes über den Statt gefundenen Vorgang ziemlich übereinstimmten. Am 20. März 1810 fand noch ein Verhör Statt, aus welchem wir folgende Fragen und Antworten herausheben: =Frage=: Warum er diese Brandstiftung so lange verschwiegen habe. =Antwort=: Weil ich fürchtete, in's Zuchthaus zu kommen. =Frage=: Er habe angegeben, dass ihn der erste Brand sehr gereut habe, warum er gleich darauf den zweiten gestiftet habe. =Antwort=: Mein Bruder _Johann_ hat mich eben in diesem Berghause geschlagen, und darum nahm ich es mir aus Zorn gegen denselben vor, damit er nicht mehr dahinkomme[53]. [53] Die ganz natürliche Frage: „Dein Bruder konnte dich ja auch anderswo schlagen!” wurde nicht gestellt. =Frage=: Ob er nicht gewusst habe, dass die Brandstiftung ein schweres Verbrechen ist. =Antwort=: Ja. =Frage=: Warum er es doch begangen. =Antwort=: Hätte mein Bruder mich nicht geschlagen, die beiden Häuser stünden noch. =Frage=: In welcher Gemüthsstimmung er gewesen sei, als er sich habe erhängen wollen. =Antwort=: Ich war damals nicht bei Sinnen und wusste nicht, was ich that. Als ich hingegen das Haus meiner Mutter und das Berghaus anzündete, war ich meiner Handlungen wohl bewusst[54]. [54] Schwerlich wurde die Antwort =so= gegeben. Ueberhaupt ist es gefehlt, einen etwas blödsinnigen Menschen so geradezu um seine Gemüthsstimmung zu fragen. Er versteht die Frage nicht. =Frage=: Warum er sich schon zu wiederholten Malen habe umbringen wollen. =Antwort=: Das Leben ist mir eben verleidet, wenn ich mit meinem bösen Zustande befallen werde, und ich komme dann gewöhnlich ganz von Sinnen. =Frage=: Was er zu seiner Entschuldigung und Rechtfertigung anzugeben habe. =Antwort=: Ich weiss nichts anzugeben, als dass mich mein Bruder _Johann_ durch seine Misshandlungen zum Zorne gereizt hat. Am 22. März registrirte das Kriminalgericht ein Attestat des Physikus zu den Akten, worin gesagt wird, dass Inquisit sowohl in physischer Hinsicht ohne Gebrechen und Krankheit sei, als auch in einem dreiviertelstündigen Tentamen[55] seine inneren Sinne unverletzt[56] und dermal ohne Fehler gefunden worden seien[57]. -- Hierauf wurde der Akt dem Obergerichte zur Urtheilsschöpfung vorgelegt[58]. [55] Auf die Dauer des Tentamens kam es nicht an, sondern auf seinen Inhalt. [56] Ein sonderbarer Ausdruck. [57] Der verehrte Leser wolle gefälligst den §. 82 des über den Irrsinn handelnden Aufsatzes nachlesen. [58] Die Untersuchung hatte vor keinem österreichischen Gerichte Statt gefunden; wäre es der Fall gewesen, so hätte die Urtheilsschöpfung von dem Kriminalgerichte erster Instanz Statt finden müssen, und wäre dann erst das Urtheil dem Obergerichte vorzulegen gewesen. (Siehe mein „Handbuch der gerichtsarzneilichen Wissenschaft” §. 12.) Am 14. September 1810 erstattete der dortige Referent seinen Vortrag, und stellte sich zur Ausmittlung der Zurechenbarkeit des Inquisiten und Bemessung der Strafe folgende Fragen: _a_) Ist Inquisit wahnsinnig? _b_) Ist er es anhaltend oder nur zeitlich? _c_) War er es, als er die erwähnten Brände theils veranlasste, theils versuchte[59]? [59] Nur dieser Punkt konnte für die Zurechnung der That entscheiden, die anderen beiden Punkte sind nur Vorfragen, deren Beantwortung zu jener dieses letzten Punktes führen =konnte=, aber dazu nicht absolut nothwendig war, da, wenn der Wahnsinn zur Zeit der That konstatirt ist, sein sonstiger Wahnsinn von keinem wesentlichen Einflusse mehr ist. Ueber alle diese Punkte wäre aber ein =ärztliches= Gutachten nothwendig gewesen. _d_) In welcher Geisteslage hat er seine Geständnisse abgelegt? _Ad a_) und _b_) deponirt die Mutter des Inquisiten hierüber Folgendes: Ja, es ist wahr, zu Zeiten ist er ganz von Sinnen, und besonders wenn der Frühling anrückt; zu Zeiten ist er ganz bei Sinnen, wie jeder andere gesunde Mensch; und dieser mein Sohn war schon von Kindheit an mit dieser Krankheit behaftet, und je älter er wurde, um so mehr hat sie zugenommen. Eben so sagt _Johann G._, Bruder des Inquisiten: Er ist mit dieser Krankheit bereits von Jugend auf behaftet, er wird aber nur zu Zeiten damit befallen, wo er sich dann bald erstechen, bald erhängen will[60], und zu anderen Zeiten ist er wieder ganz bei sich, spricht sodann ganz vernünftig und führt sich ordentlich auf. [60] Er hatte auch gesagt, dass er eben Lust hatte, zu =verbrennen=, man hätte daher fragen sollen, ob er nicht auch dieses Gelüste geäussert habe, überhaupt aber hätte der Zeuge aufgefordert werden sollen, die Thatsache, auf welche sich seine Angabe stützt, umständlich zu erzählen. Eben so sagt der zweite Bruder des Inquisiten: Er selbst sagt: Das Leben ist mir halt verleidet, wenn ich mit meinem bösen Zustande behaftet werde, und ich komme gewöhnlich bei demselben =ganz von Sinnen=. Und dann wieder: Ich that solches (d. i. ich wollte mich erhängen oder ersäufen), wann ich mit dieser Krankheit behaftet wurde. Hieraus ergibt sich nun nach der Ansicht des Referenten, dass eine chronische Geistesabwesenheit, ein Wahnsinn, eine Verrücktheit des Inquisiten nicht zweifelhaft sei[61]. [61] Viel zu viel geschlossen für einen Justizreferenten. Es folgt aus diesen Daten nichts weiter, als dass bei _Joseph G._ sich Erscheinungen zeigen, welche, um ihre Bedeutung richtig zu stellen, der Prüfung ärztlicher Personen bedürfen, welche also vor Allem einzuleiten komme. _Ad c_) Ungeachtet dieses Umstandes kann es jedoch (nach Ansicht des Referenten) nicht zweifelhaft sein, dass er die Brände =frei= von einem solchen Zustande nicht nur verübt und versucht, sondern auch einbekannt habe. Weder die Mutter noch die Brüder des Inquisiten wollen Spuren des Wahnsinnes bei ihm entdeckt haben, als die Brände Statt hatten[62], und er, der seinen gesunden von seinem kranken Zustande wohl zu unterscheiden weiss (?), gesteht, dass er jede dieser Brandlegungen mit Wissen und Willen, ohne von seinem sonstigen Paroxismus etwas zu spüren, verübt habe. Er gibt sogar das Motiv seiner That -- Hass gegen seinen Bruder -- an[63]. [62] Was würden wohl die Bemerkungen der Mutter und Brüder, wenn sie für das Gegentheil, nämlich die Verrücktheit, gelautet hätten, bewiesen haben? Offenbar nichts. Nun wird gar der Umstand, dass sie =nichts= bemerken, ungeachtet der früheren Annahme einer Geistesverwirrung (ob sie chronisch sei, konnte doch wohl der Referent nicht entscheiden), als ein Beweis für die =Geistesfreiheit= angenommen. [63] Dass der Inquisit ein Motiv hatte, beweiset wohl nichts gegen den Wahnsinn. Auch der Wahnsinnige handelt nach Motiven. Es sind wahnsinnige Motive, aber es sind Motive. Die Art selbst, wie er seine Entschlüsse ausgeführt, enthält die deutlichsten Beweise von Ueberlegung und Vorsatz[64] mit Beseitigung alles dessen, was den Verdacht auf ihn leiten konnte. [64] Ueberlegung und Vorsatz finden auch bei Wahnsinnigen Statt, wenn es sich um Ausführung ihrer wahnsinnigen Ideen handelt, denn sie gehen dabei nicht selten mit einer Konsequenz und einer Verschmitztheit zu Werke, deren sich ein Vernünftiger nicht schämen dürfte. _Ad d_) Inquisit hat ferner die vollkommene Erinnerung alles dessen, was er gethan. Wahnsinn hat aber keine Erinnerung[65]. Auch entwickelte er, nach dem Zeugnisse des Untersuchungsrichters, bei Ablegung des Geständnisses nicht die mindeste Geisteszerrüttung. [65] Wieder eine Behauptung, die dem Justizreferenten auszusprechen nicht zukam, die aber auch nicht einmal wahr ist. =Das Zeugniss des Amtsphysikus setzt den sowohl physisch als psychologisch gesunden Zustand des Inquisiten vollends ausser allen Zweifel[66].= [66] Wir erinnern noch einmal an den §. 82, der in der früheren Anmerkung erwähnt ist. Der Inquisit sei also für zurechnungsfähig, und in Betreff des Geständnisses für geistesfrei zu halten, und daher nur insofern einer Strafmilderung würdig, als er bei Verübung der Verbrechen kaum das fünfzehnte Jahr überschritten hatte. Die Selbstmordversuche seien zu umgehen, eben so wie die geäusserten Vorsätze, die Höfe des Schultheissen in M. anzuzünden, weil die Ersteren nur polizeilich, die Letzteren aber gar nicht strafbar seien, da keine äussere entsprechende Thätigkeit sie begleitete. Der Referent trug auf dreissigjährige Zuchthausstrafe mit Willkomm' und Abschied (d. i. Prügel und Schläge) an. Das Kollegium konformirte sich jedoch mit dem Antrage des Referenten =nicht=, sondern verordnete: 1. Die Lebensweise des Inquisiten von seiner frühesten Jugend bis zu seiner Verhaftung durch glaubwürdige Zeugen zu Protokoll zu bringen[67]. [67] Noch zweckmässiger wäre es gewesen, zugleich die Mittheilung des Aktes an eine Sanitätsperson und von dieser die Abgabe eines Gutachtens über den wahrscheinlichen Geisteszustand des _Joseph G._ zur Zeit der verübten Brandlegungen auf Grundlage der Aktenergebnisse und eigener Untersuchung des Inquisiten, zu verlangen. 2. Die Selbstmordversuche näher zu erheben. Dies geschah nun. _Ad._ 1. Erklärten die Vorgesetzten von _G._, dass _Joseph G._ gewöhnlich alle Monate einmal vom Wahnsinne befallen worden, und dieser habe dann immer einige Tage über angehalten. In diesem Zustande sei er auf Bergen und in Wäldern herumgelaufen und habe wie ein Vieh gebrüllt. Mitunter habe er sich in seinem Wahnsinne auch geäussert, dass er sich hängen wolle, den Teufel gerufen, dass er ihn holen solle, und Gott gelästert, dass er ihn nicht sterben lasse. Im gesunden Zustande habe er wenig gegessen und sei arbeitsam und ordentlich gewesen. Am stärksten habe ihn der Wahnsinn im Frühling und Herbste befallen. Die nächsten Nachbarn erklärten Aehnliches. Der =Schulmeister= gab an: Der _Joseph G._ war sehr unfleissig und lernte kaum die Buchstaben kennen. So lange er die Schule besuchte, war er meines Wissens nicht krank, aber ein einfältiger Bursche und boshaft gegen die übrigen Schulkinder. Einen Wahnsinn bemerkte ich an ihm nicht. Vor ungefähr drei Jahren kam er einmal zu mir und trug einen Strick und Brodsack bei sich; ich fragte ihn, was er mit dem Stricke wolle, worauf er sagte, ich will mich hängen, weil mich Gott nicht sterben lassen will, wenn mich nur der Teufel holte. Der _Joseph G._ ist ein wahrer Schalksnarr[68], setzte der Schulmeister bei. [68] Die Belege zu dieser Behauptung finden sich später vor. Die Mutter des _G._ fügte zu ihren früher erwähnten Angaben noch bei, sie vermuthe, dass er die Krankheit mit auf die Welt gebracht habe, denn als sie mit ihm schwanger ging, war sie wegen der gräulichen Schulden ihres Mannes sehr melancholisch, und hatte noch besonders vielen Kummer und Verdruss darüber, dass ihr Mann öfters äusserte, er wolle sich hängen. Der Pfarrer aus G. sagte, _Joseph G._ habe sich in der Schule sehr halsstärrig und boshaft gezeigt, so dass weder Ermahnungen noch Schläge bei ihm gefruchtet haben. Er habe durchaus keine Empfänglichkeit für den Unterricht gezeigt. So lange er denselben kenne, sei er wahnsinnig gewesen und habe vorzugsweise die Neigung blicken lassen, Anderen zu schaden, wogegen weder Drohung noch Strafe gefruchtet hätten, er könne sich jedoch einzelner Handlungen der Art nicht mehr erinnern. Uebrigens habe er bei der Mutter des _Joseph G._ ähnliche Zufälle bemerkt[69], welches wahrscheinlich ihren Mann verleitet habe, sie zu verlassen. [69] Dieser Angabe wurde nicht weiter nachgeforscht, was sehr zu tadeln ist, höchst wahrscheinlich aber nicht unterblieben wäre, wenn dasjenige Statt gefunden hätte, worauf in der nächstvorigen Anmerkung hingedeutet ist. Die Erhebungen über die Selbstmordversuche liefern folgende Resultate: 1. Wegen dem Erhängen im Buchenwalde im U--thale konnte nichts erhoben werden, da die Zeugen, welche den Vorfall gesehen hatten, nicht mehr aufzufinden waren. 2. Wegen dem Erhängen im J--thale erklärte die alte Frau _Katharina S._: der _Joseph G._ heischte bei ihr ein Almosen, die Knechte entgegneten ihm hierauf, ob er seinen Haftpfennig schon habe, worauf er sagte: Nein, das Leben ist mir verleidet. Aus Narrheit entgegneten ihm hierauf die Knechte, er solle sich hängen, dort an der Wand hänge ein Strick. Er nahm diesen Strick machte ihn an den Nagel fest und liess sich wieder herab. -- Ich zankte nun mit den Knechten, und warnte den _Joseph G._, von seinen Streichen abzulassen, allein er trieb sein Wesen fort. Endlich kam ihm jedoch der Strick zu nahe, so dass ihm Blut aus der Nase floss. Als ich dieses sah, nahm ich eine Ofengabel und ging zankend damit auf ihn los. Auf dieses machte er sich vom Stricke los, sprang vor den Spiegel und lachte laut, ich aber trieb ihn zum Hause hinaus. Im Fortgehen jauchzte er hell auf[70]. [70] Ein Beleg zu des Schulmeisters Behauptung, dass _Joseph G._ ein Schalksnarr sei. 3. Wegen dem Erhängen in Q. ergab es sich, dass er keineswegs schon gehangen sei, sondern angetroffen wurde, als er an dem herabgezogenen Aste eines Apfelbaumes ein Seil angemacht und es sich um den Hals geschlungen hatte. Noch hielt er den Ast mit der Hand fest. Hätte er ihn losgelassen, so hätte der Ast ihn aufziehen und ihm Schaden thun können. Die Zeugen riefen ihm zu, er solle sich losmachen, sonst bekomme er Schläge, und so machte er das Seil von seinem Halse und nachher von dem Aste los. Die auf solche Art vervollständigten Akten legte das Kriminalamt am 10. November dem Obergerichte vor, an welches indess von der Verwaltung des Zuchthauses, in welches _Joseph G._ einstweilen untergebracht worden war, folgender Bericht erstattet wurde: „Vom Anfange seiner Einlieferung bis auf die Zeit, wo die Verwaltung ihn durch Geldversprechung zum Arbeiten bestimmte, staunte _Joseph G._ mit verirrten Augen vielmal und oft halbe Stunden lang an einen gewissen Punkt hin, ohne Jemand gewahr zu werden, bis man auf ihn zulief und ihn anredete, dann gab er, wenn man ihn anredete, weiter keine Antwort als Ja und Nein. Wollte man von ihm etwas wissen, so musste man ihn von Wort zu Wort auf seine Reden helfen, denn er scheint das Gedächtniss nicht zu besitzen, dass er eine Konstruktion ordentlich nach einander hersagen könnte.” „Oefters, und besonders wenn der Mond wächst, verlässt ihn seine wenige Heiterkeit, und er verfällt in eine Art Trübsinn und Hypochondrie, in welcher er sich zu entleiben wünscht.” „Eines Tages vor ungefähr fünf Wochen war er ebenfalls des Lebens müde, lief geradezu an den mitten im Zimmer stehenden Pfosten, woran ein für die Züchtlinge bestimmtes Messer zum Brotschneiden an Ketten befestigt hängt, setzte es an die Kehle und wollte eben zuschneiden, als glücklicherweise ein anderer Gefangener es gewahr wurde, und ihm noch zur rechten Zeit das Mordinstrument entwand.” „Ein anderes Mal fällt ihm ein, dass er durch Hungerleiden sein Leben verkürzen wolle, und er ass auch wirklich mehrere Tage nichts, bis ihn der Hunger überwältigte und er der Natur nicht länger mehr Trotz bieten konnte.” „Sein Verhalten ist übrigens ruhig, gerade wie bei Kindern beschaffen, welche bei Spielsachen sich aufhalten und die Zeit vertreiben können, oder durch Versprechungen und Schenkungen Alles von sich erzwecken lassen. So z. B. findet er sein grösstes Vergnügen mit Glinkern oder Rieblingen, welche er unter Tages bei sich trägt und während des Schlafes unter seinem Kopfe verwahrt. Die Verwaltung konnte ihn übrigens blos durch Schenkung einiger Kreuzer zum Wollschlumpen vermögen, die er in guter Verwahr zu seinen Glinkern legt.” „Uebrigens ist und bleibt _Joseph G._ ein äusserst blödsinniger, einfältiger und sinnloser Mensch.” Das Obergericht trug nun dem Lokalbeamten auf, in Gegenwart des Medizinalreferenten mit _G._ noch einige auf dessen Seelenzustand passende Verhöre vorzunehmen, wonächst dann der Medizinalreferent mit seinem Gutachten sowohl über diese Verhöre als über das in den Akten[71] über den Gemüthszustand des _Joseph G._ Vorkommende zu hören sei. [71] Warum nur aus den Akten? Der Geisteszustand liess sich doch noch sicherer durch Untersuchung der Person des _Joseph G._ erfahren, und dazu waren nicht nur =Verhöre=, sondern überhaupt Beobachtungen über, und Unterredungen mit dem _Joseph G._ nothwendig. Die ernannten Kommissarien fanden es, wie sie in ihrem Protokolle vom 28. Hornung 1811 bemerkten, nothwendig, das zu untersuchende Subjekt hinsichtlich seiner Fassungskraft kennen zu lernen, um sich bei der Wahl der Materie der an ihn zu stellenden Fragen darnach richten zu können[72]. Man liess ihn also vorführen: er war heiter, seine Mienen, Gestikulationen und die Art sich auszudrücken[73] zeigten jedoch einen höchst einfältigen, blödsinnigen Menschen. Ueberhaupt zeigte er den niedersten Grad des Erkenntnissvermögens, und man abstrahirte hieraus die Nothwendigkeit, in der Wahl der Verhörsmaterialen zu den einfachsten Begriffen herabzusteigen und nur nach und nach sich Begriffen zu nähern, aus welchen auf eine grössere Denkkraft des Inquisiten geschlossen werden könne[74]. Uebrigens glaubte man sich über solche Gegenstände verbreiten zu müssen[75], welche über die im gewöhnlichen Leben vorkommenden, sodann über die religiösen und moralischen Begriffe des Inquisiten, endlich insbesondere über die von ihm verübten Verbrechen[76] einigen Aufschluss zu geben im Stande sein möchten. [72] Darüber konnte die Ansicht der Person des _Joseph G._ keinen Aufschluss geben, fing man aber eine Unterredung an, so war dies schon der Anfang der Untersuchung, wozu also dieser Eingang des Protokolles? [73] Wie drückte er sich aus, worin bestanden die Gestikulationen? -- Die Erklärung hierüber hätte zu Protokoll genommen werden sollen, denn ob die Ausdrücke und Gestikulationen einfältig sind oder nicht, gehört eben so gut vor das Forum des Richters, als vor jenes des Arztes. [74] Die Kommissarien waren nicht klar darüber, wie sie die Sache angreifen sollen, und befanden sich daher in einiger Verlegenheit -- dies ist der langen Rede kurzer Sinn. Es handelte sich nicht darum, den _Joseph G._ zu unterrichten, sondern ihn zum =Reden= zu bringen; dazu gab aber eine Frage nach seinen Glinkern oder nach seinem gesammelten Gelde zuverlässig ein besseres Exordium, als in allen sokratischen Unterrichtsmethoden zu finden sein kann. [75] Die Kommissarien hatten sich über gar nichts zu verbreiten, sondern nur zu bewirken, dass _Joseph G._ sich über etwas verbreite. [76] Diese gingen die Kommissarien nichts an. Höchstens konnten sie sich Einiges hierüber von _Joseph G._ erzählen lassen, um den Ausdruck, mit welchem er es that, zu beobachten. =Frage=: Wie er heisse. =Antwort=: Sepp heiss' ich, aber mit dem Zunamen sell weiss ich nicht. =Frage=: Was ein Zuname sei. =Antwort=: Sell weiss ich nicht. =Frage=: Ob er nie gehört, dass die Leute zwei Namen haben. =Antwort=: Nein. =Frage=: Ob er noch Eltern habe. =Antwort=: Ja, zwei Brüder, einen Vater und zwei Schwestern. =Frage=: Ob er keine Mutter habe. =Antwort=: Ajjo, ich hab' noch eine Mutter. =Frage=: Wie sein Vater mit dem Zunamen heisse. =Antwort=: Sell weiss ich nicht. =Frage=: Er (Inquisit) heisse _G._, wie er glaube, dass sein Vater mit dem Zunamen geheissen. =Antwort=: Sell weiss ich nicht. Nun stellte _Joseph G._ einmal eine Frage an die Kommissarien, deren Zweckmässigkeit Jedermann bei weitem mehr einleuchten wird, als jene des Fragens der Kommissarien nach dem Zunamen; er fragte nämlich: „Ob er das Leben verschuldet habe, und wenn er es verschuldet habe, so möge man es ihm lieber nehmen, als ihn länger im Zuchthause sitzen lassen.” -- Als er die Frage, woher er dies vermuthe, dahin beantwortet hatte, dass es ihm ein Sträfling im Zuchthause gesagt habe, fing er an allerlei undeutliches Zeug zu schwatzen, so dass man ihn nur schwer beruhigen konnte. -- Als man damit einigermassen zurechtgekommen zu sein glaubte, erfolgte von Seite der Kommissarien an ihn die =Frage=: Ob er nie gehört habe, dass die Kinder den Namen ihrer Eltern führen. =Antwort= (nach langem Besinnen): Ich kann mich jetzt nicht darauf verstehen[77]. [77] Diese Antwort wird so wenig Jemanden befremden, der bedenkt, dass _Joseph G._ in dem Augenblicke sein Todesurtheil zu hören vermuthet hatte, als er wirklich Mühe haben wird, das System der Kommissarien zu verstehen, die sich durch diesen deutlichen Wink über die im Inneren des _Joseph G._ herrschende Vorstellung nicht bestimmen liessen, ihm gleich die Frage zu stellen: „Warum glaubst du denn, dass man dich am Leben strafen wird?” und dann nach Massgabe der erfolgenden Antwort fortzufahren. -- Mancher sehr vernünftige Mensch, der sein Todesurtheil zu hören fürchtet, oder die zweifelhafte Beruhigung erhält, dass es sich =vor der Hand= noch nicht um seinen Kopf handle, wird auf ähnliche seinem Interesse eben so fern stehende Dinge, wie der Gebrauch von Zunamen, nicht um ein Haar besser antworten. =Frage=: Ob er nicht glaube, dass sein Vater auch _G._ heisse. Während die Frage diktirt wurde, sagte _Joseph G._ von freien Stücken: „Mein Bruder ist mit der Mutter auch wüst gewesen, er hat sie gewürgt und auf die Bank niedergesetzt.” Auf Wiederholung der Frage: =Antwort=: Sell weiss ich nicht. =Frage=: Wie alt er sei. =Antwort=: Sell weiss ich nicht. Nun folgte eine ähnliche Abhandlung über die =Zeit=, nämlich wie viel Tage das Jahr, wie viel Tage die Woche habe etc., die er bald schlecht, bald besser beantwortet. =Frage=: Was ist der Sonntag für ein Tag? =Antwort=: Dass wir sollen in die Kirche gehen und beten. =Frage=: Was heisst das: beten? =Antwort=: Den Rosenkranz-Vaterunser thu' ich beten. =Frage=: Er soll das Vaterunser beten. =Antwort= (betet es ohne Anstoss zu Ende). =Frage=: Wer denn das sei, der Vater im Himmel. =Antwort= (nach gemachter Erklärung der Frage[78]): Gott. [78] Vermuthlich hatte man das ihm aus der Schule bekannte Schlagwort getroffen, auf das er mit seinem Wort einzufallen gewohnt war. =Frage=: Warum er zu Gott bete. =Antwort=: Dass ich in den Himmel komme. =Frage=: Wann man in den Himmel kommt. =Antwort=: Wenn man todt ist, geht die Seel' in den Himmel hinauf. =Frage=: Ob alle Seelen in den Himmel kommen. =Antwort=: Alle Menschen kommen in den Himmel. =Frage=: Ob er nie etwas von der Hölle gehört habe. =Antwort=: Ja freilich, wenn man flucht und wüst thut, kommt man in die Höll'. =Frage=: Wohin er gern kommen möchte. =Antwort=: In den Himmel möcht' ich. =Frage=: Wie er sich dann aufführen müsse. =Antwort=: Brav beten. =Frage=: Ob er nicht auch Niemanden etwas zu leid thun dürfe. =Antwort=: Ajjo, Niemanden etwas zu leid thun. Hiermit schlossen die Kommissarien das Verhör, wie sie es nannten, setzten es aber am 26. Februar noch weiter fort. =Frage=: Was er mit dem Gelde gemacht hat, was man ihm am Schlusse des letzten Verhöres geschenkt hat[79]? [79] Hätte sollen im Akte bemerkt werden. =Antwort=: I hab's wölle vertrinke. Sie haben mir noch kein' Wein gebracht. =Frage=: Wie viel es gewesen sei. =Antwort=: Ein Zwölfer und ein Sechser[80]. [80] Es ist durchaus nicht in der Ordnung, eine Antwort im Provinzialdialekte, die andere in der reinen Sprache zu protokolliren. Nur wo ein Missverständniss möglich ist, muss der Ausdruck des Inquisiten beibehalten werden. Bei =diesem= Verhöre wäre es aber entschieden besser gewesen, ganz den Provinzialdialekt beizubehalten, weil es hier darauf ankam, aus dem =gebrauchten Ausdrucke= den Geisteszustand zu beurtheilen. =Frage=: Ob er Freude am Gelde habe. =Antwort=: 's Geld isch no mei Freud'. =Frage=: Warum ihn das Geld freue. =Antwort=: Darum! -- dass ich allig Geld hab'. =Frage=: Was er mit dem Gelde mache. =Antwort=: Ich trink' Bier d'rum und Wein. =Frage=: Ob er sich sonst nichts anschaffe. =Antwort=: Manchmal ein' Rettich oder ein' Zwiebel. =Frage=: Ob er nicht bessere Kleider zu haben wünsche. =Antwort=: Ja. =Frage=: Warum. =Antwort=: Dass ich auch hübsch wäre und nit so wüst daher käme. =Frage=: Ob er glaube, dass er sich für einen Zwölfer oder Sechser bessere Kleider schaffen könne. =Antwort=: 's isch z'weni. =Frage=: Wie viel Geld er dazu brauche. =Antwort=: Ich meine so Ein' Gulden. =Frage=: Wer ihm bisher die Kleider angeschafft habe. =Antwort=: Die Mutter. =Frage=: Ob sonst Niemand. =Antwort=: In des Cheizbauern Haus hab' ich ein wenig gedient und ein Brusttuch erhalten. Ich bin aber wieder fortgerennt. =Frage=: Warum. =Antwort= (lachend): Ich bin halt herumgelaufen wieder. =Frage=: Ob ihm das Herumlaufen besser gefalle, als das Schaffen. =Antwort=: Ich schaffe lieber, ich hab' Freud' am Schaffen. =Frage=: Warum er doch das Herumlaufen dem Schaffen vorgezogen. =Antwort=: Ich hab' halt müssen herumlaufen, was ich angestellt habe, hat mich gedrückt, es ist mir alleweil Angst gewesen. =Frage=: Was ihm Angst gemacht. =Antwort= (lachend): Dass ich's Haus anzunden hab'. =Frage=: Warum ihm Angst gewesen. =Antwort=: Darum, es ist mir im Kopf gesteckt, dass wenn ich stürb', ich in die Höll' komm'. =Frage=: Woher er gewusst habe, dass er deswegen in die Hölle komme. =Antwort=: Weil's eine Sünde ist, weil's nicht recht ist. =Frage=: Wer ihm dieses gesagt habe. =Antwort=: Kein Mensch hat mir es gesagt, kein Mensch, kein Mensch. =Frage=: Woher es ihm denn bekannt war. =Antwort=: Sell isch nicht recht, wenn mer's Haus anzünden thut. =Frage=: Warum es nicht recht sei. =Antwort=: Weil ich meiner Mutter ihr' Sache verbrannt habe, weil es eine grosse Sünd' ist. =Frage=: Wann ihm dieses in den Sinn gekommen ist[81]. [81] Es bedarf wohl keiner besonderen Erinnerung, um zu bemerken, dass der in Bezug auf =diesen= Gegenstand gewählte Ideengang sehr zweckmässig war. =Antwort=: Wie ich's thun g'habt hab', ist mir's in den Sinn gekommen, dass es nicht recht ist. =Frage=: Warum es ihm erst hintennach in den Sinn gekommen ist[82]? [82] Besser wäre es gewesen, zu fragen, ob es ihm nicht schon früher eingefallen ist, denn die Frage, warum Jemandem etwas =nicht= eingefallen ist, wird auch ein Vernünftiger in den wenigsten Fällen beantworten können. =Antwort=: Es hat mich halt im Gewissen gedruckt, und ich hab' es müssen sagen. =Frage=: Warum er es so lange verschwiegen habe. =Antwort=: Ich hab' gefürchtet ich werd eingesperrt, hernach hab' ich's müssen sagen, ich hab' keine Ruh' gehabt. =Frage=: Woher er gewusst hat, dass er eingesperrt werde. =Antwort=: In L. hab' ich einmal Einen prügeln g'sehen, der auch e' Haus anzunden hat, derselbe hat zwanzig Jahr (Zuchthausstrafe) überkommen. =Frage=: Ob es vor oder nach seiner Brandlegung war. =Antwort=: Ich hab' d'Häuser schon lang' anzunden g'habt. =Frage=: Ob er also wirklich seiner Mutter Haus angezunden habe. =Antwort= (lachend): Jo, ich hab's anzunden, jo, ich hab's anzunden. =Frage=: Warum er es angezunden. =Antwort=: Warum ich's thun hab'? Mein Bruder hat mich g'schlagen. Wann er mich nicht g'schlagen hätt', hätt' ich's nicht thun; 's hat mich schon vielmal g'reut. =Frage=: Er hat ja damit nur seiner Mutter, nicht seinem Bruder Schaden gethan. =Antwort=: Mein Bruder ist auch darin gewesen; ich hab's gethan, dass er nimmer hineinkommen sollt'. =Frage=: Das Haus habe ja nicht seinem Bruder gehört. =Antwort=: Er ist doch d'rinne g'west, er hat drinne gewoben, er ist ein Weber. =Frage=: Wann ihm beigefallen, das Haus seiner Mutter anzuzünden. =Antwort=: Er hat mich gar wüst g'schlagen, da bin i gangen und hab's anzunden. =Frage=: Ob es ihm nicht eingefallen, dass es eine Sünde ist. =Antwort=: Es ist mir freili eing'fallen. =Frage=: Wann es ihm eingefallen. =Antwort=: Wie ich's than g'habt hab', is mir's eingefallen. =Frage=: Ob er nicht auch vor der That daran gedacht habe. =Antwort=: Nein. =Frage=: Ob das Anzünden des mütterlichen Hauses das einzige Böse sei, das er begangen habe. =Antwort= (lachend): Nein, ich hab' noch eins anzunden, das Berghaus des _Lorenz S._ =Frage=: Warum er dies gethan habe. =Antwort=: Mein Bruder hat mich auch in dem Haus g'schlagen, da hab' ich's halt im Zorn gethan. =Frage:= Ob er schon gebeichtet habe. =Antwort:= Ja, aber ich bin aus der Kirche weggelaufen. =Frage:= Warum? =Antwort:= Weil mir Angst gewesen ist. =Frage:= Wofür er sich gefürchtet habe. =Antwort:= Ich fürchtete, ich sag's nicht recht, was ich gesündigt hab'. (Lachend.) =Frage:= Was er für eine Sünde halte. =Antwort:= Wenn mer flucht[83]. [83] Fluchen fiel ihm als eine Sünde bei, vermuthlich weil er beim Schulunterrichte öfter davon reden gehört hat, vom Brandlegen war weniger die Rede gewesen, daher ihm diese Art Sünde nicht eher beifiel, als bis er daran erinnert wurde. =Frage:= Ob er schon geflucht habe. =Antwort:= Schon vielmal. =Frage:= Ob er nicht glaube, dass der Mutter Haus anzünden eine Sünde sei. =Antwort:= Das Fluchen ist Sünde, der Mutter Haus anzünden ist Sünde. =Frage:= Ob er von den zehn Geboten nichts gehört habe. =Antwort:= Freili hab' i davon gehört, die Mutter hat sie mit mir betet. =Frage:= Er solle sie hersagen. =Antwort:= (Er rezitirt einige Gebote unverständlich her.) =Frage:= Ob er gehört hat, dass Tödten eine Sünde ist. =Antwort:= Sell han i g'hört, dass Tödten eine grosse Sünde ist. =Frage:= Ob er schon Jemanden etwas zu leid gethan habe. =Antwort= (zuerst): Nein, nein! (Gleich darauf:) Ajjo, ich hab' mich e' mal g'henkt. =Frage:= Warum? =Antwort:= Das Leben ist mir verleid't gewesen. =Frage:= Warum es nicht erlaubt ist, sich selbst das Leben zu nehmen. =Antwort:= Weil Niemand sich selbst darf richten. =Frage:= Woher er dieses wisse. =Antwort:= Sie haben's g'sagt, wie ich mich g'henkt hab' g'habt. =Frage:= Ob er nicht erst neuerdings einen Versuch gemacht habe, sich das Leben zu nehmen. =Antwort:= Ja, im Zuchthaus hab' ich mir wollen die Gurgel abhau'n. =Frage:= Warum er dies habe thun wollen. =Antwort:= Weil mer halt Alles verleid't g'wesen ist. =Frage:= Er habe ja aber doch gewusst, dass dies eine Sünde ist. =Antwort:= 's ischt halt so an mich komme. =Frage:= Ob es öfter so an ihn komme. =Antwort:= Ja wohl, i hab' allweil lange Zeit. NB. Hier wurde _Joseph G._ sehr düster, und man fand nöthig, davon abzubrechen. =Frage:= Ob er sich allenfalls über etwas im Zuchthause zu beschweren habe. =Antwort:= Nein, 's geht mer nix ab[84]. [84] Ich glaubte diese Vernehmung wenigstens ihrem wesentlichen Inhalte nach wörtlich geben zu müssen, weil sie -- wie die Verhörenden einmal im Zuge waren -- in der That zweckmässig gepflogen ist, und es daher manchem Leser, der noch nicht in der Lage war, einem solchen Akte beizuwohnen, manche auch für andere Fälle brauchbare Winke zu geben geeignet sein dürfte. Die Kommissarien schlossen hiermit diese Vernehmung mit der Bemerkung: sie glauben, dass die abgehaltenen Verhöre hinreichen, um den auffallenden Blödsinn und den geringen Grad des Erkenntnissvermögens des Inquisiten zu beurkunden. Der Medizinalkommissär erstattete nun folgendes Gutachten: Aus dem Erwägen der Untersuchungsakten; aus den Beobachtungen bei den Verhören des _Joseph G._; aus seiner bald freudigen, lächelnden Miene, wo es keinen Stoff zur Freude und zum Lachen gab; aus der plötzlichen Abänderung der Miene in starren, auf einem ganz unbedeutenden Gegenstand haftenden, bald ängstlichen Blick; aus seinen Geberden und seinem Betragen bei Beantwortung seines Verhöres; aus dem öfteren Mangel seiner Fassungsfähigkeit für die deutlichsten Fragen, bis man ihm solche auf mehrfache Art wiederholte, und ihm solchermassen das Gedächtniss aufweckte; endlich aus seinem so schnellen Ueberfalle von einer Art Wahnsinnes, das er nach der Beantwortung der Frage (wegen dem Zunamen) sich im Geiste verirrte, und dann schnell trotzend den Tod forderte, wenn er ihn verschuldet habe[85], sich hierzu höchst gefasst zeigte, und nachhin weinend viel ungereimtes Zeug schwatzte, aus welcher Gemüthsstimmung man ihn nur langsam, mit guten Vorstellungen, mit Schmeicheln und Versprechungen von Geldschenkungen wieder zu guter Laune bringen konnte[86]; ferner noch vorzüglich aus dem wahnsinnigen Beginnen des Inquisiten bei dem ersten Brande, ob er seiner ihm zurufenden Mutter folgen und sich aus dem brennenden Hause retten wolle, und dem Martertode so gleichgiltig entgegensah -- aus allen diesen Daten stimmt Referent in seinem Resultate mit dem des Civilkommissärs, der Zuchthausverwaltung und des Zuchthaus-Physikates dahin ganz überein, dass _Joseph G._ ein höchst einfältiger und durchaus blödsinniger Mensch mit dem niedersten Grade des Erkenntnissvermögens, ja als ein sogenannter Halbverrückter anzusehen sei, wie er dieses im niedersten und höchsten Grade von Jugend auf war, wobei ihn dennoch augenblicklich ein solcher Tiefsinn und Grad von Narrheit befallen kann, dass er seiner inneren Sinne gar nicht mehr mächtig ist und sogar sich selbst gefährlich wird, wie er denn wiederholte Versuche gegen sein Leben machte. [85] Aus dieser Antwort folgt eben so wenig etwas für die Behauptung der Geisteszerrüttung, als aus der vorausgegangenen düsteren Stimmung. Er fürchtete, sein =Todesurtheil= zu vernehmen, und etwa noch dazu die sogleiche Exekution. Dies war natürlich und erklärt seine Stimmung vollkommen. Er musste dem gefürchteten Schlage etwas entgegensetzen, und das war =Trotz=. Der Schlag erfolgte nicht, er brach nun in sich zusammen und redete verwirrt. Dies war eben so natürlich. Man muss sich wundern, wie man diese naheliegende Erklärung übersehen konnte. [86] Davon sagt das Protokoll nichts. Uebrigens ist es wenigstens nach meiner unmassgeblichen Meinung ein grosser Beweis =für= den Blödsinn, dass sich _Joseph G._ nach in seinem Sinne so begründeter Besorgniss vor der Ankündigung eines Todesurtheiles, und nach der durch die freudige Ueberraschung der Versicherung des Gegentheiles, sich der hierdurch entstandenen Verwirrung wieder durch so unbedeutende Veranlassungen, wie Schmeicheln und Anbietung kleiner Geschenke, so weit entreissen konnte, dass er später auf den Gegenstand gar nicht mehr zurückkam. Ein Vernünftiger, welcher in der Lage des _G._ die Ankündigung des Todesurtheiles erwartet und den Tod gefürchtet hätte, würde dies nicht im Stande gewesen sein. Dass es aber _Joseph G._ vermochte, zeigt, dass er selbst für den Gedanken des vorschwebenden Todes zu stupid war. Aus diesem und dem Angeführten (aus der oben zitirten Frage des Verhöres) erachtet Referent, dass, wenn _Joseph G._ sich in seinem Betragen und Sprechen die Zeit vor und nach Anlegung des Brandes auch von ziemlichem Verstande ausgewiesen habe, =man hieraus dennoch nicht unfehlbar= auf seinen =Geisteszustand in der Mittelzeit bei Anlegung der Brände folgern könne=, wie auch Keiner, der ihn nur vor oder nach der obigen Zeitfrist (nach dem Vorgange bei der zitirten Frage) beobachtet hatte, auf den Vorgang seiner Geistesverwirrung in der Zwischenzeit hätte schliessen können. Das Obergericht forderte noch die Aufklärung, wie es komme, dass _Joseph G._, welcher in seinem Verhöre als eine mit Verstandesfähigkeit begabte, aller Ueberlegung fähige Person in einem gesunden Gemüthszustande erscheine, nun als ein Mensch geschildert werde, welcher nicht einmal im gesunden Zustande die gewöhnliche Verstandesfähigkeit besitzt, im kranken aber wahnsinnig und melancholisch ist. Diese Aufklärung gab das Kriminalgericht (der Medizinalreferent wurde nicht vernommen, was sehr zu tadeln ist) dahin: 1. dass die ersteren Verhöre die Antworten nur der Wesenheit nach, ohne auch den Provinzialdialekt nachzuahmen, sonst aber ganz getreu, enthalten; 2. die bessere Verpflegung im Arreste gegen die spätere im Zuchthause, wo er noch von der Bestrafung anderer Verbrecher Zeuge war, auf ihn vortheilhaft gewirkt habe, wodurch die Differenz in den ärztlichen Arbitrien entstanden sein mag; 3. auch in den letzten Protokollen sich mehrere Antworten finden, welche eben von keiner Geistesverwirrung zeigen. * * * * * Das Obergericht fand sich hierdurch genügend in die Lage gesetzt, ein Urtheil zu fällen[87], und erkannte, mit Berücksichtigung der Jugend des Inquisiten (er war zur Zeit der Aburtheilung 22 Jahre), der Verschiedenheit der bei der Untersuchung der Kommissarien und des Kriminalamtes gefundenen Resultate[88], den _Joseph G._ wegen seiner offenbar in lichten Zwischenräumen[89] begangenen Verbrechen mit einer achtjährigen schweren Zuchthausstrafe zu belegen, jedoch mit der Beschränkung, ihn vorläufig in dem Zuchthause noch nicht als Sträfling zu behandeln, sondern unter ärztlicher Aufsicht für Veredlung seiner Seelenkräfte zu sorgen. [87] Es wäre offenbar in der Ordnung gewesen, auch dem Medizinalreferenten den Bericht des Kriminalgerichtes zur Begutachtung vorzulegen, und auch die Aeusserung des Physikus, welcher das erste Gutachten ausgestellt hatte, unter Mittheilung der weiteren Erhebungen einzuholen. Ueberhaupt hätte bei der Erhebung des zweiten Befundes dieser Physikus sollen beigezogen werden, damit man erfahren hätte, ob sich wirklich eine wesentliche Veränderung mit _Joseph G._ zugetragen habe, denn es steht sehr zu bezweifeln, dass diese Veränderung =wesentlich= war, wenn man anders annimmt, dass -- wie es sehr möglich ist -- _Joseph G._ in einem blos mündlich und daher mit weniger Feierlichkeit als bei einem Verhöre geführten Gespräche, besonders wenn es zweckmässiger geleitet war, sich leichter ausdrückte, als im letzteren Falle. [88] =Ob= eine Differenz zwischen dem Kriminalgerichte und den Kommissarien bestand, war gleichgiltig. Es handelte sich darum, =worin= die Differenz bestand, und da sie darin bestand, dass das Erstere sagte, _J. G._ sei =gescheid=, die Letzteren, er sei ein =Narr=, so handelte es sich hauptsächlich darum, wer =Recht= habe, und daher, ob diese Differenz nicht behoben werden könne. -- Der Weg dazu ist in der vorigen Anmerkung angedeutet worden. Die Differenz wäre aber gar nicht entstanden, wenn man die Untersuchung des _Joseph G._ mit einer ärztlichen Erhebung des Gemüthszustandes =begonnen= und dieselbe bis zum Schlusse im Einvernehmen mit dem Arzte fortgesetzt, bei Protokollirung seiner Aussage seine Ausdrücke =wörtlich= aufgenommen und sich nicht mit dem ersten ganz oberflächlichen Parere begnügt hätte, dessen Oberflächlichkeit sich dadurch nachweist, dass es nicht nur auf den bereits =notorisch= wahnsinnigen _Joseph G._, sondern beinahe auf jeden gesunden Menschen passt. Ein Parere aber, welches bei dem =bekannten= Bestehen einer Krankheit bei einem Individuum, ohne sich über ihr Vorhandensein oder Nichtvorhandensein nur mit Einem Worte auszusprechen, hinausgeht, ist =oberflächlich=. [89] Das ärztliche Gutachten, welches ganz entschieden das Gegentheil sagte, blieb unberücksichtigt. Dieser Antrag wurde höheren Ortes auch genehmigt, und zugleich angeordnet, das Urtheil erst nach hinlänglich gebessertem Zustande des _Joseph G._ kund zu machen. Dieser Zeitpunkt war aber nach sechs Jahren noch nicht gekommen. * * * * * Der verehrte Leser wird mit dem Verfasser die Ansicht theilen, dass dieses Urtheil keineswegs ein den Prinzipien der Gerechtigkeit entsprechendes war. Der Grund seiner Schöpfung liegt aber offenbar darin, dass die =Differenz= der Ansicht des Kriminalgerichtes mit dem Medizinalreferenten nicht zu beheben versucht wurde, oder sofern dies nicht möglich war, der Ausspruch des Medizinalreferenten, als des eigentlichen Sachkundigen, nicht als der =giltige= angenommen wurde. Der Standpunkt, von welchem die Sache schon vom Anbeginne der Untersuchung hätte angegriffen werden sollen, wäre nach meiner Meinung folgender gewesen: _Joseph G._ hatte sich zu zwei Brandlegungen bekannt. Diese Brände hatten wirklich Statt gefunden. -- _Joseph G._ war notorisch von Zeit zu Zeit verrückt, oder benahm sich doch so, dass man ihn dafür =halten= musste. Diese drei Thatsachen mussten daher als die Grundlage weiterer Untersuchung dienen. Es handelte sich also vor allem Anderen darum, durch =ärztliche= Erhebung auszumitteln, ob man seinen Zustand für so geartet halten könne, dass anzunehmen sei, er wisse was er =sagt=. Dazu gehörte nun vor Allem eine Prüfung seiner =Aussagen= durch einen zum Verhöre zugezogenen Arzt, nicht aber genügte es, dass er, wenn auch drei Viertelstunden lang, erst längere Zeit =nach= dem Verhöre von einem Arzte geprüft wurde, denn es lässt sich die Möglichkeit denken, dass diese Prüfung gerade während eines =lichten= Zwischenraumes Statt hatte, in welchem er, wenn er wäre verhört worden, das Geständniss nicht abgelegt haben würde. Da nun wohl die Brände, nicht aber auch der Umstand, dass die Brände =gelegt= waren, erhoben wurden, auch sonst kein Umstand vorlag, welcher ihn als den Thäter bezeichnete, so war diese Lücke =wesentlich=, und konnte auch nicht durch das von den Kommissarien aufgenommene Verhör als ergänzt betrachtet werden, weil zufolge dieses Verhöres _Joseph G._ entschieden als mit abwechselnder Sinnenverwirrung behaftet erkannt wurde. Es fehlte daher die =erste= Bedingung zur Verurtheilung, die Gewissheit, dass das Geständniss =wahr= sei, und dieser Mangel hätte sollen auf die früher erwähnte Art und Weise behoben werden. Was nun den Zustand bei Verübung der That betraf, so stand, auch abgesehen von dem früher gerügten Mangel objektiver Gewissheit über die Wahrheit des =Geständnisses=, noch der Umstand entgegen, dass aus den Erhebungen hervorging, _Joseph G._ sei schon seit seiner früheren Jugend im =Allgemeinen= schwachsinnig, =zuweilen= jedoch entschieden =närrisch= gewesen. Es hätte nun sollen ein besonderes Gutachten über den Umstand erhoben werden, ob aus den durch die Aussagen seiner Mutter etc. sich ergebenden Umständen sich die Gewissheit einer bereits zu =jener Zeit= Statt gefundenen, wenn auch intermittirenden =Geisteszerrüttung=, oder doch deren Wahrscheinlichkeit ergäbe, und dann im wahrscheinlichen Falle der Bejahung, unter Mittheilung der Akten an den Arzt, an diesen die Frage gestellt werden sollen, ob sich bei einem Menschen, welcher, wie _Joseph G._, zugleich schwachsinnig und zeitweise vollkommen verrückt ist, bezüglich dieser That unter den Umständen, unter welchen sie begangen wurde, mit Gewissheit darstelle, =dass er damals in einem lichten Zwischenraume gewesen sei=. Der Arzt hätte zur Beantwortung dieser Frage wahrscheinlich eine umständlichere Vernehmung mehrerer Zeugen bedurft, welches, und zwar mit =Beiziehung des Arztes=, hätte geschehen müssen, dann aber wäre höchst wahrscheinlich der Ausspruch erfolgt: „dass sich bei einem so schwachsinnigen und zeitweise wirklich =verrückten= Subjekte unmöglich bestimmen lasse, dass er bei dieser That, welcher noch dazu ein =widersinniges= Motiv zu Grunde liegt, in einem lichten Zwischenraume sich befunden habe, weil er sich dabei, wenigstens bei dem ersten Brande, auf eine ähnliche Art benahm, wie bei den Selbstmordversuchen.” Dieser Ausspruch hätte nun die Sache, und zwar =dahin= entschieden, dass gegen _Joseph G._ nicht weiter wäre prozessirt worden, da man dann die Ueberzeugung gewonnen hätte, dass sowohl der objektive als der subjektive Thatbestand mangle. Nimmt man aber selbst an, dass das Geständniss richtig ist, ja dass sich Alles gerade so verhält, wie _Joseph G._ angibt, so erscheint dieser als ein höchst =schwachsinniges= Geschöpf, welches nur =wenigen= Vorstellungen zugänglich ist. =Eine= von diesen wenigen war die des =Zornes= gegen seinen Bruder, weil er ihn geschlagen hatte, alle anderen, die ihm doch so nahe gelegen, z. B. dass der Brand des Hauses seinem Bruder nur =wenig=, ihm selbst und seiner Mutter und Anderen aber =sehr viel= schaden, blieben von seiner =Seele fern=, um so mehr mussten alle Vorstellungen von der Unsittlichkeit der Handlung (er wusste, dass Fluchen eine Sünde sei und fluchte dennoch, von der Sündlichkeit des Brandlegens hatte er, wenigstens nach seinem Wissen, nichts gehört), und eben darum auch von der =Rechtswidrigkeit=, von welcher er gar =keinen= Begriff hatte, ausgeschlossen sein. Er fasste den Entschluss als ein =Schwachkopf= und führte ihn aus mit der =Konsequenz eines Wahnsinnigen=, für den ausser dem, was zu seiner fixen Idee passt, nichts vorhanden ist. Ein solcher Entschluss kann nun, ungeachtet der wirklichen Ausführung, nicht bestraft werden, weil gegen ein solches Subjekt jede bürgerliche Strafe =wirkungslos= bleibt und bleiben muss. Zur Ausmittlung des Zustandes zur Zeit der That geschah nun in der vorliegenden Untersuchung zu wenig, und der gegenwärtige Zustand des _Joseph G._ war wieder von zu geringer Bedeutung für dasjenige, was vor sieben Jahren geschehen war; so geschah es nun lediglich durch die unrichtige Art der Auffassung des Gegenstandes, dass _Joseph G._ verurtheilt wurde, der sonst der Verurtheilung zuverlässig entgangen wäre. B. _Der Brudermörder Kaspar Roth_[90]. [90] Aus dem „Archive des Kriminalrechtes,” mitgetheilt von Dr. _E. F. Scuchay_, Advokaten in Frankfurt a. M., wo sich der Fall ereignete. I. =Lebensgeschichte des _Kaspar Roth_ bis zur völligen Entwicklung seiner Seelenstörung.= §. 1. _Kaspar Roth_ ist der Sohn eines dürftigen Schneidermeisters zu Frankfurt a. M., welcher ihn in zweiter Ehe, und zwar in seinem 57. Jahre, gezeugt hat. Schon in seiner frühesten Kindheit wurde er von einem Nervenfieber befallen, und die gleiche Krankheit wiederholte sich in seinem 11. Jahre. Der von Natur nicht starke Körperbau des Knaben wurde durch diese Krankheiten geschwächt, und auf der anderen Seite dessen Entwicklung weder durch nahrhafte Kost noch durch gesunde Wohnung befördert. Im Gegentheile hatte er das gemeinsame Schicksal armer Kinder in grossen Städten: keine frische Luft, keine freie Bewegung, kraftlose Speisen, erkünstelte Bedürfnisse und -- lasterhafte Gewohnheiten. Gegen seinen Vater finden sich keine besonders nachtheiligen Zeugnisse in den Akten, sein Einfluss auf den Sohn war durch die Stumpfheit seines Alters beinahe Null; die Mutter dagegen ist eine für ihren Stand gebildete und gottesfürchtige Frau, so dass durch die häusliche Erziehung wenigstens nicht nachtheilig auf die moralische Seite seines Charakters scheint eingewirkt worden zu sein. Allein in seinem zehnten Jahre erlernte er von einem anderen Jungen das Laster der Onanie. Er war damals noch in einer Trivialschule, besuchte aber darauf das Gymnasium und wurde hier von dem Lehrer der Religion (jedoch ohne persönliche Beziehung) auf die nachtheiligen Folgen aufmerksam gemacht. Von dieser Zeit an, seinem 14. Jahre, bestrebte er sich, jenes Laster abzulegen, und es gelang ihm nach einem jährigen Kampfe. Nicht weniger suchte er in anderer Beziehung der Anleitung seiner Lehrer zu folgen. Seine geistigen Fähigkeiten waren gering, jedoch gelang es ihm durch unermüdlichen Fleiss, in den alten Sprachen bedeutende Fortschritte zu machen, sieben Preise zu erringen, und einer der ausgezeichneten, leider! auch der geliebten Schüler zu werden. Die angestrengte Arbeit war denn wieder eine Ursache, den Körper des jungen _Roth_ noch mehr zu schwächen, so dass er sich in einem höchst elenden Zustande gerade zu einer Zeit befand, wo er neuer Kräfte und neuer Anstrengung am meisten bedurft hätte, nämlich als die Schulstudien sich ihrem Ende nahten und die der Universität beginnen sollten. Obwohl er in seinem 19. Jahre, um Ostern 1825, eine Abschiedsrede von dem Gymnasium gehalten hatte, besuchte er dasselbe doch noch bis Ostern 1826, allein schon mit den häufigsten durch seine Kränklichkeit veranlassten Unterbrechungen[91]. Zu den damals eingetretenen Unterleibs-, Nerven- und Gehirnleiden gesellte sich ein neues Erwachen des Geschlechtstriebes, und dieser wirkte, obwohl von dem unglücklichen Jüngling standhaft bekämpft, mit erschütternder Kraft auf den schon allgemein affizirten Körper zurück. [91] In dieser Zeit schrieb er einen Brief an einen seiner Lehrer, worin er folgende Schilderung seines Zustandes gibt: „Der Unterleib ist verhärtet, die Gedärme scheinen schlaff und sich gesenkt zu haben, Verstopfung ist gewöhnlich, der Kopf ist wie von Dunst umzogen, die Nerven wie angespannt und krampfig. Wenn der Schmerz stark wird, so schmerzt die Gehirnhaut auch.” _Kaspar Roth_ befand sich um diese Zeit in einem erbarmungswürdigen Zustande, in dessen Krisis die schaudervolle That fällt, welche der Gegenstand nachfolgender Blätter ist. Ehe ich diesen Zustand näher beschreibe, wende ich mich noch etwas zurück, um auch die innere Lebensgeschichte desselben bis zu dieser Periode zu verfolgen und einige andere Thatsachen anzugeben, die von wesentlichem Einflusse auf Vollbringung jener That waren, oder ihre Ursachen näher beleuchten. §. 2. Dass die geistigen Fähigkeiten des _Kaspar Roth_ nie ausgezeichnet waren, ist schon berührt worden. Dessen ungeachtet brachte er es in manchen gelehrten Studien weit, in anderen dagegen konnte er nicht vorwärts kommen. Charakteristisch ist, dass ihm immer die Mathematik =gänzlich unzugänglich= war, und dass er darin auch nicht die einfachsten Sätze begreifen konnte, wogegen er sich gern mit Aufsätzen in deutscher Sprache befasste, und durch grossen Fleiss einer der ersten Stylisten wurde. Jedoch war auch in diesen Aufsätzen keine produktive Kraft, sondern nur ängstliche Sorgfalt für die Sprachwendungen zu erkennen, so dass seine vertrautesten Briefe immer von Korrekturen wimmelten. Einer seiner Lehrer sagt in einem nach der Ermordung des Bruders über ihn gegebenen Bericht, dass zuweilen seine Gedanken wie still gestanden, und man ihm auch nicht das Leichteste hätte begreiflich machen können. Bei solchen zum Philosophiren gewiss nicht geeigneten Anlagen hatte er dazu dennoch einen unglücklichen Hang. Es ging ihm damit wie dem Zauberlehrling: Zweifel konnte er leicht heraufbeschwören aus dem unendlichen Ideenreiche über die Natur und Bestimmung des Menschen -- sie zu lösen war er nicht im Stande; ohne Lösung ruhen und vertrauen auf die Vorsehung gelang ihm gleichfalls nicht. Dieser innere Zwiespalt erschütterte, wie begreiflich, sein Denkvermögen. Besonders einflussreich auf sein und seines unglücklichen Bruders Schicksal scheint aber die Idee =von einer ewigen und unzertrennlichen Verbindung des Geistes und des Körpers geworden= zu sein. Mit dem Hinscheiden und dem Untergange des Letzteren dachte er sich auch den Untergang des Ersteren verbunden[92]. [92] Viele in den Akten enthaltene Aufsätze und Briefe zeigen jenen unglücklichen Hang des _Roth_ zur Philosophie. In Bezug auf die angeführte Idee ist wichtig, dass er einst einem seiner Lehrer den Widerwillen gegen die Mathematik dadurch erklärt hat: =bei der Idee der Einheit= entstünden in ihm die allerbeunruhigendsten Zweifel. Ferner ist von grosser Wichtigkeit das hier folgende Aktenstück, welches verschiedene, an sich selbst von _Roth_ gerichtete und sich selbst im Namen der Philosophie, der Medizin und der Theologie beantwortete Fragen enthält: „Ist es erlaubt, Solche, von denen man sagt, dass ihre übersinnliche Natur, wenn sie noch länger mit der Körperwelt in Verbindung stehe, verloren gehe, von dieser Körperwelt zu trennen? Sorgfalt bei der Untersuchung (das könnte denn gewiss bei scharfblickenden Aerzten eine grosse Frage sein). Wer spricht von einer solchen Vernichtung des Uebersinnlichen statt des Irdischen? =Der Philosoph.= Frage wegen Erlaubtheit des Selbstmordes für Solche, die sich unrettbar erkennen. =Theolog.= Dürfen sie denn keine Erlösung glauben?” Dieses Aktenstück scheint sich zum Theile auf _Kaspar Roth_ selbst zu beziehen, auf die früher getriebene Onanie, daher entstandene und gefühlte Schwächung seines Körpers, Furcht vor der Vernichtung seiner übersinnlichen Natur mit der irdischen, und daher, zur Errettung, der gefasste Gedanke des Selbstmordes. Es findet sich noch ein anderer Aufsatz in den Akten, der also beginnt: „Du nahst heran, mein letzter Tag!” mithin gleichfalls auf den Vorsatz zum Selbstmorde zu deuten scheint. Auch machte _Roth_ in dem Gefängnisse dazu einen schwachen Versuch, bei dem er jedoch dergestalt zu brüllen anfing, dass der Gefangenenwärter herbeikam, ehe er sich ein bedeutendes Leid zugefügt hatte. Er verlangte darauf Wache, um sich nicht selbst überlassen zu bleiben. Uebrigens hatte einer seiner Lehrer, nach einer langen Unterredung, die Ueberzeugung gefasst, dass _Roth_ =keinen Selbstmord begehen könne=. Jene Idee wurde durch folgenden Umstand von der grössten Bedeutung für _Roth_: er hatte das erlernte Laster der Onanie, damals, als er dessen Sündlichkeit nicht kannte, seinem jüngeren Bruder _Remigius_ weiter gelehrt. Später von den nachtheiligen Folgen dieses Lasters unterrichtet, wollte er es demselben auch wieder abgewöhnen. Es gelang ihm nicht. Er merkte nun, wie sich dessen Munterkeit in mürrisches Wesen, seine Lebendigkeit in Zerstreuung veränderte, wie sein Gedächtniss schwächer wurde, seine Gesundheit herabsank, häufige Brust- und Leibschmerzen sich einstellten. Er fürchtete sonach den Untergang der sinnlichen und übersinnlichen Natur seines geliebten Bruders zugleich; er hielt dessen Tod für die einzige mögliche Errettung[93]. [93] Sieh die Eingangsworte des in der vorigen Note angeführten Aktenstückes: „Ist es erlaubt, Solche, von denen man sagt, dass ihre übersinnliche Natur, wenn sie noch länger mit der Körperwelt in Verbindung stehe, verloren gehe?” Stünde hier: =ist es Solchen erlaubt=, so wären diese Worte auf _Kaspar Roth_ selbst, auf Selbstmord zu beziehen. Da aber steht: =ist es erlaubt, Solche=, so sind sie auf einen Dritten (auf _Remigius Roth_) zu beziehen und so zu interpretiren: „Ist es erlaubt, Solche, deren übersinnliche Natur bei einer längeren Verbindung mit der Körperwelt verloren geht, von dieser Körperwelt zu trennen?” §. 3. So weit sich die Lebensgeschichte des _Kaspar Roth_ in den Akten verfolgen lässt, zeigte er immer ein sehr weiches, folgsames und religiöses Gemüth und ein sehr reges Pflichtgefühl. Dieses bewog ihn, dem Laster der Onanie zu entsagen, nachdem er dessen Sündlichkeit erfahren hatte, und in den Knabenjahren den ernstlichen Kampf mit einem schon durch =vierjährige= Uebung zu grosser Höhe gesteigerten Sinnenreiz zu beginnen. Nach Verlauf eines Jahres, wo seine moralische Willenskraft bald siegte, bald erlag, gewann sie die entschiedene Ueberhand, die Sinnlichkeit war überwunden. Es kommt in den sämmtlichen Akten nicht eine Spur irgend einer leidenschaftlichen Aufwallung des zum Brudermörder gewordenen Jünglings vor. Seine Geschwister liebten ihn, und nie hatte er mit ihnen einen ernstlichen Streit, seine Freunde achteten ihn, seine Eltern -- verehrten ihn, seine Lehrer schätzten ihn, viele Leute niederen Standes bewunderten ihn, eben sowohl wegen seiner feineren sittlichen Bildung, als wegen seiner Kenntnisse; in den angesehensten Häusern gab er Unterricht und erwarb sich durch sein bescheidenes Benehmen Freunde. Seine religiösen Gesinnungen waren rein, wie sich aus vielen vorgefundenen Aufsätzen und Briefen ergibt. Durch dieses in vielen Beziehungen reine Gemüth zieht sich jedoch von früher Jugend herauf ein dunkler Streif kränkelnder Schwermuth, frühreifer und überspannter Empfindelei. Man erkennt die unter dem Gefühle der früheren Sünde und der Zerknirschung, so wie durch übertriebene geistige Anregung emporgeschossene, aber matte und welke Treibhauspflanze. Peinlich ist besonders dieses Ringen nach Oben und zum Erfassen des Unendlichen bei der innewohnenden Gedankenarmuth des unglücklichen _Roth_. Ob die Entwicklung dieses kränkelnden Gemüthszustandes bis zur völligen Krankheit mehr eine Folge dessen war, dass er bei seinem Bruder das von ihm erlernte zerstörende Laster nicht mehr tilgen konnte, so wie, dass er bei zunehmenden Jahren in sich selbst den Sinnenreiz mit doppelter Kraft erwachen fühlte und ihn auf's Neue bekämpfen musste, oder ob daran sein durch vieles Sitzen und durch die früher getriebene Onanie angegriffener Unterleib und die eingetretenen hypochondrischen Leiden Schuld waren, lässt sich nicht mit Gewissheit bestimmen. Wahrscheinlich wirkten alle diese Ursachen zusammen. §. 4. Eine auffallende Reizbarkeit des Gefühles bei dem leisesten Tadel bemerkten und rügten zuerst um Ostern 1824 einige Lehrer des Gymnasiums. Der sonst folgsame Jüngling konnte jedoch diesen Fehler nicht ablegen, vielmehr stieg seine Reizbarkeit. Zur selben Zeit fingen seine geistigen Kräfte offenbar an mehr herabzusinken; Zerstreuung, Schwierigkeit im Festhalten und Aneinanderknüpfen der Ideen, Ermüdung durch jede anhaltende Arbeit, nahmen zu. Jene Progressionsrede (um Ostern 1825) umfasste einen reichhaltigen Stoff: über die christlichen Märtyrer, war aber in der Ausführung äusserst dürftig und schwach. _Roth_ hatte seine ganze Kraft und seinen ganzen Fleiss daran gesetzt, sie umgearbeitet und wieder umgearbeitet, aber es wurde doch nur ein glatter Rahmen zu einem matten Bilde. Die Anstrengung der darauf gewandten Arbeit blieb ihm noch lange fühlbar. Er schränkte die Zahl seiner Unterrichtsstunden ein, obwohl er in den dürftigsten Verhältnissen war. Die Vorbereitung zu seinen Universitätsstudien ging so wenig von der Hand und wurde mit solcher Zerstreuung betrieben, dass er die Autoren der Werke wieder vergass, die er lange und anhaltend studirt hatte. Festhalten seiner Gedanken, ohne äussere Beschäftigung durch die Feder, wurde ihm immer schwerer. Das Selbstgefühl einer geistigen und körperlichen Ermattung erzeugte eine grosse Mutlosigkeit und Melancholie; die Trauer über seinen früheren Fall vereinte sich mit dem Abscheu vor der wieder erwachenden Sinnlichkeit, und erzeugte ein Chaos trüber und verwirrter Gedanken[94]. [94] Man war bemüht gewesen, ihm ein Stipendium zum Studiren zu verschaffen. Er schrieb zu dieser Zeit an einen seiner Lehrer, worin er erklärte, dass er der reine Jüngling nicht mehr sei, für den man ihn halte, dass er früher Onanie getrieben, und dass man also jenes Stipendium (welches er später aus anderen Ursachen nicht erhielt) einem Würdigeren zuwenden möchte. Die Nächte brachte er mit Wachen und Weinen zu, welches oft so laut wurde, dass es seine bekümmerten Eltern aus dem Schlafe erweckte. Vorzüglich richteten sich seine Gedanken auf den durch sein Beispiel verdorbenen Bruder _Remigius_. Freilich, Gedanken, die den Festesten erschüttern und den Gottvertrauendsten niederwerfen konnten! Sein Bruder, sein geliebter Bruder, durch ihn dem zeitigen und -- nach seinem Wahne -- auch dem ewigen Verderben dahingegeben! Und keine Rettung! Früher wollte er Theologie studiren, jetzt wandten sich seine Ideen zur Pädagogik, wobei er (nach mehreren früheren Notizen) vorzüglich im Sinne getragen zu haben scheint, dass er die an seinem Bruder begangene Sünde durch Bewahrung anderer Kinder wieder austilgen möchte, und dies wollte er gleich beginnen, ohne sich vorher durch Universitätsstudien auszubilden[95]. [95] Er war so fest in dieser Idee, dass einer seiner älteren Freunde, der sie ihm ohne allen Erfolg auszureden suchte, und auf die wohlmeinendsten Gegengründe von dem sonst so sanftmüthigen Jüngling nur immer ein eigensinniges: „Ich will es aber, ich kann es aber!” zur Antwort erhielt, diese Idee schon damals als eine fixe betrachtete. Später dachte er auch daran, Rechtswissenschaft zu studiren, und arbeitete deshalb kurze Zeit bei einem Advokaten. Dass er den Geschmack an einer seinem ganzen Wesen so widerstreitenden Wissenschaft bald verlor, ist leicht zu begreifen; nicht so, wie er dazu kam. Dieses Schwanken über die Wahl eines Standes fiel in die Zeit, nachdem er das Gymnasium gänzlich verlassen hatte (Ostern 1826) und der Kampf in seinem Inneren wurde nun immer heftiger, es nahte die Entscheidung. §. 5. Den 12. Juni 1826 wollte sein Bruder _Remigius_ auf dem Marktschiffe nach Hanau fahren, um das dortige Lamboyfest zu schauen[96]. [96] Dieser Vorfall ist allein durch die späteren freiwilligen Geständnisse des _Kaspar Roth_ bekannt, und nur was die äusseren Thatsachen betrifft durch andere Zeugnisse bestätiget worden. _Kaspar Roth_ erbot sich, ihn zu begleiten, bat aber, dass sie lieber zu Fuss gehen möchten. Die Nothwendigkeit, _Remigius_ von der ewigen Vernichtung durch den Tod zu retten, war nunmehr feste Ueberzeugung bei Jenem geworden; er hatte beschlossen, das Instrument des Todes und der Rettung zu werden; auf jenem Gange nach Hanau wollte er den Mord vollbringen. Aber noch redeten gegen die Ausführung innere Stimmen seines Herzens. Nicht weit von Frankfurt wollte er umkehren. _Remigius_ bat ihn, weiter zu gehen. Sie gingen, und _Kaspar_ dachte nun wieder in Hanau zu bleiben, sich dort durch Informiren der Kinder zu erhalten und seinen Bruder unter beständige Aufsicht zu nehmen. Dann siegten abermals die Mordgedanken; er fühlte den Moment der Entscheidung nahen -- da stiegen schwarze Gewitterwolken empor, sie erkennt er als ein Zeichen des göttlichen Unwillens über sein Vorhaben, und umarmt weinend seinen Bruder mit den Worten: „Lasse uns zurückkehren! Du bist ja mein lieber Bruder!” _Remigius_ getraute sich nicht mehr der Rückkehr zu widersprechen, er fühlte die Bewegung in der Brust seines Bruders und das Ausserordentliche in seinem Wesen. Gerührt, erschüttert, bang, folgte er gern zur Heimat. Niemand durfte dort _Kaspar_ über jenen Vorgang befragen. Jede Erinnerung daran war ihm augenscheinlich schmerzvoll und beängstigend. Seine Stille und sein dumpfes Hinbrüten nahm seitdem zu; am 24. Juni war er plötzlich verschwunden; die Eltern vermutheten Selbstmord. Nach einigen Tagen schrieb das Justizamt in Königstein an das Polizeiamt zu Frankfurt, dass man in der Gegend einen geisteskranken Menschen, ohne Pass, festgehalten habe, und liess einen Tag später _Kaspar Roth_ auf dem Schub nach Frankfurt zurückbringen. Die Ursache, warum er sich so heimlich entfernte und seine Eltern dadurch in die grösste Besorgniss versetzte, ist schwer auszumitteln; er schrieb wenige Tage zuvor an einen Freund in Idstein, dass er ihn besuchen wolle, und nahm am 24. Juni auch wirklich den Weg dahin. Warum verbarg er denn ein so einfaches Vorhaben? Der wahrscheinlichste Grund ist, dass er den ihn immer umlagernden Mordgedanken entfliehen wollte. Diese Gedanken traute er sich Niemandem zu offenbaren. Statt aber nur sie zu verbergen, verbarg er, in Folge der schon herrschenden Geistesverwirrung, seine vorhabende Reise selbst. Da er von mehreren seiner Lehrer nach der Rückkehr um die Ursache seines heimlichen Verschwindens befragt wurde, gab er freilich jene beängstigenden Mordgedanken nicht an, so wie es überhaupt bemerkenswerth ist, dass er sie vor der That ganz heimlich hielt. Er behauptete vielmehr, dass er verschiedenen, seiner Keuschheit von mehreren Mädchen und Frauen gemachten Nachstellungen habe entrinnen wollen. Diese Nachstellungen waren jedoch lediglich in seiner Einbildung gegründet; die in ihm mit neuer Macht erwachte Sinnenlust hatte er auf Andere übertragen (seine subjektiven Gefühle objektirt). Alles, was er von seinem Zustande während jener kurzen Abwesenheit später erzählt hat, deutet darauf hin, dass damals der Sinnenreiz eine furchtbare Höhe und eine alle anderen Fähigkeiten verwirrende Kraft erreicht hatte. Es mag also auch darin zum Theile eine Veranlassung seiner plötzlichen Entfernung gelegen haben. Jene Erzählung ist folgende: _Roth_ begab sich am 24. Juni auf den Weg nach Idstein; da er auf dem Gipfel des Stauffen (eines unweit Königstein gelegenen Berges) angelangt war, erschienen ihm plötzlich alle Gegenstände doppelt, Bäume und Blumen begannen mit ihm zu reden, er fühlte, dass er so nicht unter Menschen gehen könne, und folgte Berg auf Berg ab dem Gesange der Vögel; sie sangen von seiner Keuschheit. Dann begegnete er, als Engel, zwei Jungfrauen, und hielt ihnen eine blaue Blume entgegen; endlich sank er ermüdet in einen Busch. Hier war es ihm, als müsse er sich seiner gebrüsteten Keuschheit entledigen, gleichsam seinen Stolz auf Tugend durch Sünde büssen. Im Wahnsinne beging er zum ersten Male wieder Onanie. Kaum war aber der Reiz befriediget, so erhielt wieder Alles eine andere Gestalt vor seinen Augen; wahnsinnige Reue folgte der unwillkürlichen Sünde; zur Busse wollte er sich zuerst als Rinderhirt, dann als Schweinhirt verdingen. Die Frau (aus dem Dorfe Elhalten), welcher er diesen Dienst anerbot, ahnte seinen Zustand, lud ihn zu sich in's Haus und übergab ihn dem Schulzen des Dorfes, dieser dem Amte zu Königstein. Aus seiner zerrissenen und durchnässten Kleidung (zwei Tage war er durch Wald und Busch geirrt und beim Verfolgen einer grünen Wasserlibelle in einen Bach gefallen), seinem sonderbaren, obwohl nicht unvernünftigen Benehmen, seinem hartnäckigen Zurückweisen aller Speise, davon er doch zwei Tage lang nichts genossen -- schlossen die Behörden und Bauern zu Königstein und Elhalten, dass er geisteskrank sei. II. =Zustand des _Kaspar Roth_ kurz vor und während des von demselben verübten Brudermordes.= §. 6. Als _K. Roth_ nach Frankfurt zurückgebracht war, zeigten sich zwar keine so offenen Spuren dieses kranken Zustandes mehr -- er kehrte zu seinen gewöhnlichen Beschäftigungen mit anscheinender Ruhe und Fassung zurück, doch war es gerade damals, wo sein sonderbares Wesen, seine angenommene Heiterkeit, sein oft verzerrtes Lachen, verbunden mit einem scheuen und ängstlichen Benehmen[97], seinem Arzte und mehreren seiner Lehrer auffiel; auch gab er damals, wenn er den Fragen über sein Verschwinden nach Königstein nicht ausweichen konnte, jene widersinnigen Gründe an, die oben berührt wurden. Zu Hause war sein Benehmen durchaus verschlossen und still. Seine Verwandten indessen hofften noch immer auf eine Wiederherstellung. [97] Vor der Gegenwart eines kleines Mädchens, welches er sonst geliebt hatte, schien er sich wahrhaft zu fürchten. Weil ihm Bewegung und Erheiterung angerathen ward, ermunterte ihn seine Schwester am 18. Juli 1826 zu einem Spaziergange in den öffentlichen Anlagen. An diesem Tage, so wie wahrscheinlich auch an den vorhergehenden, bewegten _Roth_ wieder die trüben Gedanken über das Schicksal seines Bruders _Remigius_, der zu einem Schreiner in die Lehre gekommen war, jedoch die Anstrengung der Arbeit nicht wohl ertragen konnte. Die Idee, dass diesen nur der Tod erretten könne, war mit doppelter Gewalt zurückgekehrt. Die bessere Einsicht des unglücklichen Jünglings, wodurch er diese Idee hätte verscheuchen sollen, war noch mehr zerfallen. Sonderbare Vorstellungen über göttliche Mittheilungen durch Zeichen der äusseren Natur hatten sich festgesetzt[98] und waren in Verbindung mit den düsteren Mordgedanken getreten. [98] _Roth_ erinnerte sich dessen, was er in _Xenophon's_ Memorabilien über den =Dämon=, die =innere Stimme= des _=Sokrates=_, gelesen. Des Einflusses, welchen das Aufsteigen eines Gewitters bei seinem Gange mit _Remigius_ nach Hanau hatte, ist schon erwähnt worden, ebenso, dass er auf dem Gipfel des Stauffen die Stimme der Bäume und Vögel vernommen; dass der Gesang der Letzteren einen inneren Sinn habe und göttliche Worte verkünde, dieses war zu dieser Zeit in ihm eine fixe Idee geworden[99]. [99] Unter fixer Idee wird verstanden, wenn ein =sonst nicht unvernünftiger Mensch= gewisse, der Vernunft widerstreitende Ansichten hat, die er selbst nicht durch Schlüsse des Verstandes angenommen und auf diese gebaut hat, sondern die er im Wahne als etwas Positives anerkennt. Ist der Mensch völlig unvernünftig, so gibt es keine =einzelnen= fixen Ideen mehr, diese verlieren sich in der Masse von Unvernunft. _Roth_ verrichtete damals noch alle seine gewöhnlichen Beschäftigungen mit Besonnenheit, sprach auch über die meisten Gegenstände mit aller Klarheit, nur nicht, wenn man auf die Ursachen seiner heimlichen Entfernung kam. Er war also im =Ganzen= vernünftig, nur nicht in Bezug auf spezielle Gegenstände. Eben so stand es mit ihm auch nach seiner schaudervollen That, und so steht es auch noch jetzt. In Bezug des Glaubens an Vogelsang sind seine in dem Verhöre am 16. August gegebenen Antworten wichtig. =Frage=: Ob er nicht geglaubt, dass die Vögel nur instinktmässig gesungen. =Antwort=: Damals sei er nicht anders zu glauben im Stande gewesen (nämlich, als dass die Vögel nicht instinktmässig sängen), zumal er aus den Schriften der Alten gewusst, dass diese grosses Gewicht auf den Gesang der Vögel gelegt und 14 Tage vorher in _Xenophon's_ Memorabilien eine darauf Bezug habende Stelle: _de daemone Socratis_, gelesen. =Auch jetzt sehe er nicht ein, dass der Gesang der Vögel zufällig sei, er hätte denselben nur nicht so auslegen sollen!= Er sei noch in seiner Meinung ungewiss, allein die That hätte er doch nicht thun sollen. Auf der einen Seite nun die düsteren Gedanken über das zeitliche und ewige Verderben seines Bruders, über die einzige Möglichkeit von dessen Errettung durch den Tod, über seinen eigenen Beruf: das Instrument dieser Rettung zu werden, im Sinne tragend; auf der anderen Seite zur Ausführung dieser von höherer Pflicht erheischten Gräuelthat durch äussere zufällige Zeichen der Natur bald abgeschreckt, bald dazu hingezogen, bald durch sie die göttliche Missbilligung, bald die göttliche Billigung seines Vorhabens erkennend; mit einem so schwankenden Ruder in den reissenden Wellen seines bis in die Tiefe erschütterten Gefühles und seiner gewaltig drängenden Gedanken wurde _Roth_, obwohl seine innere Stimme noch immer der That widerstrebte, dennoch zu ihr fortgerissen. §. 7. Nach dem Spaziergange mit seiner Schwester war er ruhiger nach Hause gekommen; um 10 Uhr Morgens stiegen die Gedanken wieder mit Uebermacht empor; er war mit seinem Bruder allein im Zimmer, ergriff den Stiefelknecht seines Vaters und hob ihn mit Verzerrung seines Gesichtes und knirschenden Zähnen. _Remigius_ glaubte, er wolle sich selbst ein Leid zufügen und fiel ihm mit den Worten in die Arme: „Thue dir doch nichts!” Erschüttert von den Worten des seine Gefahr nicht ahnenden Bruders liess _Kaspar_ den schon zum Morde gehobenen Arm sinken, beide Brüder weinten, der eine den anderen betrauernd. Nachmittags suchte _Kaspar_ seine immer wieder aufsteigenden Mordgedanken abermals durch einen Spaziergang zu zerstreuen, aber an einem Weiher in den öffentlichen Anlagen vernahm er den Gesang eines Vogels, dessen Lieblichkeit er auf das göttliche Wohlgefallen an seinem Vorhaben deutete, mithin in diesem auf's Neue bestärkt wurde. Abends 5 Uhr gab er eine Unterrichtsstunde, während welcher Niemand zu Hause war, als sein Bruder _Remigius_, der, erschöpft und schlummernd, seinen Kopf auf den Tisch gelehnt hatte. Dieser Umstand führte entscheidend zu dem traurigen Ende des Armen. Seine Erschöpfung musste in dem düsteren Bruder mit neuer Kraft den Gedanken erwecken, dass das Laster der Onanie seinen Körper der Vernichtung entgegenführe; mit der Vernichtung des Körpers sah Jener auch die Seele dahinschwinden. Der Schlummer des Unglücklichen bot auf der anderen Seite das Bild der ewigen Ruhe durch den Tod. Von diesen Gedanken erfasst, durch den Unterricht (den er mit der grössten Anstrengung und sichtbarer Zerstreuung fortsetzte) an die Stelle gefesselt, gewann der Sturm in _Kaspar's_ Innerem völlige Ueberhand, er war nun seiner nicht mehr mächtig. Kaum hat der Schüler das Zimmer verlassen, so ergreift er ein schweres Holz in der benachbarten Küche, springt mit gellendem furchtbaren Schrei auf _Remigius_ los, und schmettert ihn mit wenigen Schlägen todt zu Boden. Während der That glaubt er ihn als Engel zum Himmel schweben zu sehen, wirft sich weinend auf die Leiche, überlässt ruhig den auf das Geschrei herbeieilenden Männern das Mordinstrument und sagt wiederholt: „Ihm ist wohl; er ist gut aufgehoben, er ist im Himmel!” III. =Zustand des _Kaspar Roth_ nach dem Brudermorde.= §. 8. _Kaspar Roth_ war unmittelbar nach dem grausamen Morde seines Bruders, der nur noch einige Zeichen des konvulsivischen Lebens gegeben hatte, nicht aber zum Bewusstsein zurückgekehrt war, in das Gefängniss abgeführt worden, ohne den geringsten Widerstand und ohne die mindesten Anstalten zur Flucht. Wer sollte bei einem von Natur so gutmüthigen, seinen Eltern und vorzüglich seiner Mutter so anhänglichen Jüngling, der offenbar den Bruder nur aus Liebe erschlagen hatte, nicht nach der That die grösste Reue, nicht beim Anblicke der Mutter, die an einem Tage zwei Söhne, und den einen durch den anderen, verloren hatte, die grösste Erschütterung vermuthen? -- Davon zeigte sich keine Spur. Er bedauerte die Mutter, er war gerührt bei dem Gedanken an den geliebten Bruder, aber Reue über die That zeigte er nicht, und hat sie eigentlich nie gezeigt. Mehrmals ist er später, wie es scheint in lichten Zwischenmomenten, zu der Ansicht gekommen, dass er das Schicksal seines Bruders hätte Gott überlassen sollen, so wie er auch vorher oft gegen den Entschluss angekämpft hatte, aber die Reue, welche ein das Gute wollender Mensch bei dem Gefühle eines =wider besseres= Wissen verübten Unrechts und eines =schuldvoll verursachten= unersetzlichen Verlustes empfindet, dieses herbe und erschütternde Gefühl hat sich niemals bei _Kaspar Roth_ gezeigt. Dass sein Bruder sterben musste, dass ihm der Tod eine Wohlthat, eine Errettung war: davon war er zu aller Zeit, und davon ist er, wenn nicht Alles trügt, noch jetzt überzeugt. Deshalb konnte er wohl zweifeln über seinen eigenen Beruf zu dieser Errettung, niemals aber beklagen, dass sein Bruder diese Welt verlassen habe[100]. [100] Merkwürdig ist ein Zettel, welchen er einige Tage nach der That schrieb: _Quod perpetrari scelus rectum non esse divinis humanisque legibus intelligo confiteor [et me poenit], et me amentia raptum hoc fecisse pluribus probare cum postuletur suscepturus sum._ Der exaltirte Zustand, in welchen _Roth_ vor der That und durch die That gerathen war, die Flut der wilden Gedanken und Gefühle hatte sich gelegt und Ebbe war eingetreten. Auf der Bank des Gefängnisses, wo ihn der _Physicus prim._ eine Stunde nach der That besucht hatte, konnte ihn nicht die Erinnerung an seine unglückliche Mutter und selbst nicht an die noch fortdauernden körperlichen Leiden seines geliebten Bruders erschüttern. Gott, sagte er, habe ihm die schwere That befohlen, sein Bruder werde nun selig sein. Einige Tage darauf schrieb er nun jenen Zettel. Bemerkenswerth ist, dass auf diesem die Worte: „_et me poenit_” wieder ausgestrichen sind. §. 9. In den Verhören, welche bald nach der Erschlagung des _Remigius Roth_ veranstaltet wurden, ergab sich durch einstimmige Aussage aller vernommenen Zeugen, dass dessen Mörder immer die sanfteste Gemüthsart gezeigt, und namentlich mit dem Erschlagenen im besten Einverständnisse, ohne allen Streit, gelebt hatte; dass er die Menschen im Allgemeinen nicht hasste, seine Verwandten, insbesondere aber den Bruder _Remigius_, aufrichtig liebte. Seinen bedenklichen Geisteszustand hatten zwar, namentlich nach der Rückkehr von Königstein, einige seiner Lehrer bemerkt; allein von der finsteren Richtung, welche seine Gedanken im Stillen genommen hatten, auch nicht das Mindeste geahnt. Alle Aufschlüsse hierüber, so wie seinen Glauben an göttliche Offenbarungen durch die äussere Natur, sind erst von ihm selbst nach der That gegeben worden, jedoch mit der vollkommensten inneren Uebereinstimmung, und mit einem unverkenntlichen Streben nach Wahrheit. In dem ersten Verhöre antwortete er auf die Frage: warum er diese grausenvolle That gethan: „Weil mein Bruder selig werden sollte und ich das an ihm wieder gut machen wollte, was ich an ihm verdorben; das muss man ja! Ich habe weinen und es doch thun müssen.” Die furchtbarste Gemüthsbewegung offenbarte sich immer in ihm, wenn er näher über das befragt wurde, was er denn eigentlich an seinem Bruder verbrochen, und was er denn gut machen wollen. Erst im zweiten Verhöre konnte er dieses Geständniss in gebrochenen Worten ablegen. Seine Erschütterung vor Scham und bitterer Reue stieg hier auf den höchsten Grad. Mit der wahrhaftesten Genauigkeit schilderte er seinen inneren Zustand kurz vor der That. Der Untersuchungsrichter brauchte für seine Mordgedanken den Ausdruck =Vorsatz=. Hierauf bemerkte er: „Sie nennen es Vorsatz, dieses war es aber nicht, sondern es hat mich während der Lektion so gefasst, um es gleich nach der Lektion auszuführen, die ich jedoch desfalls nicht abgekürzt.” Bei Vorlesung des Protokolls bemerkte er hierzu: „Ich kann nicht genau unterscheiden, ob Gefühl oder Vorsatz mich überwältigt hat. Ich glaubte etwas Gutes gethan zu haben; ich weiss für mein damaliges Gefühl keine andere Benennung.” Nämlich ein Vorsatz zur That war allerdings schon lange bei _Kaspar Roth_ vorhanden, er glaubte sie zur Rettung seines Bruders nothwendig; aber die Ausführung geschah durch die Ueberwältigung des Affektes (Gefühl). Einer seiner Lehrer besuchte ihn mehrmals allein in dem Gefängnisse, und gab den Inhalt seiner Unterredungen mit ihm zu den Akten. Nichts war ihm schrecklicher, als der Gedanke, welcher ihm auch einst während des Lesens einer Predigt gekommen war: dass ihn vielleicht nicht Gott, sondern Satan zur That getrieben, und dass der Böse in ihm sei. Uebrigens stieg eine Zeit lang während des Aufenthaltes im Gefängnisse seine Sinnenverrückung, wovon sich in jenen Unterredungen die deutlichsten Spuren zeigten. Vorzüglich trat auch hier, wie so häufig bei solchen Zuständen, das Verwechseln des Subjektiven mit dem Objektiven, und dieses mit jenem hervor. Seine Gedanken wurden ihm zugerufen, er glaubte selbst zu sprechen, was er las. Bei jener zunehmenden Geistesverwirrung schweiften auch seine Gedanken von dem Morde seines Bruders auf den seiner übrigen Verwandten; der Zweifel über ihre ewige Seligkeit, welcher bei dem Bruder noch ein scheinbar vernünftiges Gewand getragen hatte, bemächtigte sich seiner ganz ohne begründendes Motiv, so wie Sorge um ihr irdisches Fortkommen. Er fürchtete sich vor dem Anblicke seiner Mutter und rief im Schmerze: „Ich kann doch nicht immer ein Würgeengel sein!” Später kehrte wieder ein ruhiger Zustand zurück, und gegenwärtig besucht ihn seine Mutter zuweilen. IV. =Gutachten der Medizinalbehörde über die Ursachen und die Beschaffenheit der Seelenstörung des _Kaspar Roth_.= §. 10. Die Medizinalbehörde zu Frankfurt am Main hatte in ihrem Sektionsberichte vom 19. Juli 1826 ausgesprochen: „Dass _Remigius Roth_ an den am Abend vorher erhaltenen Wunden eines nothwendig schnellen und unaufhaltsamen Todes gestorben sei.” Nach vollendeter Untersuchung wurden ihr von dem Appellationsgerichte daselbst (der ersten Instanz in peinlichen Fällen) folgende Fragen vorgelegt: „Ob die Geisteskräfte des _Kaspar Roth_ verletzt seien; von welcher Beschaffenheit und welchem Grade in solchem Falle die Geisteszerrüttung sei, und in welchem Zusammenhange sie mit der von _Roth_ begangenen Ermordung seines Bruders stehen möchte.” Diese Fragen wurden in einem ausführlichen Gutachten wieder beantwortet, welches in seinem ersten Theile das Leben des _Kaspar Roth_ vor und nach der That, so wie sein Benehmen während derselben, historisch darstellte. Hier wurde zuerst hervorgehoben die schwächliche Konstitution desselben, seine Zeugung im 57. Lebensjahre seines Vaters, dessen Tochter erster Ehe gleichfalls schon in dem Irrenhause wegen Geisteskrankheit eine Zeitlang befindlich gewesen; ferner seine früheren Nervenkrankheiten, die von ihm getriebene Onanie, seine dürftige Lebensweise und sein angestrengtes Arbeiten, welche Umstände zusammen die Entwicklung einer Seelenstörung hinlänglich erklärten. Nachgewiesen wurde sodann, wie solche wirklich schon bei seinem Abschiede vom Gymnasium (um Ostern 1825) begonnen hatte, und von dieser Zeit bis zum Gange mit dem Bruder nach dem Lamboyfeste, am 12. Juni 1826, der kränkliche Zustand des _K. Roth_ mit schweren Gemüthsleiden verknüpft war und sich bei ihm vielfache Spuren eines hohen Grades von Hypochondrie zeigten. Endlich wurden alle diese Krankheitssymptome und der Ausbruch des Uebels in den Begebenheiten bei jenem Gange nach dem Lamboyfeste, dem Verschwinden nach Königstein, der Erschlagung des Bruders und dem späteren Verhalten des _Kaspar Roth_ weiter verfolgt. In einem zweiten Theile jenes Gutachtens wurden sodann die Ansichten berühmter Lehrer der Arzneikunde über einen solchen Gemüthszustand dargelegt, und zwar vorzüglich folgende: Nicht allein das Vorstellungsvermögen, sondern auch andere Grundkräfte der Seele könnten angegriffen werden, weshalb die Quelle der Freiheitslosigkeit nicht immer in einem zerrütteten Verstande zu suchen sei, wie auch schon die Melancholie und Manie an und für sich bewiesen. Deshalb könnte auch als Kriterium freier Handlungen nicht allein der Verstand gelten. -- Hierzu wurden als Autoritäten angeführt: _Masius_, „Grundsätze der gerichtlichen Arzneiwissenschaft,” Bd. II., 2. Abtheilung S. 485, 538. _Heinroth_, „System der psychologisch-gerichtlichen Medizin,” S. 133. Der Affekt könne bei einer Seelenstörung bald in den Regionen des Geistes, bald in denen des Gemüthes und bald in denen des Willens vorherrschend primär sein. Zu den Affektionen des Geistes gehören: Blödsinn, Wahnwitz, Verrücktheit, Narrheit; zu denen des Gemüthes: Wahnsinn und Melancholie; zu denen des Willens: Manie und Willenlosigkeit[101]. [101] Diese Eintheilung der Seelenstörungen entspricht ganz derjenigen, welche _Heinroth_ annimmt („System der psychologisch-gerichtlichen Medizin” §. 40 und 41), wo man also das Nähere darüber nachsehen kann. Als Veranlassung zu psychischen Störungen kämen vor: erbliche Anlagen, fehlerhafte Kultur der Seelenkräfte, Temperament (vorzüglich das cholerische und melancholische), ferner die alienirte Stimmung des Nervensystems (Hypochondrie und Hysterie). Die Hypochondrie stehe zwischen psychischen und physischen Uebeln gleichsam in der Mitte, besonders der Melancholie und dem Wahnwitze nahe. Der im Unterleibe kranke Hypochondrist habe das Gefühl herannahenden Unglückes, grosser begangener Verbrechen, woraus sich oft ein Zustand völliger Verwirrung, ein blinder Drang, der qualvollen Angst auf irgend eine Art zu entgehen, erzeuge. Sehr ähnliche psychische Symptome erschienen in der Melancholie, nämlich ebenfalls das Gefühl eingebildeter Verbrechen, herannahenden Unglückes, verbunden mit verkehrten Ideen, wodurch der Melancholische zum Selbstmord oder zum Morde Anderer getrieben werde, im Wahne, dass er diese befreien wolle, oder dass es ihm Gott befohlen habe. -- Als Autorität wird hier angeführt: _Böhmer_, „_Medit. in const. Cur. crimin._” §. 865, und schliesslich wurden die körperlichen Symptome dargestellt, welche man bei Melancholischen gewöhnlich findet. In einem dritten Theile jenes Gutachtens wurde entwickelt, dass die in dem vorhergehenden Theile angeführten möglichen Ursachen einer psychischen Störung: 1. erbliche Anlage, 2. fehlerhafte Ausbildung der Seelenkräfte, 3. melancholisches Temperament und 4. Hypochondrie, laut der in dem ersten Theile des Gutachtens gegebenen historischen Lebensdarstellung des _Kaspar Roth_, alle bei diesem unglücklichen Jünglinge vereinigt vorhanden wären, und da, nach _Meckel's_ „Beiträgen zur gerichtlichen Psychologie,” S. 38 u. f., der Mangel egoistischer Motive in zweifelhaften Fällen allein schon zu Gunsten eines Angeklagten entscheide, so stehe als Beantwortung der aufgeworfenen Frage fest: „dass die Geisteskräfte des _Kaspar Roth_ verletzt[102] seien und gewesen wären, und dass der hohe Grad von Melancholie und Geisteszerrüttung insofern im innigsten Zusammenhange mit der von ihm begangenen Ermordung seines Bruders stehe, als _Roth_ der Freiheit und Selbstbestimmung hierdurch immer mehr beraubt worden, und in einem völlig gebundenen Zustande die That verübt habe[103]. [102] Von Geisteszuständen gebraucht, ein sonderbarer Ausdruck. [103] Nach dem Zwecke, den das Gutachten erreichen sollte, handelte es sich nicht um den Zusammenhang der Melancholie mit der Ermordung, sondern es hätte gesagt werden sollen: „=Die Ermordung= des _Remigius_ durch _Kaspar_ ist eine =Folge= von dessen Melancholie und Geisteszerrüttung.” oder: sie ist =keine Folge=, nicht aber dürfte von einem blossen =Zusammenhange= gesprochen werden. Die richterliche =Frage=: in welchem Zusammenhange etc. hätte übrigens noch dahin ergänzt werden sollen: ob sich die Ermordung des _Remigius_ durch _Kaspar_ zu dessen Melancholie und zu seinen verwirrten Gedanken und Ansichten nicht entschieden wie Wirkung und Ursache verhalte. Diesem Gutachten wurde noch ein Anhang über die sogenannte _amentia occulta_ beigefügt, mit Bezug auf _Platner_ („_Quest. med. for._”), wornach diese sogenannte _amentia occulta_ als eine noch unreife persönliche[104] Krankheit zu betrachten, und der partielle Wahnsinn daher zu erklären wäre, dass oft wiederkehrende Gefühle und Affekte sogar die Freiheit eines Gesunden eine Zeit lang in Anspruch nehmen können[105]. [104] Gibt es auch andere als persönliche Krankheiten, d. h. Krankheiten einer Person, wenn es sich überhaupt um den Zustand eines menschlichen Individuums handelt? [105] Eine mehr als kühne Hypothese! Wenn nun die unreife Seelenstörung den damit Behafteten an Verrichtung seiner Lebensgeschäfte hindert[106], oder die fixe Idee auf seine Handlungen Einflüsse äussere, so höre die Zurechnung auf. (_Heinroth's_ „System der psychologisch-gerichtlichen Medizin,” §.64 und 65.) [106] So dürfte sie nach unserer Ansicht wohl nicht mehr eine =unreife= genannt werden. Reif oder unreif auf Krankheiten angewendet, sind nur relative Begriffe, insofern man eine bestimmte Krankheitsform berücksichtigt, sie können aber nicht angewendet werden, sofern man den normalen geistigen oder körperlichen Zustand berücksichtigt. Der =normale= Zustand ist =vorhanden= oder er ist =nicht= vorhanden, und dies Letztere ist bei jeder Störung der Gesundheit der Fall. Der Mensch, welcher von einer leichten Unpässlichkeit befallen ist, ist =nicht= mehr gesund, sondern er ist =krank=, und insofern er krank ist, ist die Krankheit auch =reif=. Der Arzt mag mit Recht in dieser Unpässlichkeit den Vorläufer einer wichtigeren Krankheit erblicken, welche sich eben entwickelt; den Richter, welcher es nur damit zu thun haben kann, ob eine zu einem gewissen Zeitpunkte Statt gefundene Handlung eines Individuums die Folge des =wirklich vorhandenen= Zustandes ist, geht es offenbar nicht das Mindeste an, welche =pathologische Zukunft= dieser gegenwärtige Zustand darbietet. Man sieht hieraus, dass der Unterschied von reifen oder unreifen Seelenstörungen gar nicht in die gerichtliche Medizin gehört. * * * * * Wir übergehen nun dasjenige, was der Defensor zu Gunsten des _Kaspar Roth_ anführt, und welches sich im Wesentlichen auf die allerdings nicht unbegründete Behauptung beschränkte, dass bei den Grundsätzen, welche er in seiner Erziehung angenommen und in seinem sonstigen Lebenswandel an den Tag gelegt hatte, eine solche That durchaus nicht motivirt sei, und daher nur als Folge einer Seelenstörung erklärt werden könne. V. =Urtheilspruch.= §. 11. Nachdem diese Verteidigungsschrift eingelangt war, wurden die Akten zum Spruche an die juristische Fakultät zu Tübingen versandt. Diese Fakultät bemerkte, nachdem in den Entscheidungsgründen der faktische Hergang der ganzen Sache auf das Genaueste angegeben war, in der juristischen Beurtheilung vorzüglich das Folgende: Der objektive Thatbestand des angeschuldigten Verbrechens sei gewiss; in Bezug auf den subjektiven Thatbestand erkläre das ärztliche Gutachten den Inquisiten für unzurechnungsfähig. Die Streitfrage, ob der Richter gegen ein solches Gutachten entscheiden dürfe, könne hier umgangen werden, da keine verschiedene Ansicht des Richters obwalte. Eine Prüfung des ärztlichen Gutachtens erschiene aber schon deshalb als nothwendig, weil solches auf ungegründeten faktischen Voraussetzungen beruhen, oder aus anderen Gründen als unzulänglich erscheinen könne, wornach denn eine weitere Erklärung einer anderen Medizinalbehörde erforderlich werden würde. -- Ebenso könne die Streitfrage über Vermuthung der Zurechnungsfähigkeit und über das qualifizirte Geständniss hier umgangen werden, weil selbst Diejenigen, welche Zurechenbarkeit vermutheten und dem Inquisiten den Beweis der Qualifikation seines Geständnisses aufbürden wollten, im =vorliegenden Falle= seine Aussagen über seinen Zustand und seine Motive als wahr annehmen müssten; denn seine Wahrhaftigkeit bezeugten sämmtliche Akten, die Zeugnisse seiner Lehrer, Eltern und Freunde, seine Vorgefundenen Skripturen, die genaue Uebereinstimmung aller erwiesenen Thatsachen mit diesen Aussagen, und dass Erstere nur durch Letztere erklärt werden könnten. Nach diesen Vorbemerkungen schritten nun die Entscheidungsgründe zur näheren Beurtheilung der Sache selbst: Die Medizinalbehörde habe zwar in ihrem Gutachten gesagt, dass sich kein egoistischer Zweck der fraglichen That auffinden liesse, und dass dieses allein für sich, wenn der Zustand des Inquisiten zweifelhaft wäre, sprechen und entscheiden würde. Diesem Grundsatze scheine auch _Heinroth_ („System der psychologisch-gerichtlichen Medizin,” S. 277) beizustimmen. Allein, wenn zwar unzweifelhaft sei, dass das Dasein eines egoistischen Motivs ein Beweisgrund der Zurechenbarkeit sei, so könne man doch den Satz keineswegs umkehren, und schon den Mangel eines solchen an sich für einen Beweisgrund der Zurechnungslosigkeit erklären. (_Hitzig_, „Zeitschrift für die Kriminal-Rechtspflege,” Bd. I., S. 267. _Mittermaier_, „_Disquis. de alienat. ment._” _p. 53, sqq._) So z. B. sei die That _Sand's_ nach der Aeusserung von _Heinroth_ (in der Schrift gegen _Mark_ und für _Klarus_, S. 39) rein aus einer der Vernunft angehörigen und an sich nicht widersinnigen Idee, nämlich aus der Idee der Freiheit, hervorgegangen[107]. [107] Die weiter folgenden Zweifelsgründe gebe ich der grösseren Genauigkeit wegen wörtlich an. „Ohne Beachtung der Nebenumstände könnte die That des Inquisiten eben so erscheinen, nämlich aus der Ueberzeugung hervorgegangen, dass sein Bruder äusserlich in diesem Leben nicht glücklich werden könne, und innerlich und moralisch jeden Tag nur mehr in Versunkenheit gerathen, und sofort sein Seelenheil gefährdet werde, dass es also für denselben in jeder Hinsicht besser sei, er sterbe. Er fasste, wie es scheint, aus brüderlicher Liebe den Entschluss, den Bruder zu tödten. Er kämpfte aber gegen diesen Entschluss an, weil er, wie es scheint, ihn nach göttlichen und menschlichen Gesetzen für unrecht hält, und überwindet ihn mehrmals. =Wo aber noch Kampf ist, da ist in der Regel noch Freiheit.= Es ist hier in keiner Beziehung die Freiheit, weder des Urtheiles noch des Willens, aufgehoben, sondern es entschloss sich hier Inquisit zu einer That, bei der er gegen das Gesetz blos seinen individuellen Ansichten und besonderen Gefühlen, wenn gleich in einem Affekte, aber doch nicht durch wahre Seelenstörung krankhaft bestimmt folgte. Zwar, möchte man dagegen einwenden, deutet die Auslegung des Vogelgesanges vor der That, deutet die Ruhe bei seinem Ertapptwerden und bei seiner Verhaftung, ferner die Stimmen, welche, wie Herr Professor _H._ berichtet, Inquisit in seinem Gefängnisse hören, und die Visionen, die er daselbst haben will, auf Gemüthskrankheit hin, allein auch hier scheint wieder gesagt werden zu können, dass hieraus sich noch nicht auf Seelenstörung schliessen lässt. Denn was die Stimme betrifft, so sind solche Einbildungen, fremde Stimmen zu hören, namentlich bei Personen, die, wie Inquisit, an Unterleibsbeschwerden leiden, gar nicht seltene Erscheinungen, und lassen an sich noch gar nicht auf wahre Seelenstörung schliessen. (_Klarus_, S. 41, 46, 47, „Ueber die Zurechnungsfähigkeit des Mörders _Woyzeck_.”) Was aber die Visionen des Inquisiten im Gefängnisse betrifft, welche sich sämmtlich auf seine That beziehen, so lassen sich solche eben so leicht durch eine aufgeregte Phantasie des über eine verbrecherische That bekümmerten und wehmüthigen Thäters erklären. Eben so scheint es mit der Auslegung des Vogelgesanges zu sein. Es könnte dieses auch ein blosses Hineintragen des Subjektiven in etwas Objektives sein, das auch noch gar nicht an sich Seelenstörung beweist. Was aber die Ruhe, mit der er sich ertappen und verhaften liess, betrifft, so könnte man sich daraus erklären, dass er entweder unmöglich, oder doch seinem Inneren nicht zusprechend fand, den Händen der Gerichte sich zu entziehen. -- Freilich ist nicht zu läugnen, dass Inquisit zur Zeit der That und vorher körperlich krank und auch allerdings geistig nicht ganz gesund gewesen; ob aber diese Krankheit eine die Zurechenbarkeit, die Freiheit im Urtheile oder Wollen und Handeln aufhebende war, dies scheint auf den ersten Anblick zweifelhaft. Alle die Uebel, woran Inquisit litt, sind noch keine Beweise wahrer Seelenstörung, sondern, wie _Klarus_ a. a. O. S. 43 sagt: „blos Symptome der Hypochondrie, welche, wie unzählige Erfahrungen bei den achtbarsten, geistreichsten und thätigsten Männern lehren, den freien Gebrauch des Verstandes und die Selbstbestimmung nicht hemmen oder gar aufheben.” §. 12. Nachdem nun auch in den Zweifelsgründen erwähnt worden war, dass Inquisit kurz vor der That zu allen gewöhnlichen Geschäften fähig gewesen, zum Unterrichte und zum zusammenhängenden Sprechen und Schreiben, lenkt das Urtheil zu den die Freisprechung bestimmenden Motiven folgendermassen ein: „So scheint, wenn wir die einzelnen Erscheinungen beim Inquisiten als einzelne und isolirte herausheben, das Resultat auf Zurechnungslosigkeit nicht zu führen. Allein ganz anders wird das Resultat, wenn man jene Erscheinungen, wie man muss, in ihrem Zusammenhange alle als zugleich beim Inquisiten vorhanden betrachtet, und dann noch einige andere ebenfalls vorhandene Fakta hinzunimmt.” Diese besonderen Fakta wurden in der Entweichung des Inquisiten nach Königstein und seinem Benehmen während derselben, auch bei der Erschlagung seines Bruders, gefunden, und der Zustand desselben als ein anfangs hypochondrischer, dann in Melancholie übergegangener geschildert, mit welchem sich eine fixe, mit unwiderstehlicher Gewalt treibende Idee und Verrücktheit verbunden habe. Die in _Heinroth's_ System, S. 199 u. f., 299 u. f., 350, im „Lehrbuche der Seelenstörungen,” Th. I. S. 330 u. f., angegebenen Symptome der Melancholie wurden, als in dem Inquisiten vorhanden, aufgeführt, und noch besonders des Versuches zum Selbstmorde gedacht. Ueberhaupt habe (nach _Klarus_, a. a. O. S. 49) ein blinder (mithin entschuldigender) Antrieb zu der verbrecherischen Handlung in dem Inquisiten Statt gefunden, indem bei der Uebermacht ungewöhnlicher und individueller Anreizungen, die gewöhnlichen und egoistischen Motive dazu gefehlt hätten. _Amentia occulta_ könne aber nicht angenommen werden, da sich der Wahnsinn schon bei der Entweichung nach Königstein offenbart habe, und auch später von einem scharfen Auge nicht schwer zu entdecken gewesen sei. Hierauf wurde der vorliegende Fall noch mit mehreren anderen, namentlich mit dem des _Woyzeck_ und _Schmolling_, verglichen, ferner bemerkt, =dass man in dem Gutachten der Medizinalbehörde eine spezielle Beweisführung über die Geisteskrankheit des Inquisiten in ihren besonderen Verhältnissen zu seiner That vermisse=, und sodann folgendes Urtheil gefällt: Dass Inquisit, _Kaspar Roth_, wegen Mangel des Requisites der Zurechenbarkeit, von dem ihm angeschuldigten Verbrechen der Tödtung und aller Strafe freizusprechen sei, und die Kosten des verhängten Inquisitionsprozesses der Fiskus zu tragen habe; Inquisit der Medizinalpolizeibehörde zur Vorkehrung der geeigneten Sicherheitsmassregeln übergeben werden solle. V. R. W. So zweckmässig diese Untersuchung geführt erscheint, und so sehr sie in ihrem Resultate die Ansicht des verehrten Lesers befriedigen dürfte, so sehr scheint doch auch die Bemerkung des Referenten: dass man in dem Gutachten der Medizinalbehörde eine spezielle Beweisführung über die Geisteskrankheit des Inquisiten, =in ihren Verhältnissen zu seiner That, vermisse=, gegründet, denn es lässt sich nicht verkennen, dass das Endurtheil nur darum den Inquisiten für nichtschuldig erklärte, weil man seine =That= als eine Folge seiner =Krankheit= ansah. Dies war die ohne Zweifel richtige Ansicht des =Gerichtes=, nicht aber der ausdrückliche Ausspruch des =Medizinalkollegiums=, denn dieses sagte nichts Anderes, als: der hohe Grad von Melancholie des _K. R._ hat denselben der Geistesfreiheit immer mehr beraubt, und steht mit der That insofern in Verbindung, als er in einem völlig gebundenen Zustande die That verübt habe; dies heisst mit anderen Worten: _Kaspar Roth_ hat die That in einem gebundenen Zustande verübt, =weil= er in einem hohen Grade von Melancholie und Geisteszerrüttung sich befand. Dieser Ausspruch ist nun nichts Anderes, als eine Tautologie, denn er sagt nichts weiter, als: er hat die That in einem gebundenen Zustande verübt, weil er sie in einem gebundenen Zustande verübt hat; über den Umstand aber, =dass= er in einem gebundenen Zustande war, wird nichts weiter gesagt, als: die physischen Veranlassungen zur melancholischen Stimmung waren bei _Kaspar Roth_ vorhanden; eines der Zeichen der Melancholie, nämlich dass der Leidende sich zur Ermordung Anderer bestimmt fühlt, sei nebst anderen vorhanden. Da man nun in zweifelhaften Fällen zu Gunsten des Angeklagten entscheiden muss und keine egoistischen Motive da sind, so sei er als in einem gebundenen Zustande befindlich anzunehmen. * * * * * Es bedarf nun wohl keiner Erinnerung, dass die letzten beiden Gründe ganz und gar nicht im Stande sind, ein =ärztliches= Gutachten zu motiviren; es erübrigt daher nur der erstere Grund, nach welchem das Gutachten ungefähr so viel sagt, als: _Kaspar Roth_ hat darum seinen Bruder in einem =gebundenen= Zustande umgebracht, weil er aus dem Grunde, =dass er ihn umgebracht hat=, für in einem gebundenen Zustande befindlich gehalten werden muss. Zu solchen Resultaten kommt man nun, wenn, anstatt eine freie, selbstständige Beurtheilung des Gegenstandes eintreten zu lassen, sich lediglich an die Beantwortung der richterlichen Fragen gehalten wird. Viel zweckmässiger würden die Kunstverständigen gethan haben, wenn sie ihrem Befunde etwa folgende Form gegeben hätten: Es erhellt aus den Daten des Untersuchungsaktes, dass _Kaspar Roth_ an und für sich schon mit einem sehr sensiblen Naturell begabt, sich in früher Zeit dem Laster der Onanie ergeben habe, woraus nach medizinischen Erfahrungen eine Schwächung der Körperkräfte in vielen Fällen zu erfolgen pflegt, bei _K. R._ aber wirklich erfolgt ist, wie dies aus seiner Lebensgeschichte mit grösster Bestimmtheit hervorgeht. Dass dieses Laster, besonders wenn es, wie bei _Kaspar Roth_, mit einer so auffallenden Schwächung des Körpers verbunden ist, auch auf die geistigen Fähigkeiten den nachtheiligsten Einfluss äussere, ist gleichfalls durch medizinische Erfahrungen erwiesen, und dass sich die geistigen Fähigkeiten des _K. R._ in einem sehr herabgestimmten Zustande befinden und befunden haben, zeigt die Beobachtung so wie die Lebensgeschichte desselben. Ein Mensch, der bei so schwachen, insbesondere durch das Laster der Onanie noch mehr herabgestimmten Geistesfähigkeiten, noch eine dieser Veranlassung ohnehin vollkommen entsprechende Anlage zur Hypochondrie, und durch diese zur Melancholie, besitzt, welche, wie bei _K. R._, noch dazu bedeutend ausgebildet ist, ist nun an und für sich wirklichen Seelenstörungen mehr ausgesetzt, als jeder Andere, da diese physischen Anlagen schon an und für sich eine, wenn auch minder bemerkbare Seelenstörung zur Folge haben, durch welche der Leidende zu Befürchtungen etc. veranlasst wird, zu welchen keine =objektive=, sondern nur die subjektive Veranlassung durch seine Krankheit besteht. Für die entschiedene Entwicklung einer Geisteszerrüttung sind nun unter solchen Verhältnissen insbesondere solche Umstände besonders günstig, bei welchen durch eine =reelle=, immer wiederkehrende oder fortdauernde Veranlassung das Gemüth des Leidenden heftig angeregt wird, denn bei einem ohnehin der nöthigen Energie entbehrenden Gemüthe ist es noch weniger, als bei einem im gewöhnlichen Zustande des Gleichgewichtes befindlichen möglich, der durch dieses =wirkliche= Leiden entstehenden traurigen Stimmung und den dadurch entstehenden Gedanken etwas entgegenzusetzen, wodurch der Mensch im Stande bliebe, die seinen sonstigen Verhältnissen entsprechende Haltung zu bewahren. Ein solches =wirkliches= Leiden war nun bei _K. R._ allerdings vorhanden. Es war die =Reue= über die Verführung seines Bruders, verbunden mit dem fortwährenden Anblicke der =traurigen Folgen= dieser Verführung. In dieser seiner traurigen Stimmung war es nun, nach der sonstigen Beschaffenheit seines Charakters und seiner Geistesentwicklung, ganz natürlich, dass er zu metaphysischen Spekulationen seine Zuflucht nahm, und unter diesen erfasste er, unglückseliger Weise, den Gedanken, „dass die übersinnliche Natur durch die sinnliche in einem Menschen zu Grunde gehen könne.” Die natürliche Folge davon war der Schluss: „dass es erlaubt, ja sogar Pflicht sein könne, die sinnliche Natur zu zerstören, um die übersinnliche zu retten.” Anfänglich hatten diese Gedanken lediglich die Beschaffenheit eines anderen Problems, bezüglich dessen, wenigstens nach dem Ideengange des _K. R._, _pro_ und _contra_ Gründe vorhanden waren, allein in dem sichtbaren Verfalle des geistigen und körperlichen Zustandes seines Bruders lag für _K. R._ eine viel zu heftige Veranlassung zur =Anwendung= dieses Satzes, als dass der Gedanke, dass er nun berufen sei, seinen Bruder durch Zerstörung seiner =sinnlichen= Natur zu retten, nicht die blos =spekulative= Forschung verdrängt hätte, welche, wie man aus den schwachen Verstandeskräften und der Art und Weise, wie er dabei zu Werke ging, schliessen muss, ihn nie zu einem Resultate, sondern immer nur im Kreise herumführen konnte. Durch diesen Gedanken erhielt seine durch die bereits berührten physischen und moralischen Einwirkungen bedingte melancholische Stimmung eine =bestimmte Richtung=, und zwar eine für seinen Zustand um so gefährlichere, weil bei der schwächlichen Beschaffenheit der geistigen und physischen Kräfte des _K. R._ der Gedanke an eine so fürchterliche That, wie die Ermordung seines geliebten Bruders, ihn bis in die innersten Tiefen seines Wesens erschüttern musste. Sein noch nicht gänzlich erloschenes klares Bewusstsein kämpfte nun wohl gegen den Gedanken an den Brudermord, allein mit schwachen, ungleichen Kräften, denn die noch vorhandene ruhige Ueberlegung war durch das Sophisma, welches er sich selbst geschaffen hatte, gelähmt. Es war also nur sein moralisches, jedoch ganz unklares Gefühl, so wie die Sympathie für seinen Bruder, welches noch der Ausführung entgegenstand. Dieser Gegensatz in seinem Inneren, welcher noch durch den fortdauernden Anblick der physischen und moralischen Zerstörung seines Bruders immer heftiger werden musste, musste nothwendig von einer ihm jedes klare Bewusstsein raubenden Aufregung begleitet sein, und war es auch, wie sein sinnloses Herumirren und seine physische Aufregung zeigt, in welcher er das Laster der Onanie wiederholte. Wie sehr diese Aufregung sich aller seiner Geisteskräfte bemächtigt hatte, zeigt der Umstand, dass bereits bei ihm jene Erscheinung eintrat, welche sonst wirklich den Wahnsinn charakterisirt, dass er nämlich seine subjektiven Empfindungen für etwas Objektives nahm, nämlich denjenigen Gedanken, der ihn nun ausschliesslich beschäftigte, sich von dem Gesange der Vögel zugeflüstert wähnte etc. _K. R._ musste in solchen Augenblicken bei dieser aufgeregten Stimmung und bei dieser bereits sich nach Aussen kundgebenden Macht derselben, wirklich als ein sinnenverwirrter Mensch betrachtet werden, und wenn er damals nicht schon die That beging, so kann dieses Unterlassen nur entweder dem Mangel an Gelegenheit oder dem Umstande zugeschrieben werden, dass seine krankhafte Stimmung noch nicht gänzlich den Widerstand überwältigt hatte, welchen sein moralisches Gefühl, seine Sympathie für den Bruder, und überhaupt der Gedanke an das Entsetzliche der That noch ihrer Vollziehung entgegensetzte. Bei diesem Zustande konnte es daher gar nicht anders kommen, als dass bei einer wiederholten und mächtigen Aufregung von Aussen dieser ohnehin immer schwächer werdende Widerstand durch die bereits zur fixen Idee gewordene Vorstellung von der Nothwendigkeit dieses Mordes besiegt werden musste. Die Anregung fand sich durch den Anblick der Erschöpfung und des Schlafes seines Bruders, und so wurde die That vollendet, welche sich bei _K. R._ als eine reine und einzige Folge seines krankhaften Seelenzustandes darstellt, weil ohne diesen alle übrigen äusseren und inneren Momente die That =nicht= veranlasst hätten, =durch= denselben aber er dahin gebracht wurde, dass der Gedanke an den Brudermord bei ihm zur fixen Idee wurde, welche einen seiner ihm =möglichen= Willenskraft nicht mehr gehorchenden Einfluss auf seine äussere Thätigkeit äusserte. Durch diese Darstellung ergibt sich nun folgende Beantwortung der gerichtlichen Fragen: 1. Dass es keinem Zweifel unterworfen sei, dass die Geisteskräfte des _K. R._ sich in einem verletzten, nämlich in einem krankhaften Zustande zur Zeit der Verübung der That befunden haben. 2. Dass seine Geisteskräfte und überhaupt sein Zustand der That sich so beschaffen darstellte, dass er in Dingen, welche in irgend einer Beziehung zu seiner herrschenden Vorstellung standen, zu keiner anderen äusseren selbstständigen Thätigkeit fähig war, als jener, zu welcher ihn die ihn beherrschende Vorstellung bestimmte. 3. Dass die That daher einzig als Folge der =krankhaften Verstimmung= seiner Seelenkräfte angesehen werden müsse. * * * * * So lautete das Gutachten nun =nicht=; dass aber die Untersuchung dennoch mit einem Resultate endigte, welches eine Entscheidung lieferte, welche eben so lautete, als sie hätte erfolgen müssen, wenn das Gutachten auf eine ähnliche Weise, als wie es oben steht, gelautet hätte, lag nur in dem =glücklichen= Ereignisse, dass der Inquirent sowohl, als das urtheilende Kollegium selbst mit tiefer psychologischer Anschauung zu Werke gingen, und dadurch das =Mangelhafte=, welches in dem, wie man zu sagen pflegt, =sehr auf Schrauben gestellten=, und wie oben gezeigt wurde, nicht einmal den Gesetzen der Logik entsprechenden ärztlichen Ausspruch lag, glücklich ergänzte, denn es lässt sich nicht verkennen, dass in dem =ärztlichen= Ausspruche die nöthigen Elemente zur Schuldloserklärung des _K. R._ =nicht= enthalten waren. Nicht jeder Richter besitzt jedoch eine solche psychologische Anschauung, wie der Inquirent, welcher diese Untersuchung führte, und bedarf daher, um den richtigen Gesichtspunkt zu treffen, eine weit umfassendere Unterstützung von Seite der Aerzte, als sie im vorliegenden Falle gegeben wurde, wenn nicht die ganze Untersuchung =vergriffen= werden soll. -- Wie der Arzt es aber anstellen kann und soll, um diese Unterstützung zu leisten, ist in dem vorigen Aufsatze angedeutet. C. _Matthäus Grotz, ein Epileptiker, erschlägt seinen leiblichen Vater_[108]. [108] Aus dem „neuen Archive des Kriminalrechtes vom Jahre 1830,” vom Herrn Vicedirektor _v. Weber_ in Tübingen. In dem Dorfe Thieringen, zum würtembergischen Oberamte Balingen gehörig, geschah in der Nacht vom 22. auf den 23. April 1827 folgende Missethat: Der Sohn des dortigen Nachtwächters sah in dieser Nacht um 1 Uhr zum Fenster hinaus, in der Nähe der Wohnung des Webers _Grotz_, eines Witwers und Vaters eines einzigen bereits erwachsenen Sohnes, Namens _Matthäus_, der sich bei ihm aufhielt; er bemerkte nun, dass zwei Mannspersonen einander nachsprangen, und hörte dann rufen, zuerst: „O! _Matthäus!_ Da lieg' ich!” und gleich darauf weiter: „O, schlägt mich mein Bube zu todt!” Bald nach Diesem kam der Nachtwächter selbst nach Hause, und als ihm sein Sohn erzählt hatte, was er eben gehört, gingen sie noch mit einem Schaarwächter vor das Haus des Webers _Grotz_ und klopften an der Hausthüre, durch die sie einen Augenblick zuvor Jemanden hatten in's Haus springen gesehen; gleichwohl regte sich Niemand in demselbem. Nun kam ein anderer Schaarwächter herbei; Alle riefen und klopften jetzt wiederholt an der Hausthüre und drohten, sie einzusprengen. Jetzt erst öffnete der Sohn _Grotz_ das Fenster und fragte was sie wollten, sich dabei stellend, als wache er eben vom Schlafe auf. Auf die Frage, wo sein Vater sei, erwiderte er sodann, dieser liege im Hausären, habe ein Loch im Kopfe; auch öffnete er sofort die Hausthüre. Hier fanden nun die Herbeigekommenen den alten _Grotz_ in dem Aeren (der Hausflur) auf dem Rücken liegend, mit dem Kopfe auf der steinernen ersten Stufe der Treppe, die Füsse übereinander gelegt, mit am Körper herabhängenden Händen und mit Kopfwunden bedeckt, todt hingestreckt. Der Ortschirurg wurde herbeigeholt, es kamen auch noch andere Männer, und nun wurde der Leichnam, unter Anleitung des Chirurgen, sorgfältig in die Stube hinaufgetragen. Hier wusch Letzterer die Wunden am Körper aus und hielt nach seiner Wahrnehmung dafür, dass derselbe schon seit einer Stunde abgelebt sein müsse. Bis zur Vornahme der gerichtlichen Leichenbeschau wurde dann der Leichnam in demselben Hause bewacht. Der Sohn _Grotz_ hatte zwar sogleich bei der Ankunft der genannten Männer ihnen ohne alle nähere Veranlassung geäussert, dass er über seinen Vater hergefallen sei, dadurch ein blutiges Hemd bekommen und dieses ausgezogen habe; man fand auch eine blutige Axt unter der Treppe, so wie das blutige Hemd in der Kammer, worin Vater und Sohn zusammen zu schlafen pflegten; dessen ungeachtet erklärte er, an dem Tode seines Vaters unschuldig zu sein, bis zum Morgen vor seiner Abführung an das Oberamtsgericht in Balingen. Nachdem er nun aber zuerst geäussert, er werde, ob er gleich unschuldig sei, gestehen, wenn man ihm nichts thun und ein Weib in's Haus geben wolle, so gestand er darauf dem Dorfschulzen unter vier Augen die Tödtung seines leiblichen Vaters ein, und erzählte die That umständlich. Diese umständliche Erzählung wiederholte er bald nachher auch vor dem untersuchenden Oberamtsgerichte. Bevor wir jedoch diese Erzählung und überhaupt das =Nähere der That= anführen, scheint es angemessen, vorerst über die Persönlichkeit des jungen _Grotz_, dessen Erziehung und früheren Lebenswandel Folgendes aus den aktenmässigen Erforschungen zu erwähnen. Der junge _Matthäus Grotz_, das einzige Kind seines nicht unvermögenden und für einen rechtschaffenen Mann bekannt gewesenen Vaters, evangelischer Religion, war zur Zeit der That beinahe 28 Jahre alt, und lebte, noch unverheirathet, bei seinem Vater. Er hatte die Schule und Kinderlehre fleissig besucht und wurde im gewöhnlichen Alter konfirmirt. Er galt zu jener Zeit für einen gesitteten Menschen und für einen der fähigsten Schüler, der im Lesen und Schreiben gute Fortschritte gemacht hatte. Nach der Konfirmation erlernte er bei seinem Vater das Weberhandwerk, und wurde auch darin zum Gesellen gemacht. Doch blieb er nie lange in fremden Diensten und arbeitete auch bisweilen als Taglöhner. Er machte sich in dieser Zeit eines kleinen Gelddiebstahles auf einem Pachthofe, wo er als Taglöhner arbeitete, schuldig, und wurde dafür mit einer kurzen Gefängnissstrafe belegt. Seit acht Jahren hielt er sich immer in Thieringen auf und arbeitete mit dem Vater theils in der Werkstätte, theils auf dem Felde. Indessen erklärte der Ortsvorstand bei der gerichtlichen Untersuchung: dass _Grotz_ schon seit 15 Jahren an dem fallenden Weh (der Epilepsie) leide, seine Eltern hätten jedoch dieses Uebel immer zu verheimlichen gesucht, und erst im Jahre 1820 sei es wirklich =dorfkundig= geworden, dass derselbe gedachte Krankheit habe. Es fanden sich auch mehrere Zeugen, die zu verschiedenen Zeiten und auch schon vor mehreren Jahren epileptische Anfälle bei _Grotz_ wahrgenommen hatten. Nach ihrer Beschreibung dauerten dergleichen Anfälle bei ihm einen Vaterunser lang bis zu einer halben Stunde. Während derselben sei er ganz bewusstlos gewesen, vor ihrem Eintritte habe man nichts Auffallendes an ihm bemerkt. Wenn die Anfälle dagegen vorübergegangen, sei _Grotz_ fortgesprungen, habe keine Antwort gegeben, nicht mehr gewusst, was er thun solle, und sei manchmal noch eine Viertelstunde lang weggewesen. _Grotz_ selbst fing in der gerichtlichen Untersuchung aus freien Stücken von seinem Uebel, das er =Gichter= nannte, zu reden an, und äusserte sich darüber also: er sei daheim oft umgefallen und wie maustodt gewesen, dann sei er aber alsbald wieder wohl gewesen. Wenn ihn die Gichter todt gemacht haben, so habe es, meine er, einen Vaterunser lang gedauert. Es habe schon Tage gegeben, an welchen er sie zwei- bis dreimal bekommen habe. Sie seien überhaupt nie lange ausgeblieben. Wenn der Mond hell geschienen, habe er sie nicht viel, wenn dieser aber finster gewesen sei, habe er sie viel bekommen. Wann diese Krankheit überhaupt bei ihm den Anfang genommen, wollte er aber nicht wissen, und obschon ein Zeuge behauptete, _Grotz_ habe auch den Anfall an dem Tage vor der Nacht, worin er seinen Vater tödtete, gehabt, doch nicht so stark wie sonst, so wollte sich _Grotz_ auch dessen nicht mehr erinnern. Obschon mit der Epilepsie behaftet, arbeitete er dennoch immer fleissig auf seinem Handwerke, und verdiente seinem Vater dadurch viel Geld, wie er sich dessen selbst auch vor Gericht rühmte. Dabei liebte er aber, was er nicht in Abrede zog, den Branntwein sehr. Sein Vater hütete ihn jedoch immer möglichst davor, so dass er nicht oft dergleichen zu trinken bekam. Ueberhaupt hielten ihn, nach glaubwürdigen Zeugenaussagen, seine Eltern (seine Mutter starb erst vor einigen Jahren) unter einer steten und strengen Aufsicht, und liessen ihn selten irgendwo allein hingehen; gleichwohl sei er, sagen eben diese Zeugen, bisweilen, wenn er Geld gehabt habe, in's Bäckerhaus gesprungen und habe da einen halben oder auch einen ganzen Schoppen Branntwein auf einmal ausgetrunken, wie ein Vieh. Um diese grosse Neigung zum Branntweintrinken zu befriedigen, entwendete er schon seit längerer Zeit seinem Vater öfters Geld im Betrage von 3, 6 bis 24 Kreuzern, wofür er dann in dem Bäckerhause sich Branntwein und Brot geben liess. Um diese Geldentwendungen zu bewerkstelligen, wartete er jedesmal die Zeit ab, bis sein Vater im Bette lage, dann ging er zur Thüre hinaus, um demselben glauben zu machen, dass er auf den Abtritt gehe, und bei dieser Gelegenheit nahm er nun das Geld aus dessen daliegenden Beinkleidern. Dieses Verfahren erzählte er selbst, ganz übereinstimmend mit den Aussagen einiger Anverwandten, die auch darum wussten, und bemerkte weiter: bisweilen habe sein Vater dergleichen Entwendungen entdeckt, bisweilen auch nicht. Wenn er es aber bemerkt habe, habe derselbe grausig gethan. So oft er aber seinem Vater Geld genommen, habe er auch etwas verdient gehabt. Sein Vater habe ihm jedoch nie etwas Geld gegeben; „er hätte ihm wohl auch einen Kreuzer geben dürfen, denn er habe ihm Alles verdient durch's Weben.” Hierüber hätte er sich denn auch manchmal, wie bezeugt wurde, gegen andere Personen beschwert. Uebrigens gab er weiter an, sein Vater sei meistens gut gegen ihn gewesen, und er habe auch seinen Vater schier immer leiden mögen. Nur wenn er etwas nicht recht gethan, habe ihn derselbe ausgezankt. Auch gehen die Zeugenaussagen durchgängig dahin, dass Vater und Sohn im Wesentlichen gut miteinander gestanden seien, und der Vater dem Sohne nur Zurechtweisungen gegeben habe, wenn er dazu Grund gehabt. Indessen erklärte der Ortsvorstand noch insbesondere: der alte _Grotz_ habe sich einmal, beiläufig vor einem Jahre, jedoch mit dem Beifügen, dass er keine ämtlichen Vorkehrungen verlange, bei ihm über seinen Sohn beklagt, dass dieser öfters gegen ihn meisterlos sei und sich seinen Anordnungen nicht immer fügen wolle. Hierbei habe er bemerkt, dass er seinem Sohne schon mehrere Mal gedroht, er wolle ihn bei dem Schultheissen verklagen, was auch bisher geholfen habe. Im vorangegangenen Winter habe der alte _Grotz_, im Vertrauen, über die epileptischen Zustände seines Sohnes geklagt, und dass derselbe dabei seit einigen Jahren so vergesslich sei. Gegen eben diesen Schultheissen betrug sich, nach dessen Angabe, der junge _Grotz_, immer sehr gut, und erwies ihm stets eine =besondere Achtung=, wenn er ihm begegnete, wogegen es auch der Schultheiss gegen ihn an Ermahnungen zu seinem Besten nicht fehlen liess. Bemerkenswerth ist aber ferner, dass sich _Grotz_, wie er im Verhöre selbst erklärte, schon seit einiger Zeit mit Heirathsgedanken beschäftiget hatte, die er jedoch vor seinem Vater geheim hielt. Eine bestimmte Weibsperson will er dabei nicht im Auge gehabt, sondern nur gedacht haben: er heirathe, wenn er Jemanden bekomme. Einmal, erklärte er indess in dieser Beziehung weiter, habe er zwar auch seinem Vater so etwas von seiner Absicht zu heirathen gesagt, dieser ihm aber erwiedert, dass er nirgends eine Person bekomme, und er (der Vater) ihn fortschicken würde. Dann habe er gedacht, er schweige lieber, und habe überhaupt die Sache aus sein lassen. Uebrigens besorgte dem alten _Grotz_ seit seinem Witwenstande eine ledige Weibsperson die Haushaltung, ohne jedoch im Hause zu schlafen. Nach ihrer Angabe soll ihr auch der Witwer Heirathsanträge gemacht, sie aber noch nicht ihr Jawort gegeben gehabt haben; der junge _Grotz_ erfuhr zwar nichts Näheres davon, doch besorgte er wohl eine Wiederverheirathung seines Vaters, und dass dann =das Vermögen an andere Leute komme=. Durch Zeugen ist ferner erhoben, dass _Grotz_ ungefähr ein Jahr vor der verübten Tödtung seines Vaters demselben einmal von der Werkstatt entlief, im Freien mit sonderbaren Blicken und auffallenden Geberden herumsprang und nur mit Mühe von einigen ihm begegnenden Einwohnern des Dorfes wieder nach Hause gebracht werden konnte. Uebrigens gibt ihm die Ortsobrigkeit das Zeugniss, dass er ein fleissiger Arbeiter gewesen, so lange er nicht mit dem fallenden Weh behaftet war, und dass er sich sowohl gegen seinen Vater als gegen andere Personen im Ganzen ordentlich betragen habe. Zugleich erklärte sie sich aber auch =hinsichtlich des physischen Zustandes= des _Grotz_ dahin: dass derselbe, so lange er mit der Epilepsie befallen sei, kaum den nothdürftigsten Verstand zum geselligen Leben besessen habe. Und auf ähnliche Weise sprachen sich darüber Verwandte und andere Zeugen aus, indem sie erklärten, dass sich zwar bei _Grotz_ in seinem bisherigen Leben keine Spuren von Verrücktheit gezeigt hätten, dass er aber schwache Verstandeskräfte und ein sehr schwaches Gedächtniss habe, welches Alles wahrscheinlich durch den epileptischen Zustand allmälig herbeigeführt worden sei. Zum Zorne, bemerkten sie weiter, sei er zwar nicht besonders geneigt gewesen, doch habe er öfters einen eigenthümlichen scharfen Blick gehabt, mit dem er Andere anstarrte, wenn er über etwas, welches man ihn thun hiess oder an ihm tadelte, unzufrieden war. Wenn man ihn im ersteren Falle fragte: „Thust du das?” habe er nur geantwortet: „Wenn ich muss.” =Die Geschichte der That selbst= und der damit in Verbindung stehenden Umstände ist nun diese: Am Sonntage (den 22. April), an dem Tage der That, bemerkte die Haushälterin des alten _Grotz_ an dessen Sohn gegen sonst durchaus nichts Auffallendes. Nur einmal hatte derselbe, nach ihrer Aussage, einen epileptischen Anfall, der nicht stark war, indem _Grotz_ nur umfiel und sogleich wieder aufstand. Er selbst wollte nachher von diesem Anfalle gar nichts wissen. Uebrigens war er an diesem Tage gestimmt wie immer, und sprach, wie sonst auch, nicht viel; er und sein Vater betrugen sich gegeneinander wie gewöhnlich, und die Haushälterin bemerkte nicht im Geringsten, dass Beide einander geärgert oder gezankt hätten. Den Nachmittag brachten Vater und Sohn in einem Nachbarhause ganz einig mit einander zu, und gegen 7 Uhr Abends gingen sie, wie gewöhnlich an den Sonntagen, zusammen in die Branntweinschenke und tranken, nach den Zeugenaussagen, mit einander nicht mehr als einen halben Schoppen Branntwein, wozu sie Brot assen. Sie waren auch da freundlich beisammen, und gingen um 10 Uhr, ohne dass sie, wie mehrere Zeugen versichern, im Mindesten betrunken gewesen wären, mit einander ruhig nach Hause. Die nun zu Hause, wo jetzt Vater und Sohn allein waren, dem Verbrechen zunächst vorangegangenen Umstände blieben durch die vor Gericht geschehenen Aussagen des jungen _Grotz_ in einiges Dunkel gehüllt, während er dagegen die That selbst, jedoch nur allmälig auf wiederholte Fragen, umständlich und klar eingestand. Als sie in jener Nacht nach Hause gekommen, gibt nämlich derselbe zuerst an, seien er und sein Vater miteinander in das gemeinschaftliche Bett gegangen und hätten geschlafen. Dann habe ihn sein Vater durch Schütteln aufgeweckt und mit ihm Händel angefangen, zu welcher Zeit aber dies geschehen, wusste er nicht anzugeben; dass übrigens das Bett wirklich in jener Nacht gebraucht wurde, davon fand man nachher noch Spuren. Auf die verschiedenen, deshalb an _Grotz_ gemachten Fragen blieb derselbe auch anfänglich bei der bestimmten Behauptung stehen, dass nach dem Erwachen sein Vater in der Kammer am Bette mit ihm Streit angefangen habe, sehr erzürnt gewesen sei, ihn gescholten und ihm erklärt habe: =er gehe nun zum Schulzen, lasse ihn aus dem Hause jagen und lasse ihn nicht mehr herein=. Ueber die =Veranlassung= dieses Aufweckens und dieses zornigen Ausbruches seines Vaters gab jedoch _Grotz_ vorerst keinen genügenden Aufschluss. Er erklärte in dieser Beziehung, er wisse den Anfang nicht, sein Vater habe ihn aber verscholten, er wisse selber nicht, warum sein Vater so erzürnt gewesen sei, derselbe habe aber viel Branntwein getrunken gehabt. Auf den Vorhalt aber, dass sein Vater damals nicht betrunken gewesen sein könne und doch einen Grund gehabt haben müsse, warum er über ihn unzufrieden gewesen sei, äusserte er nur: „ich habe ihm Geld genommen, schätz' wohl --” und legte dann auf weitere Fragen folgende nähere Geständnisse ab: Nachdem sie des Nachts von dem Bäcker nach Hause gekommen, habe er aus den Hosen des Vaters, die auf der Bank in der Stube gelegen seien, ihm Geld aus seinem Beutel genommen und habe es in seinen eigenen Beutel gethan, damit er es habe, wenn er es brauche; wozu er es aber gebrauchen wolle, das habe er noch nicht gewusst. Wo sein Vater gerade gewesen, als er das Geld genommen habe, wisse er nicht. Sein Vater habe die Entwendung wahrgenommen, indem er in seine Hosen gelangt und den Geldsäckel nimmer gefunden habe. Hierauf habe sein Vater ihn gezankt und ihm erklärt, er verklage ihn beim Schulzen und lasse ihn fortjagen, und wie er dann so darüber gelärmt habe, habe er ihn =todtgeschlagen=, und zwar aus dem Grunde, weil er so gelärmt und gebalgt (gezankt) und gesagt habe: er wolle ihn fortthun lassen. Alles Geld, erklärte _Grotz_ weiter, habe er seinem Vater anfangs nicht aus dem Beutel genommen, erst wie er seinen Vater todtgeschlagen gehabt, habe er es vollends genommen. Obschon nun _Grotz_ auch in weiteren Verhören und Aussagen über die Veranlassung und die Motive des an seinem Vater begangenen Verbrechens wieder variirte, obige Geständnisse zum Theile widerrief, und auch wieder bestätigte, somit über die Veranlassungs- und Bestimmungsgründe zur That kein ganz sicherer und vollkommener Aufschluss unmittelbar von ihm selbst erhalten werden konnte (wie auch aus seiner psychischen Individualität leicht erklärbar ist), so ist doch so viel mit grosser Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass zur Zeit des Entschlusses zur That bei dem _Grotz_ eine zornige, feindselig aufgeregte Stimmung gegen seinen Vater und grosse Angst vor dem Herbeikommen des Schultheissen Statt gefunden haben müsse; denn so äussert er einmal bestimmt: „Weil er (der Vater) gesagt hat, er wolle mich aus dem Hause jagen lassen und nimmer hineinlassen, da bin ich zornig geworden über ihn;” und ein anderes Mal erwiederte er auf einige Fragen hinsichtlich seiner etwaigen Reue über die That: „Weil wir eben einander feind geworden sind; weil er gesagt hat, er wolle mich fortjagen lassen. Es sei ihm Angst gewesen wegen des Vogtes, wenn der in's Haus komme; er habe freilich eine grosse Sünde gethan, dass er seinen Vater todtgeschlagen; jetzt reue es ihn, wenn er so darüber nachdenke.” Auch gestand er später noch ein, ehe er seinen Vater todtgeschlagen, habe er (nach gefasstem Entschlusse zur That) bei sich gedacht: wenn es Niemand gesehen hat, dann sage ich, er wäre gestorben. Er habe auch gedacht, es gebe genug Leute, die auch zu ihm gehen wegen dem Kochen, und ein Weibsbild, das ihm koche. An eine bestimmte Weibsperson und an's Heirathen habe er aber damals noch nicht gedacht. Ueber die =Vollführung der That= ist nun Folgendes das Resultat der von ihm mit Bestimmtheit abgelegten Geständnisse. Nachdem ihm sein Vater die obenerwähnte drohende Erklärung gemacht hatte, stand derselbe vom Bette auf und ging mit der Aeusserung, dass er sich nun zum Schulzen begeben werde, die Treppe hinab und zum Hause hinaus. Sein Sohn folgte ihm aber unangekleidet und nur im Hemde mit dem schon jetzt gefassten Vorsatze, ihn zu tödten, alsbald nach, ohne gegen seinen Vater etwas zu äussern. Sein Weg führte von der Stubenkammer in die Stube, aus derselben über den nur vier Schritte langen oberen Hausgang und die zwölf Stufen hohe Treppe hinab in den unteren Hausgang. Nahe an der Treppe geht, wenn man von derselben herabkommt, rechts hinein in den sieben Schuh langen Hausgang die Thüre zu dem Webergewölbe. In Letzteres, worin damals, wie gewöhnlich, der Schlüssel stak, ging der junge _Grotz_, und holte daraus eine unter einigen daselbst befindlichen Aexten =gewählte= Axt der schwersten Art, um damit seinen Vater todtzuschlagen: Mit dieser Axt in der Hand, die er auch nachher bei der gerichtlichen Untersuchung als das =Werkzeug= seines Verbrechens anerkannte, ging er nun seinem Vater nach, welcher, wie er angibt, sprang, und traf ihn vor dem Hause des Nachbars _Oppler_. Dieses Haus liegt der Richtung des Weges, der zu der Wohnung des Schultheissen führt, =entgegengesetzt=, über der Strasse hinüber, etwas abwärts von dem Hause des _Grotz_. Wie und warum der alte _Grotz_ zu diesem Hause gekommen, darüber erklärt sich der Sohn nicht genügend. Indess erreichte dieser seinen Vater, als derselbe ganz nahe an dem Thore der mit dem Hause des _Oppler_ verbundenen Scheuer war, und versetzte ihm dort mit der Haube, d. i. dem breiten Theile der Axt, zwei Streiche =hinten auf den Kopf=, ohne dass er dabei gegen seinen Vater eine Aeusserung machte. Dieser soll nun aber, so wie er die Streiche erhalten, arg gelärmt und auf seinen Sohn geschimpft haben, was dann Letzteren, wie er sagt, noch in der Vollbringung der That bestärkte. Er führte dann seinen Vater, der nach den Streichen noch laufen konnte, indem er ihn über den Hals herum hielt, quer über die Strasse hinüber, neun Schritte weit bis nahe an die Ecke der gleichfalls mit dem Hause verbundenen eigenen Scheuer (wo sich nachher auch starke Blutspuren fanden), und dort versetzte er demselben mit der Haube der Axt drei weitere Streiche =vornehin an den Kopf=, überall, wie er sagt, wo es hin ging. Auch nach diesen weiteren Streichen fiel der Vater, nach der Behauptung des Sohnes, noch nicht um, sondern lief noch zwölf Schritte weit zu seinem Hause hin, wobei aber das Blut von ihm strömte, und besonders die Thürschwelle, die Thür am Hause und den Eingang des Hauses selbst stark befleckte. Jetzt aber war der Verletzte nicht mehr im Stande weiter zu laufen. -- Damit nun, erzählt der Thäter weiter, die Leute nicht sähen, dass sein Vater blute, und dass sie etwas mit einander haben, fasste er, mit dem Gesichte gegen des Vaters Gesicht gekehrt, denselben unter den Schultern um den Leib, trug ihn zur Thüre hinein, durch den Hausgang bis zur Treppe, und dort liess er ihn fallen, so dass der Verletzte mit Kopf und Schultern auf die untersten Stufen der Treppe zu liegen kam und das Gesicht in die Höhe kehrte. Er lebte noch etwas, und rief noch, nach des Thäters Behauptung, indem er durch den Hausgang geschleppt worden, seinem Sohne zu: „Du Hund!” Nachdem nun dieser zuvor die Hausthür zugeschlagen hatte, damit, wie er sagt, Niemand hereinkomme, schlug er seinen Vater, wie er sich selbst ausdrückte, an der Stiege =vollends= todt, indem er ihm in der schon beschriebenen Lage mit der Haube der Axt noch drei Streiche vornehin an den Kopf versetzte. Die Ueberzeugung, dass sein Vater durch diese Streiche vollends getödtet worden sei, sprach _Grotz_ wiederholt und insbesondere mit den Worten aus: „Und Alles ist nun aus gewesen.” Nach diesem nahm er dem Getödteten, kurz ehe die Wächter herbeikamen, das Geld vollends aus dem in dessen Hosentaschen befindlichen Beutel, so viel noch darin war, und zwar, wie er wiederholt erklärte, damit er es gewiss habe, dass es niemand Anderer bekomme, da so Leute zu ihm hineingeschrien haben. Die Axt, womit er die That verübt hatte, verbarg er blos unter der Stiege, wo sie auch bald nachher gefunden wurde. Nach der Verbergung der Axt begab er sich in die Schlafkammer und zog dort, weil sein Hemd blutig geworden war, ein frisches an, damit (wie er sagte) Niemand das Blut sehen sollte. Jenes Hemd fand sich auch nachher in der Schlafkammer vor, an der ganzen Vorderseite und vorzüglich an der Brust sehr blutig. Als sich _Grotz_ dieses Hemdes entledigt hatte, hielt er sich, ohne dass er sich wieder in das Bett legte, theils in der Wohnstube auf dem Lotterbette auf, theils auch einige Zeit auf der Bühne, wohin er von der Küche aus eilte, um sich zu verstecken, als er vor dem Hause Lärmen hörte. Dort verweilte er aber nicht lange, sondern ging bald wieder, durch das Lärmen und Anklopfen der herbeigekommenen Wächter beunruhigt, hinunter in die Stube und öffnete sodann, wie schon erzählt worden, die Hausthüre. Am anderen Morgen wurde nun derselbe zu dem Untersuchungsgerichte abgeführt, und am folgenden Tage die =Legalinspektion= und =Sektion= des Getödteten, eines 66jährigen Mannes, der von einer sehr kräftigen und gesunden Körperbeschaffenheit gewesen, in gehöriger Form vorgenommen. Nach dem Befunde dieser Leichenschau erklärten die obduzirenden Aerzte die am Leichnam wahrgenommenen Wunden für =absolut tödtlich=, und gaben dann ihr Schlussurtheil dahin ab: dass der Tod des alten _Grotz_ =die unvermeidliche Folge= der ihm von seinem Sohne beigebrachten Verletzungen gewesen sei. Nach diesem Resultate der Leichenschau und nach den oben angegebenen ausführlichen und wiederholten Bekenntnissen des jungen _Grotz_, verbunden mit den übrigen erhobenen Umständen, war somit in diesem Falle der =Thatbestand= einer von _Grotz_ an seinem Vater verübten =vorsätzlichen Tödtung= ausser Zweifel gestellt. Nicht eben so leicht konnte aber die Frage entschieden werden, ob diese vorsätzliche Tödtung für einen wirklichen Mord oder nur für eine im Affekte begangene Tödtung, d. i. einen Todtschlag, anzunehmen sei, denn für die eine und für die andere dieser Annahmen gab die sehr genaue gerichtliche Untersuchung, wobei jedoch die Individualität des Angeschuldigten, wie seine oben dargelegten verschiedenen Aussagen selbst beweisen, manche Schwierigkeiten darbot, mehrere Momente an die Hand, doch würde eine ohne Zweifel überwiegende Zahl und die Beschaffenheit der für einen blossen Todtschlag sprechenden Daten den Entscheidungsrichter, wenn er sich über diesen Punkt näher auszusprechen aufgefordert gewesen wäre, zu dieser Annahme eines blossen Todtschlages wohl bestimmt haben. Allein die Frage über diesen Punkt bedurfte unter den übrigen gegebenen Umständen eigentlich keiner besonderen Entscheidung, weil es sich in dem vorliegenden Falle hauptsächlich und vor Allem um die durchgreifende Frage handelte, ob der, der Tödtung seines Vaters geständige _Grotz_ überhaupt, und in Bezug auf diese That insbesondere, für =zurechnungsfähig= anzunehmen sei, denn =gegen= seine Zurechnungsfähigkeit hatten sich allerdings aus seinem ganzen Benehmen während der Untersuchung, und vorzüglich aus einzelnen bei derselben von ihm geschehenen auffallenden Aeusserungen, so wie aus den über seine Persönlichkeit, seine epileptischen Anfälle, geschwächten Geisteskräfte und seine bisherige Aufführung erhobenen näheren Notizen, so bedeutende Zweifel ergeben, dass sich für das Entscheidungsgericht diese Frage wegen der Zurechnungsfähigkeit des Angeschuldigten als die eigentlich zu fixirende und zu lösende =Hauptfrage= darbot. In Beziehung hierauf haben wir daher noch folgendes Nähere zu bemerken. Während des Transportes nach Balingen (zur gerichtlichen Untersuchung) sagte _Grotz_ einmal zu seinen Begleitern: „Jetzt will ich weiben (ein Weib nehmen), jetzt darf ich weiben; mein Vater hat mich nicht wollen weiben lassen; jetzt bin ich Meister, jetzt gehört die Sache Alles mein.” Ein anderes Mal fragte er sie aber auch: „Bringt man mich um? Thut man mir etwas?” und äusserte dabei lebhaft den Wunsch, dass er nur noch leben dürfte. Im ersten gerichtlichen Verhöre sprach er, gegen seine Gewohnheit und bäuerische Uebung, in möglichst reindeutschen Ausdrücken, und gab dabei manche ungereimte Antworten, doch legte er allmälig auf eine zwar abgebrochene, aber doch deutliche Weise das Geständniss seines Verbrechens ab. In einem weiteren Verhöre benahm er sich jedoch sehr verschlossen, antwortete häufig auf die ihm vorgelegten Fragen: „ich weiss mit Wissen nix (nichts),” und machte auch öfters sinnlose, ungereimte Aeusserungen. In anderen späteren Verhören sprach er dagegen wieder mit Zusammenhang, und wiederholte seine Geständnisse mit aufrichtiger Reumüthigkeit. Uebrigens bekam er auch einige Male während der Verhöre selbst seine epileptischen Anfälle, und neben seinen in mehreren Verhören abgelegten klaren Geständnissen kamen immer auch von Zeit zu Zeit sonderbare Aeusserungen zum Vorscheine. So sagte er z. B. einem Gerichtsbeisitzer, der zugleich Webermeister, folglich von seiner Profession ist: „So, Ihr seid mein Obermeister; wenn ich einmal ein Weib habe, will ich auch zu Euch kommen.” Gegen den inquirirenden und zugleich protokollirenden Oberamtsrichter zeigte er sich bald finster bald auffallend zutraulich, nannte denselben bald Ihr, bald Sie, und heftete insbesondere seine Aufmerksamkeit auf dessen Protokolliren. Er sagte ihm unter Anderem: „Ich meine, Ihr solltet doch einmal aufhören mit dem Schreiben, es wird ja so gross wie ein Buch, aus dem man beten kann.” Anzeigen von seinem schwachen Gedächtnisse ergaben sich auch bei den Verhören, und er selbst beschwerte sich dabei öfters über sein schlechtes Gedächtniss, indem er z. B. sagte: wenn man ihn viel frage, erinnere er sich nichts; und ein anderes Mal: „Wenn man so viel denken muss und schreibt, du lieber Gott! ich weiss nichts mehr, man mag mich fragen, was man will.” Bei wichtigeren Fragen, welche seine Besinnungskraft in Anspruch nahmen, wurde er zuweilen ungeduldig, zornig, gab aber doch Auskunft; auch bemerkte der Inquirent überhaupt, dass _Grotz_ bei Fragen, die sein Gedächtniss anstrengten oder Vorhalte enthielten, einsylbig und verdriesslich war, und zuweilen einen ihm eigenthümlichen zornigen Blick machte; wogegen er, wenn man den Gegenstand der Fragen auf eine ihm angenehme Weise wechselte, zu seiner etwas grinsenden, tölpischen Freundlichkeit überging, die er besonders auch dann annahm, wenn er von seiner Freilassung sprach. Häufig gab er in den Verhören den dringenden Wunsch zu erkennen, bald wieder nach Hause entlassen zu werden; erzählte dabei, wie er sich dann in seinem väterlichen Hause beschäftigen würde, und erklärte auf die ihm deshalb gemachten Fragen: „es wäre freilich grausig, im Hause seines getödteten Vaters zu sein, aber er wüsste sonst nirgends hin.” Reumüthig über die That zeigte er sich jedoch im Ganzen nicht; nur traten zuweilen Augenblicke ein, wo einige Gewissensvorwürfe, gemischt aber mit Angst über die Folgen seiner That, bemerkbar wurden. In einem der letzten Verhöre machte ihm der Inquirent nähere Instanzen über seine Kenntniss der Strafbarkeit des verübten Verbrechens. Als er zu diesem Behufe über die zehn Gebote befragt wurde, wollte er sie anfangs nicht kennen, zeigte aber doch nachher das Gegentheil. Auf die Frage, was vom Tödten darin stehe, sagte er das Gebot her: du sollst deinen Vater und Mutter ehren; auf wiederholte Fragen das: du sollst nicht stehlen; endlich aber, nachdem man ihm vorgesagt hatte: du sollst nicht -- fügte er hinzu: „tödten.” Auf die Frage, ob er bei der That an die zehn Gebote gedacht habe, erklärte er: „Ich habe nichts gedacht.” Die Frage: ob er nicht gedacht habe, dass es eine grosse Sünde sei, was er gethan, beantwortete er damit: „Ich sage nicht Nein und nicht Ja; ich weiss nichts davon; da könnt Ihr schreiben, was Ihr wollt, ich hab' an nichts so gedacht.” Auf die Frage: ob er denke, dass er eine grosse Strafe verdient habe, sagte er: „Ich denke es jetzt freilich; er wisse aber nicht, was für eine Strafe man ihm gebe; es reue ihn, dass er seinen Vater todtgeschlagen habe.” Gegen das Ende der Untersuchung zeigte sich bei ihm vorzügliche Angst über sein Schicksal. Als er nun um diese Zeit mit einem ihm näher bekannten Einwohner von Thieringen konfrontirt wurde, sagte er zu diesem: „Ich habe jetzt immer gebeten, Gott solle es mir eingeben, wer schuldig sei daran, ich oder mein Vater, weil er immer so gebalgt (gezankt) hat; ich habe das ganze Büchle (das Spruchbuch) ausgebetet, und da ist es eben immer gekommen, dass ich =es habe thun müssen=, weil er so gebalgt hat.” Und nun erzählte und zeigte er näher dem Inquirenten, dass er in seinem Gefängnisse durch Aufschlagen von Zahlen im Spruchbuche und durch Losen mit Strohhalmen darüber, ob er oder =sein Vater= schuldig sei, Entscheidung gesucht habe, und dass es richtig so ausgefallen, dass sein Vater also schuldig gewesen sei. Er zeigte sich mit diesen Versuchen sehr zufrieden, und schien der Sache völlig Glauben beizumessen. Gleichwohl gab er hinwieder auf eine spätere Frage: warum er an diese Proben glaube, die Antwort: „Ja, weil es mir so fürgegangen ist; ich glaube es weiter nicht, ich sag's nur.” Auf die Frage im Schlussverhöre: ob er nicht denke, eine grosse Strafe verdient zu haben, antwortete er: „Ich glaube nicht,” und auf die weitere Frage: ob er sich mit etwas vertheidigen könne: „Ich weiss nix mehr, und wenn man nix weiss, kann man auch nix sagen.” Gegen das Ende der Untersuchung bewies sich _Grotz_ einmal so unbotmässig gegen einen seiner Wächter, und hielt ihn am Wamms, weil dieser Wächter nicht mehr geduldet hatte, dass _Grotz_ sein Wasser statt in den Nachtstuhl vor der Thüre abschlage. In der darauffolgenden Nacht lief er von 12 Uhr bis Morgens 7 Uhr schlaflos im Gefängnisse auf und ab, verlangte vom Wächter, er solle ihm aufschliessen, er wolle nach Thieringen, er bleibe nicht mehr in diesem Hause; er hatte dabei die Beinkleider offen, sah in den =leeren= Nachtstuhl und äusserte: es sei so viel Wasser darin, er könne nicht fort wegen dem Wasser. Als ihm dabei der Wächter mit einem Stecken drohte, erklärte er: er wisse nichts, er thue ihm nichts, und zeigte überhaupt Spuren davon, dass er nicht recht bei sich war. Er hatte auch weiterhin manche unruhige Nächte, und konnte wegen gestörter Phantasie nicht schlafen, was er selbst mit den Worten erzählte: er könne nicht schlafen, er habe so Angst, und es komme Nachts ein Männlein zu ihm, das sage, er müsse sterben. So lange sein Untersuchungsarrest gedauert, hatte er, mit wenigen Ausnahmen, jeden Tag wenigstens einen epileptischen Anfall, oft auch zwei, etliche Male drei. Die gewöhnliche Dauer dieser Anfälle war einige Minuten, und einmal eine Viertelstunde. Uebrigens zeigten diese Anfälle in ihren Erscheinungen nichts besonders Abweichendes von denen anderer Epileptiker; sie stellten sich ebenfalls häufiger und heftiger dann ein, wenn _Grotz_ in Folge der Verhöre oder anderer Veranlassungen in Zorn gerathen war. Spuren von wirklicher =Verrücktheit= wollte der Inquirent während des ganzes Laufes der Untersuchung an _Grotz_ nicht bemerkt haben. Dagegen ergab sich ihm deutlich, dass derselbe an Gedächtnissschwäche und Stumpfheit der Geisteskräfte überhaupt leide. Er schilderte ihn auch in seinem ganzen Benehmen als ziemlich tölpisch, launisch und zum Zorne geneigt, und wenn er im Zorne sei, habe sein Blick etwas Bösartiges und Grausendes. Das Gutachten des =Oberamtsarztes= über den Seelenzustand des von ihm während der Untersuchung mehrmals beobachteten Angeschuldigten ging im Wesentlichen auf den Grund seiner Beobachtungen und auch der aus den Akten geschöpften Notizen dahin: derselbe sei weder als ganz noch als periodisch wahnsinnig, auch nicht als wirklich blödsinnig anzusehen. Dagegen habe schon bei ihm vor der Zeit der That =Dummheit= (Stupidität) Statt gefunden. Ausserdem sei aber derselbe zur Zeit der That neben seiner Dummheit in einem wirklichen Zustande eines =ausserordentlichen Antriebes= zur That gewesen, in welchen Zustand der _Grotz_ von dem Getödteten durch Furcht, Argwohn, Zorn und eine Art von Verzweiflung gebracht worden, und habe somit auch unbestritten die That in diesem kranken Seelenzustande und in einem Furor (in der Raserei) verübt. Mit diesem gerichtsärztlichen Gutachten konnte sich indessen, bei der Wichtigkeit der Sache, der Kriminalsenat des Gerichtshofes zu Tübingen nicht begnügen, sondern fand zum Behufe seines definitiven richterlichen Ausspruches in Ansehung der Zurechnungsfähigkeit des _Grotz_ auch noch die Einholung des Gutachtens der =medizinischen Fakultät= daselbst nöthig. In dieser Beziehung wurde dieselbe, unter Mittheilung sämmtlicher Akten, insbesondere um die Beantwortung folgender Fragen ersucht: 1. ob der Angeschuldigte an dauernder Geisteskrankheit oder Geistesschwäche leide, und im bejahenden Falle 2. an welcher Art; 3. in wie weit dadurch dessen Willensfreiheit als aufgehoben zu betrachten sei, und 4. ob nicht der Angeschuldigte zu der Zeit, als er den Entschluss zu dem Verbrechen gefasst und ausgeführt, in einem Zustande =völliger Unfreiheit= seiner Seele gehandelt habe. Diese Fragen beantwortete nun die Fakultät mit aller durch die Sache gebotenen Genauigkeit und Umsicht, und der Inhalt ihres Gutachtens, den wir um seines psychologischen Interesses willen in allen Hauptpunkten hier ausheben, ist dieser: „Die bei dem _Grotz_ schon vor mehreren Jahren eingetretenen und sich so häufig wiederholenden epileptischen Anfälle bezeichneten in ihrer Erscheinung ganz diejenige Art von Fallsucht, bei welcher das =Gehirn selbst= die Ursache des Uebels enthalte, und wo es nicht blos aus Mitleidenschaft von einem anderen Theile des Nervensystemes aus leide; dass aber besonders diese Art von Epilepsie allmälig immer mehr das Gedächtniss und zuletzt den Verstand selbst schwäche, und am Ende zu wirklichem dauerndem Blödsinne führe, sei eine allgemeine Beobachtung. Diesem Erfahrungsgrundsatze entsprechend, hätten sich denn auch nach den aktenmässigen Notizen die Seelenkräfte des _Grotz_ schon vor seiner That mehr und mehr =abnehmend= gezeigt. Da nun derselbe ausser seiner Epilepsie nie krank gewesen, aber nachdem ihn dieses Uebel befallen, immer unbrauchbarer geworden sei, so könne man mit Sicherheit die =erste= der obigen Fragen dahin beantworten: der Verbrecher ist ein Kranker und leidet, auch ausser seinen epileptischen Anfällen, durch diese seine körperliche Krankheit an erkennbarer =dauernder Geistesschwäche=. Diese aber ist bei ihm, ausser Gedächtnissschwäche, auch Verstandesschwäche, und zwar in letzterer Bedeutung zugleich =Dummheit= und =Blödsinn=, insofern man unter =Dummheit= (im engeren Sinne) diejenige Beschränktheit des Verstandes begreift, bei welcher ein Mensch sich unfähig der nöthigen Umsicht im Handeln zeigt, weil er immer nur =einen= Gegenstand auf einmal aufzufassen vermag, wobei er zwar nicht ohne Causalnexus handelt, aber ohne alle Klugheit verfährt, eben weil er nicht fähig ist wahrzunehmen, dass auch andere gleichzeitige Umstände so wichtigen Einfluss haben, dass sein Handeln, sobald er jene ausser Acht lässt, völlig den vorgesetzten Zweck verfehlen muss. In einigem Gegensatze zur Dummheit wird mit Recht der =Blödsinn= dahin bestimmt, dass er eine Geistesschwäche ist, die hindert, überhaupt vernünftige Folgerungen aus dem, was man wahrnimmt, zu ziehen, auch wenn das noch vorhandene Wahrnehmungsvermögen nicht blos einen beschränkten Gegenstand umfasst, wie dieses die Dummheit thut. Im höheren Grade von Blödsinn fehlt es zwar schon an der gehörigen Kraft des Wahrnehmungsvermögens für äussere Gegenstände, in den mittleren Graden des Blödsinnes kann aber die Wahrnehmung für mehrere gleichzeitige äussere Gegenstände noch hinreichend vorhanden sein. Der Blödsinnige vermag aber überhaupt nicht das, was er wahrnimmt, verständig so zu bearbeiten, dass ein Resultat seines Nachdenkens dadurch entstände, welches seinen Willen zu einem zweckmässigen Handeln zu bestimmen vermöchte. Mehr oder minder Schwäche aller Seelenfunktionen begleitet nothwendig den Blödsinn, aber nicht nothwendig die Dummheit, die trotz der Beschränktheit ihres geistigen Wahrnehmungsvermögens in Hinsicht ihres einzelnen Gegenstandes sehr energisch handeln kann. Hartnäckigkeit bei einem einmal gefassten Entschlusse ist sogar bei der Dummheit sehr gewöhnlich, aber auch natürlich, da bei ihr die Seele unfähig ist, einen Entschluss durch Vergleichung mit anderen und mit den entfernteren wahrscheinlichen Folgen zu berichtigen. Insofern =will= zwar immer der Dumme, aber im Verhältnisse zum Grade seiner Dummheit nur mit Einseitigkeit, d. h. ohne vorausgegangene =Wahl=, die er nicht vornehmen =kann=. Vergesslichkeit und Gedächtnissschwäche sind die gewöhnlichen Begleiter des Blödsinnes, weil Schwäche des Hirnes zunächst auch Gedächtnissschwäche verursacht, und nun wieder nichts so sehr den Gebrauch des Verstandes einschläfert, als wenn Wahrgenommenes nicht mehr verglichen werden kann mit anderen Thatsachen, die das Gedächtniss liefern sollte. Bei der Dummheit ist aber nicht nothwendig eben so sehr allgemeine Gedächtnissschwäche, wenigstens nicht für den einzelnen einmal eingeprägten Gegenstand, vorhanden. -- „=Ich habe nicht daran gedacht=,” sagt der Dumme bei dem einfachsten Vorhalte, den man ihm macht; der Blödsinnige aber antwortet: „=Ich habe an nichts gedacht.=” Bei dem Kranken nun, von dem hier die Rede ist, spricht ein allgemeines Abgestumpftsein, eine allgemeine Schwäche seiner Seelenfähigkeiten für einen bedeutenden Grad von Blödsinn. Doch hat er dabei eine Neigung, seine geringe Geistesthätigkeit auf eine unbesonnene Art auf einzelne Gegenstände mit Eifer anzuwenden, z. B. auf die Aussicht auf die Erbschaft von seinem erschlagenen Vater; auf die, ein Weib zu nehmen; auf den Wunsch, aus seinem Gefängnisse ohne Weiteres wieder nach Hause entlassen zu werden. Er ist also in bedeutendem Grade =blödsinnig= und in noch höherem =dumm=. Zwei Vorstellungen spielen eine Hauptrolle in seiner Seele: er hätte gern ein Weib gehabt; mehr aber als darüber hatte er ohne Zweifel Sorge, weil er wusste er sei der einzige Erbe seines Vaters, dass das ihm künftig zufallende Vermögen nicht durch Wiederverheirathung seines Vaters an andere Leute komme. Bei der Vollführung des Verbrechens wusste _Grotz_ zwar wohl, was er thun wollte und was er that. Allein wie unfähig er war, auch nur an das Allernächste daneben zu denken, welcher tiefe Grad von Dummheit also bei ihm Statt hatte, ergibt sich schon ausser vielem Anderen daraus, dass er glaube konnte, man werde seinen Vater, der blutend mit so viel furchtbaren Wunden an der Treppe lag, ohne weitere Nachfrage für gestorben oder todtgefallen halten, dass er denselben im Hausären liegen liess und die Axt, womit er ihn erschlagen hatte, nur unter die Treppe steckte, wo sie Jedermann gleich finden konnte. Dass er aber auch im bedeutenden Grade überhaupt =blödsinnig= sei, wenn Blödsinn in dem oben angeführten Sinne genommen werde, ergebe sich aus dem Benehmen und vielen Aussagen des Angeschuldigten während der ganzen Untersuchung. Wenn auf der anderen Seite der Verbrecher in seinem Dorfe nicht gerade als völlig blödsinnig bekannt war, und in den Verhören selbst einzelne Aeusserungen von ihm vorkommen, die wenigstens einige Verstandesreflexionen verrathen, so kommt hier dagegen in Rechnung, dass der Verbrecher nicht an einem angebornen oder schon in der frühesten Jugend vorhandenen, oder aus einem plötzlichen, durch eine Krankheit entstandenen, schlagflussartigen Blödsinne leidet, sondern dass er früher, noch am Ende der Schulzeit, =gute Fähigkeiten= hatte, und dass Epilepsie nur allmälig den Verstand schwächt. Vieles wird er also aus Gewohnheit noch vernünftig thun, und das, was im gemeinen Leben verhandelt wird, gleichsam mechanisch besorgen können, ohne von anderen Leuten darin abzuweichen. Da auch sein Verstand nicht in völliger gleichförmiger Allgemeinheit zum Blödsinn herabgesunken zu sein scheint, so wird er sogar in einzelnen, ihm besonders wichtigen Dingen immer noch einige Spuren von Ueberlegung zeigen können, bis etwa die zunehmenden Folgen seiner Krankheit ihn zum völligen simpelhaften Blödsinn, falls er nicht früher seinen Anfällen unterliegt, werden gebracht haben. Es könnte jedoch immer noch die Frage gemacht werden, ob nicht der Verbrecher sich nur =blödsinnig stelle=; allein die Gewissheit, dass er schon vor der That epileptische Anfälle hatte, nach ihnen häufig in einem verwirrten Zustande sich befand, dass er durch sie an Gedächtniss und Verstand geschwächt wurde, dass dieselbe gleichsam nothwendig sogleich entdeckt werden musste: alle diese Umstände entfernen völlig den Verdacht, als ob das ganze Benehmen des Verbrechers blosse Verstellung sei. Dazu kommt, dass alle Blödsinnigen und Verrückten zuweilen etwas Boshaftes zeigen, und nicht selten wirklich sich zu verstellen suchen, dass aber Leute gemeinen Standes, sobald sie an einem vollkommen Blödsinnigen und Verrückten so etwas bemerken, sogleich nun schliessen, die ganze Krankheit sei nichts als Bosheit und Verstellung. Wichtiger wird hier die Untersuchung, ob _Grotz_ nicht zuweilen =verrückt=, nicht blos blödsinnig sei, um so mehr, als Fallsucht und Verrücktheit nicht ganz selten miteinander verbunden sind. In diesem Falle wäre nicht blos davon die Rede, dass _Grotz_ gewöhnlich nach seinen Anfällen zwar wieder aufsteht und willkürlich seine Glieder bewegt, aber eine kurze Zeit lang sein Bewusstsein offenbar noch nicht völlig wieder hat, nicht wahrnimmt, was eigentlich äusserlich mit ihm vorgeht, und auch nachher von diesem Zustande gar nichts mehr weiss. Es wäre die Rede davon, ob _Grotz_ nicht auch zuweilen längere Perioden von eigentlicher Verrücktheit hätte, in welchen er unwillkürlich, oder nach falschen ihm vorschwebenden Einbildungen handeln müsste, und wobei er doch zugleich die äusseren Verhältnisse mehr oder minder deutlich wahrnehme, auch wenn die Periode vorüber wäre, mehr oder minder dessen, was in ihr vorgegangen, sich noch erinnern könnte, was fast immer bei eigentlichem Wahnsinne der Fall ist. Es kommen auch in den Akten einige Vorfälle (die auch oben angeführt worden) vor, welche es sehr wahrscheinlich machen, dass zuweilen etwas der Art in dem Kranken vorgehe, und insbesondere zeigen die gegen das Ende der Untersuchung bei _Grotz_ vorgekommenen nächtlichen Auftritte und Visionen, dass wenigstens in dieser Zeit der Kranke einem eigentlich =verwirrten Zustande= sich immer mehr näherte, dass also um so wahrscheinlicher auch schon früher wenigstens eine Neigung zu längeren Anfällen von wirklicher Verrücktheit bei ihm Statt hatte.” Hierauf wurde die =zweite= der oben bemerkten Fragen von der medizinischen Fakultät dahin beantwortet: „Die dauernde Geisteskrankheit oder Geistesschwäche ist eine =allgemeine Abnahme seiner Seelenkräfte=, besonders =sehr grosse Gedächtnissschwäche=; ausserdem Schwäche der =Ueberlegungskraft= überhaupt, vorzüglich aber =Beschränktheit= derselben blos auf den nächsten, den Inquisiten gerade stark interessirenden Gegenstand mit Unfähigkeit, auch die natürlichsten Folgen davon einzusehen, und endlich =Stumpfheit alles moralischen Gefühles=. Der Inquisit ist im =höchsten Grade dumm= und =moralisch stumpfsinnig=, überhaupt aber in bedeutendem Grade =blödsinnig=. Diese durch Epilepsie erzeugte krankhafte Abnahme seiner Geisteskräfte droht zugleich gegenwärtig immer mehr in ausbrechende Krankheit derselben, d. h. der allgemeinen Schwäche des Gehirns ungeachtet, in =einseitige= und die Freiheit der Seele aufhebende Aufreizung der Hirnfunktion, in =wirkliche Verrücktheit=, besonders der Einbildung und selbst der unwillkürlichen Triebe =überzugehen=.” In Bezug auf die aufgestellte =dritte= Frage wird bemerkt: „Selbst jetzt findet noch keine =dauernde=, wirklich krankhafte Verrücktheit bei dem Inquisiten Statt. Dummheit aber allein hebt nicht an sich das moralische Gefühl auf, sie also lässt selbst in der Beschränkung, dass der Wille nur nach =einer= Vorstellung handeln kann, die Einsprache des Gefühles von Recht oder Unrecht, ob überhaupt gehandelt werden solle, noch zu. Blödsinn stumpft zwar, sich überlassen, gleichförmig Wahrnehmung, Ueberlegung, moralisches Gefühl und Willen ab, damit aber lässt er noch ein relatives Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Seelenfähigkeiten zu, womit Freiheit der Wahl oder Willensfreiheit in ihm entsprechendem Grade doch noch möglich bleibt. Damit ist auch bei dem Inquisiten anzunehmen, =dass weder ehemals, noch jetzt im gewöhnlichen Leben=, wenn nichts seinen geringen Grad von Ueberlegungsfähigkeit Uebersteigendes vorkommt, und wenn er nicht einen Anfall, weder von halber Bewusstlosigkeit, wie nach seinen Paroxismen von Fallsucht, noch von verwirrter Unruhe, wie sie sich in neuerer Zeit bei ihm ausspricht, hat, =seine Willensfreiheit nicht absolut aufgehoben sei=. Aber bei der krankhaften Dummheit, dem Blödsinne und der Abstumpfung des moralischen Gefühles, worin der Inquisit durch die Epilepsie verfallen ist, können =eben so leicht= Vorfälle sich ereignen, deren Eindruck seine schwache Ueberlegungskraft =übersteigt=, die völlig sein moralisches Gefühl übertäuben, seinen schwachen Verstand ganz gefangennehmen und ihn gänzlich blos dem Antriebe, den Furcht oder eine andere überwältigende Gemüthsaffektion erzeugt, überlassen, in welchem Falle er dann keine Kraft, also auch kein =Mittel= mehr hätte, anders als dieser Furcht gemäss zu handeln. In solchem Falle wird er =keine Willensfreiheit mehr besitzen=, selbst wenn er dabei das Bewusstsein des =einen=, hierbei seine ganze Seele unwillkürlich und ausschliessend erfüllenden Gedanken, so wie der äusseren Umstände und seiner eigenen Handlungen behielte, und deswegen nachher noch angeben könnte, wie es zugegangen sei. Wenn also nach der ganzen Ansicht des Seelenzustandes des gegenwärtigen Verbrechers, wie sie aus den Akten hervorgeht, die =dritte Frage= dahin beantwortet werden muss, dass bei dem Inquisiten Alles auf die =jedesmaligen Umstände= ankommt, ob Willensfreiheit, also auch Zurechnung bei ihm Statt finde, oder ob jene im minderen oder höheren Grade beschränkt sei oder ganz aufgehoben, so wird, bemerkt nun das Gutachten weiter, auch die =vierte Frage=: „Erscheint es nicht als zweifelhaft oder gar als wahrscheinlich, dass der Angeschuldigte zur Zeit, als er den Entschluss, seinen Vater zu tödten, fasste und ausführte, sogar in einem Zustande völliger =Unfreiheit= seiner Seele handelte?” blos aus der wahrscheinlichen Stärke der damaligen Beweggründe zu dieser einzelnen That, aus ihren Verhältnissen zu der Geistesschwäche und Krankheit des Verbrechers zu der Zeit, oder aus ihrem wahrscheinlichen Einflusse auf Erregung einer, wenn schon vorübergehenden, doch wirklich krankhaften Verrücktheit sich beantworten lassen. Der Verbrecher beging seine That nicht in der Trunkenheit, ungeachtet er den Branntwein sehr liebte, wie überhaupt Blödsinnige stark aufreizende Sinneseindrücke lieben, und wie die aus den gemeinen Ständen namentlich gern Branntwein zu sich nehmen, weil sie ein dunkles Gefühl ihrer Kopfschwäche haben; und obschon der Inquisit am Abend vor seiner That mit seinem Vater in der Branntweinschenke gewesen war und dort getrunken hatte. Es wird ausdrücklich durch Zeugenaussagen bestätigt, dass weder der Vater noch der Sohn von jenem Branntweine im =Mindesten betrunken= geworden seien. Eben so wenig bestand eine eingewurzelte Feindschaft zwischen ihm und seinem Vater. Zwar hielt dieser ihn unter genauer Aufsicht, zankte viel mit ihm, drohte öfters, ihn wegzujagen, und der Sohn beschwert sich, dass er ihm so wenig oder beinahe kein Geld gegeben habe, ungeachtet er dem Vater mit seiner Weberarbeit so Vieles verdiente. Gleichwohl lebten Beide friedlich miteinander, und der Sohn gibt selbst an: der Vater sei meistens gut gegen ihn gewesen. „Er (der Sohn) habe ihn (den Vater) schier immer leiden mögen. Der Vater sei meistens nur mit ihm verzürnt gewesen, manchmal habe er aber auch nichts gesagt.” Aber der Inquisit =fürchtete= sich so sehr vor allem =Zanke= selbst, dass er, aus Abneigung vor solchem, lieber seinen Wunsch, ein Weib zu nehmen, unterdrückte, so viel dieser Gedanke zu heiraten ihn auch, wie selbst seine oben angeführten Aeusserungen nach der That zeigen, beschäftigte. Am meisten fürchtete er aber, =von seinem Vater aus dem Hause gejagt zu werden und um sein Erbtheil dadurch zu kommen=; was freilich einem Menschen, der wusste, dass er an einer für unheilbar gehaltenen Krankheit leide, und der ohne Zweifel, dunkel wenigstens, seiner zunehmenden Verstandesschwäche selbst zuweilen sich bewusst wurde, nicht viel weniger, als ein völliger Untergang erscheinen musste. Da er, wie schon angeführt wurde, eine zweite Heirat seines Vaters vorauszusehen glaubte, so besorgte er, wenn er nicht mehr im Hause sein würde, dass dann um so gewisser an Fremde das Vermögen kommen werde, welches nach des Vaters Tod ihm gehört haben würde. Erst jetzt, an dem Abende vor der That, nahm er sich vor, seinen Vater todtzuschlagen. „Am =Abend=,” sagt er, „ist es geschehen; so ist es angegangen: dass er =gebalgt= hat, und hat gesagt, =er wolle mich fortjagen, und wenn so was ist, da weiss man nimmer, was man thut=.” Auch lange nachher noch gibt er bei Gelegenheit, als er in seinem Gefängnisse durch das Loos mit dem Gebetbuche und den Strohhalmen erfahren wollte, ob er oder der Vater Schuld gehabt habe, an: da ist es denn immer gekommen, dass ich's hab' =thun müssen=, weil er so gebalgt hat. Eben so, als er im Verhöre weinte und über die Ursache befragt wurde, antwortete er: „Ich muss eben greinen, dass ich so was hab' =müssen thun= -- und so da (im Gefängnisse) sein muss.” Jene Beweggründe zu der Tödtung und ihr Einfluss auf den Seelenzustand des Verbrechers ergeben sich bei aller Verwirrung und dem theilweisen Widerspruche, der nicht selten in den Aussagen des verstandesschwachen Inquisiten herrscht, allein konstant und klar. Das Verbrechen war nicht vorbereitet, nicht vorbedacht, und wenn nach des Verbrechers oben angeführten Aeusserungen, als er verhaftet abgeführt wurde, es scheinen könnte, als wäre vielleicht der Entschluss zu dem Verbrechen schon vorher, und zwar zu dem Zwecke, ein Weib nach des Vaters Tod nehmen und ihn beerben zu können, gefasst worden, so widerspricht solcher Annahme das, was in den Aussagen des Inquisiten beharrlich sich gleich bleibt; auch die innere Uebereinstimmung dieser einfältigen Angaben unter sich und mit dem ganzen Seelenzustande des Kranken, wie er sich auch durch andere Umstände darstellt, spricht gegen eine solche Vermuthung. Jene Aussagen des Inquisiten erscheinen um so mehr als blosse Aeusserungen blödsinniger Freude über Errettung von dem gedrohten höchsten Uebel, dem, durch Wegjagen um die Erbschaft zu kommen, als hierbei auf die dümmste Art der Inquisit als Folge der Errettung diese für ihn wichtigsten, heiteren Aussichten in die Zukunft sich vormalt. Jetzt durfte er ja auch keine Furcht mehr haben, von seinem Vater wegen seiner Heiratspläne =ausgezankt= zu werden, was zu vermeiden ihm doch noch mehr am Herzen lag, als selbst ein Weib zu nehmen; denn auch auf die Fragen: „Was habt Ihr wegen des Heiratens (damals, als der Vater ihn deswegen ausgezankt hatte) weiter bei euch gedacht? Dachtet ihr, ihr wolltet doch heiraten, oder habt ihr den Gedanken (damals) aufgegeben?” antwortete er: „Nichts mehr habe ich gedacht, aus sein lassen, ich hab' an nichts mehr gedacht.” Der Inquisit gibt zwar selbst an, er sei bei der That zornig auf seinen Vater gewesen, doch scheint es kein Anfall solchen blinden Zornes gewesen zu sein, dass er darin nicht mehr gewusst habe, was er thue; er gibt zu bestimmt den Zweck an, warum er die That begangen habe. Und obschon er im Verhöre und im Gefängnisse leicht zornig wurde, und selbst durch solche zornige Stimmung häufiger seine epileptischen Anfälle bekam, so brach doch nie -- einen Fall offenbarer Verwirrung im Gefängnisse ausgenommen -- sein Zorn in Heftigkeit oder in ein Toben aus, in welchem er blos aus Zorn seiner nicht recht mächtig gewesen wäre. Da auch keine Spur vorkommt, dass die That in einem jener oben angeführten Anfalle geschehen wäre, wo der Kranke längere Zeit untermischt seiner bewusst und doch dabei auch krankhaft verwirrt ist, so scheint die Meinung des Oberamtsarztes, als sei die ganze That wirklich „=in einem Furor, in der Raserei=” verübt worden, nicht ganz begründet zu sein, denn =Verwirrtes= kommt bei der ganzen That, wenn man die Verstandesschwäche des Inquisiten und den Zweck, den er seinen eigenen Angaben nach vorhatte, beachtet, eigentlich gar nichts vor. Auch hatte der Kranke am Tage des Verbrechens nur Vormittags einen nicht starken, ihm sonst auch gewöhnlichen epileptischen Anfall. Er und sein Vater betrugen sich den Tag über gegen einander wie gewöhnlich, und ein Weibsbild, das dem Vater die Haushaltung führte, spürte nicht das Geringste, dass sie wären übereinander erzürnt gewesen. Auch Nachmittag zeigte sich nichts Auffallendes an dem Inquisiten, er hatte auch einen epileptischen Anfall, und zwischen ihm und seinem Vater war Einigkeit. Selbst Abends, als Vater und Sohn mit einander in der Branntweinschenke waren, waren sie in ganz gewöhnlicher Verfassung, gegenseitig sehr friedlich, und insbesondere der Sohn ganz ordentlich; sogar noch beim Nachhausegehen Nachts um 10 Uhr verhielten sie sich eben so. Auch bemerkte man, da die That bald entdeckt wurde, gleich nach ihr am Angeschuldigten nichts Auffallendes. Sogar wollte er damals die That mit einiger Schlauheit läugnen, sagte: „sein Vater habe ein Loch in den Kopf gefallen. Er (der Sohn) habe das fallende Weh gehabt, und sei die Stiege herab auf seinen Vater hingefallen.” Nur nach völlig vollbrachter Tödtung scheint der Sohn, wahrscheinlich aber erst durch die Grausamkeit seiner That selbst, einige Augenblicke lang =verwirrt= geworden zu sein, wenn er nicht anders aus Gedächtnissschwäche Umstände, die vorfielen, als schon Leute hingekommen waren, mit Umständen, die, während er noch allein war, sollten vorgekommen sein, späterhin beim Verhöre verwechselt hat. Er gibt nämlich an, er habe seinem ermordeten Vater (zur Zeit, wo er noch allein mit diesem im Hause war) das Geld genommen, „=weil so Leut 'rein geschrien haben zu mir=.” Späterhin sagte er, nachdem er angegeben, wo er seinem Vater noch drei Streiche gegeben habe, und nun gefragt wurde, ob damals schon die Wächter dazu gekommen seien: „Nicht gerad' Wächter, eben Leut', und haben grausig gebalget.” Aber selbst wenn dieses nicht Verwechslung der Zeit und der Umstände ist, wenn es Verwirrung war, so ist zu bemerken, dass sie nicht während des Todtschlages, sondern erst wie der Vater schon todt war, eintrat, und schon, ehe bald darauf die Wächter kamen, wieder aufgehört haben musste. Wenn nun gleich kein Anfall von eigentlicher =Raserei= als Grund des Verbrechens angenommen werden kann, so muss doch schon das Grässliche eines Vatermordes[109], besonders eines so grausamen, als dieser ist, und wenn er aus so nichtiger Veranlassung auf eine so ganz unkluge Art begangen wird, den Verdacht erwecken, dass es mit den Seelenkräften des Thäters nicht richtig könne gewesen sein. Der Blödsinn des Inquisiten war offenbar so gross, dass er ihn nicht einsehen liess, dass sein Vater noch Nachts nicht werde zum Vogt gehen und werde ihn fortjagen lassen, dass der Vogt nicht einen einzigen Sohn ohne Weiteres werde fortjagen dürfen, und dass sein Vater ihm also mit seinem Weggehen nur heftig drohen wolle. Der Inquisit musste, eben wegen seiner grossen Verstandesschwäche, glauben, dass Alles dem Buchstaben nach und sogleich so folgen werde, wie der Vater drohte. Er musste also auch glauben, im Augenblicke werde für ihn das grösste Unglück, das sein ganzes künftiges Leben bedrohe, erfolgen, und weil er unfähig war, durch Ueberlegung auf einen anderen Gedanken zu kommen, =so musste er völlig dieser seiner Furcht sich hingeben=, und zwar in einer Gemüthsstimmung, wo ihm schon das Zanken des Vaters und die Drohung mit dem Vogte den grössten Widerwillen erregt hatte. Seine fast thierische Dummheit =musste= ihn nun beim einfachsten Schlusse stehen bleiben lassen: das drohende Unglück lasse sich nicht anders verhindern, als wenn der Vater =gleich jetzt= verhindert werde, es herbeizuführen. Der =Vater= selbst =konnte= dabei =nicht= in Betracht kommen, da der nämliche Blödsinn selbst nachher noch den Angeschuldigten hinderte, die Strafbarkeit des Todtschlages eines Vaters auch nur einzusehen (so gänzlich also auch das moralische Gefühl des Sohnes abgestumpft und geschwächt hatte), und da derselbe dumme Blödsinn hinderte, dass der Sohn hätte überhaupt verschiedenartige Gedanken oder Vorstellungen von der Sache gleichzeitig nach einander sich machen =können=. =Einen= Gedanken hatte er aber schon, der seine ganze Seele schnell erfüllte, den der Furcht für eigene Existenz. Also =konnte= in seiner Seele kein innerer Streit entstehen, es =konnte= in ihr damals nichts für den Vater sprechen. Der Sohn =musste= sich also unwillkürlich entschliessen, um sich zu retten, =den Vater sogleich unthätig zu machen, das Unglück auszuführen=. Daher gab er auch so oft bei der Untersuchung auf alle Fragen, ob er denn sonst bei seinem Entschlusse oder seiner That an nichts weiter gedacht habe, zur Antwort: =er habe an nichts gedacht=. Zurückhalten konnte er den Vater nicht, weil dieser, den Akten nach, ein sehr starker Mann war, so viel sah er wohl noch ein. Aber von hinten todtschlagen konnte er ihn, wenn er eine Axt nahm, das begriff diese, alle die wenige noch mögliche Ueberlegung auf einen Punkt der Selbsterhaltung beschränkende Dummheit. Weitere Auskunftsmittel, als dieses nächste, =konnten= dem Blödsinnigen, der an nichts Weiteres denken konnte, nicht einfallen. =Er musste also, weil er keine Wahl zwischen verschiedenen Empfindungen und Gedanken, sondern nur Eine Empfindung und Eine Vorstellung hatte und haben konnte=, da ihn doch die grösste Furcht, die sich seiner ganzen Seele bemächtigt hatte, sogleich zum Handeln trieb, =den Vater todtschlagen=, weil ihm unglücklicher Weise nur dieses einfiel und nichts Zweites dabei einfallen =konnte=. Er =musste= nun in seiner zornigen Angst dieses mit all' dem Eifer und der Beharrlichkeit, was der aufgeregten Dummheit eigen ist, thun, ohne dass er daran denken =konnte=, dass er durch seine Handlung seinen ganzen eigentlichen Zweck selbst wieder vernichte, und er das gefürchtete Unglück, sein Haus und Vermögen zu verlieren und kein Weib zu bekommen, viel gewisser selbst herbeiführe. [109] Es bedarf hier wohl kaum der Bemerkung, dass in diesem medizinischen Gutachten mit den Ausdrücken Mord und Todtschlag nicht genau die unterscheidenden Begriffe von Mord und Todtschlag verbunden sind. Dass dieses der eigentliche Hergang der That gewesen sei, ergibt sich aus der Betrachtung aller Aussagen und des sonstigen Benehmens des Inquisiten. Es kann ihm bei der That der Gedanke immerhin dunkel vorgeschwebt haben, dass, da er seinem Vater, der ehemals Schulden hatte, so viel verdient habe, das Erbe, dessen ihn dieser berauben wolle, eigentlich sein sei, und dass, wenn er jetzt den Vater so gewiss verhindere, ihn unglücklich zu machen, jener auch für immer daran verhindert sei. Der Inquisit konnte in seiner Dummheit hoffen, mit dem Tode des Vaters sei er selbst überhaupt für immer aller Besorgnisse, die ihn früher schon so manchmal gepeinigt hatten, überhoben. Es ist ebensowohl gewiss, dass der gerade jetzt durch das Zanken wieder erweckte augenblickliche Hass gegen seinen Vater, da dieser alles seiner Seele Unangenehme in der Zeit auf ihn gehäuft hatte, seinen Entschluss vollends zum einzigen ihm möglichen Gedanken erhob, und auch gar kein moralisches Gefühl mehr aufkommen liess. Höchstens schienen seine Sinne noch etwas „Grausiges” beim Schlagen und beim Anblicke des Blutes empfunden zu haben, daher ihn vielleicht am Ende des Todtschlages einige oben bemerkte Verwirrung befiel. Aber selbst im Gefängnisse noch musste ihn der Oberamtsrichter erst fragen, ob es ihm denn nicht grausig wäre, in dem Hause zu sein, wo er den Vater todtgeschlagen, bis er zugab: „Grausig wäre es mir g'sein, aber sonst weiss ich nirgends hin.” Wäre es blos Zorn gewesen, der etwa schnell den Inquisiten übermannt hätte, so wäre nach der argen That mit dem Aufhören des Zornes früher oder später verhältnissmässige Reue erfolgt. Da dieses nicht der Fall war, da der Inquisit gleichsam erst mit Mühe durch den Oberamtsrichter darauf geleitet werden musste, so beweist dieses wohl noch mehr, dass der Inquisit so gut lange nachher noch, wenigstens dunkel, sich bewusst blieb, er habe damals bei seinem Verstande nicht anders denken, empfinden und handeln können. Auch kommt in den Aussagen des Inquisiten nie etwas vor, das anzeigte, er habe seinem Vater gleichsam nur zur Wiedervergeltung Leid zufügen wollen; der Eifer, womit er ihn nur „=gewiss todt haben wollte=,” zeigt im Gegentheile, dass der herrschende Gedanke bei der schrecklichen That blos der an die sicherste Abwendung des dem Inquisiten selbst drohenden grossen Unglückes war. Daher weiss er auch in der ganzen Untersuchung nur das noch mit Bestimmtheit anzugeben, was Bezug auf diesen einzigen Gedanken und auf das Mittel, nämlich auf das „Gewisstodthaben” des Vaters, hat; in allen übrigen Umständen: in dem Geldwegnehmen, in der Zeit, wann der Vater zum Balgen angefangen, ob er und der Vater schon im Bette gewesen u. s. w., verwickelt er sich immer in Widersprüche, offenbar weil diese unwesentlichen Umstände noch nicht tiefen Eindruck genug auf sein schwaches, damals noch nicht stark genug erregtes Vorstellungsvermögen gemacht hatten. Dabei ist aber schon angezeigt worden, dass die That selbst auch nicht in eigentlicher kranker Verwirrung, die gar nicht mehr weiss, was sie thut, geschah. Wäre zuletzt eine solche auch eingetreten, so ist sie mehr als zufällige Folge, welche durch die That hervorgebracht wurde, anzusehen, als dass sie die That veranlasst hätte, ohne dass deswegen in anderen Fällen eine offenbare Verwirrung, wie solche ein Jahr vor der That und nach ihr den Inquisiten im Gefängnisse befiel, ein Entstehen derselben auch aus der Krankheit in Zweifel gezogen werden könnte. Einerlei Ursache, nämlich seine Hirnkrankheit, verursacht seine blödsinnige Dummheit, die im einzelnen Falle in ihrer Art noch konsequent und mit Bewusstsein des Zweckes verfahren kann, so wie, zuweilen gesteigert, die Annäherung zu vorübergehender eigentlicher Verrücktheit. Wenn aber dieser Todtschlag selbst keiner damaligen eigentlichen Verrücktheit, die das Bewusstsein aufhebt, zugeschrieben werden kann, so war dessen ungeachtet die Seele des Inquisiten damals bei dieser That =ganz unfrei=, denn Freiheit der Seele kann nicht ohne Wahl zwischen Gegenüberstehendem bestehen; wo aber nur =Ein= Gedanke oder nur =Eine= Vorstellung möglich ist, da ist keine Wahl mehr möglich, sondern es findet völlige Gebundenheit des Willens Statt.” Nach allem Diesem beantwortete die Fakultät die ihr vorgelegte =vierte= Frage dahin: es sei anzunehmen, dass der Angeschuldigte zur Zeit, als er den Entschluss, seinen Vater zu tödten, fasste und ausführte, in einem Zustande =völliger Unfreiheit= seiner Seele gehandelt habe. Sie schloss dann ihr Gutachten mit der Aeusserung: dass, da _Grotz_ bei der fraglichen That seinem kranken Zustande gemäss habe handeln =müssen=, so würden ihm wohl auch die daraus =nothwendig= unter den damals gegebenen Umständen entspringenden Ereignisse =nicht zugerechnet= werden können. Aber eben deswegen sei er ein für die Sicherheit Anderer =gefährlicher= Kranker, den der Staat so lange verwahren und in eine Lage versetzen müsse, wo ihm das Vollbringen ähnlicher Thaten, fühlte er sich auch dazu gedrungen, unmöglich werde, bis einmal seine Krankheit selbst ihn erlöse. Diese sei aber wegen ihrer langen Dauer, und ihrer Art nach (=als idiopathische Hirnepilepsie=) für unheilbar zu achten. Auf den Grund dieses Gutachtens, welches nach seiner sorgfältigen Ausführung und bestimmten Fassung für den Richter keinen Zweifel mehr über die =Zurechnungsfähigkeit= des _Grotz_ übrig lassen konnte, fasste sonach der Kriminalsenat des hiesigen Gerichtshofes, ohne den Ausspruch eines =förmlichen Urtheiles= angemessen zu finden, blos den Beschluss: den Angeschuldigten rücksichtlich der an seinem Vater verübten Tödtung, als einer im Zustande völliger Zurechnungslosigkeit beschlossenen und vollbrachten That, straflos zu belassen, die erwachsenen Arrest- und Untersuchungskosten aus seinem Vermögen zu erheben, und ihn sofort als einen der öffentlichen Sicherheit gefährlichen und wohl unheilbaren Kranken der polizeilichen Behörde Behufs seiner Verwahrung in dem Irrenhause oder einer anderen angemessenen Anstalt zu übergeben. In Gemässheit dieses Beschlusses wurde dann _Grotz_ in das =Irrenhaus zu Zwiefalten= überliefert, wo er sich auch jetzt noch befindet[110]. [110] Der Verfasser dieser Darstellung hat im April 1829 (nur kurz vor dem Niederschreiben derselben) die würtembergische Irrenanstalt in Zwiefalten besucht, und dort den epileptischen _Grotz_ selbst gesehen und gesprochen. Er musste dadurch in seiner Ueberzeugung von der Richtigkeit des Urtheiles der hiesigen medizinischen Fakultät über den körperlichen und physischen Zustand dieses Menschen und dessen nothwendige Verwahrung im Irrenhause nur noch mehr bestärkt werden. _Grotz_ sah ihn beim Eintritte in seine Zelle, wo er halb auf dem Bette lag, mit finsterem und ziemlich stierem Blicke an, gab auf einige allgemeine Fragen nur mit Widerwillen abgebrochene Antworten, und die allmälig an ihn gebrachten speziellen Fragen: warum er hier sei, was er gethan habe, wo sein Vater sei u. s. w., erwiderte er stets auf gleiche Weise mit: „Ich weiss noiz (nichts).” Dass er sich auf den grässlichen Vorgang mit seinem Vater gar nicht mehr einlasse, und davon auch gar keine Erinnerung mehr zu haben scheint, wurde auch von den Aufsehern versichert. Seine epileptischen Anfälle sind übrigens dort noch eben so häufig und stark wie früher. D. _Der phränologisch untersuchte Brandleger J. Kläger, nebst Bemerkungen über das Heimweh._ Noch bevor dieses Werk vollendet war, erschien in der „Allgemeinen Zeitung” vom 3. Dezember 1845 nachfolgender Artikel, welcher eine Nachricht bringt, an deren Möglichkeit ich sowohl, als wahrscheinlich der grösste Theil meiner verehrten Leser, gezweifelt haben würde, dass man es nämlich im Ernste unternommen habe, die Phränologie zur Ausmittlung der Zurechnungsfähigkeit eines Verbrechers in Bezug auf seine verübte That anzuwenden. Der Artikel, von dem die Rede ist, lautet folgendermassen: „=Würtemberg.= (Tübingen.) Vor Kurzem stand hier wiederum ein jugendlicher, kaum 15 Jahre alter Verbrecher vor Gericht, der Brandlegung geständig. -- Er habe, sagt der Beschuldigte, während seiner zwölftägigen Abwesenheit von seinen Eltern arg Heimweh gehabt; als seine Eltern nicht darauf hätten eingehen wollen, ihn zurückzurufen, sei es ihm in den Sinn gekommen, dass er durch Anzünden des Hauses sich die Rückkehr sichern könne. Zwei Tage vor dem Brande habe ihm geträumt, das Ritterwirthshaus stehe in Flammen und seine Kleider seien verbrannt. Als das Heimweh wieder über ihn gekommen, habe er sich auf die Bühne geschlichen und dort ein Zündhölzchen in's Stroh gehalten. Nach der That sei er ruhig hinab gegangen, habe die Stiefel ausgezogen und der Magd zum Reinigen übergeben, um durch solche Unbefangenheit den Verdacht von sich abzulenken. Sonst habe er geglaubt, höchstens der Dachstuhl werde niederbrennen, nicht aber das ganze Haus. =Das Gutachten des Oberamtsarztes hatte zu seiner Entschuldigung angeführt, dass die starke Entwicklung des Mittelhauptwirbels sich nach _Carus_ dem Verbrechertypus nähere=, die Entwicklungsjahre die natürliche Anlage[111] zum Ausbruche gebracht hätten, und ausserdem das krankhafte Heimweh einen Zustand des Irrsinnes herbeigeführt haben kann[112]. Die medizinische Fakultät in Tübingen verwarf aber solche Argumentation auf das Bestimmteste, und bemerkte dagegen, dass die Kopfformation des Beschuldigten auch nach _Carus_[113] nicht auf Inklination zu Verbrechen hinweise; übrigens sei die ganze Phränologie in solcher Beziehung zweifelhaft, Heimweh beeinträchtige die Zurechnungsfähigkeit nicht, und die körperliche Entwicklung des Verbrechers stehe durchaus im normalen Verhältnisse. Das Streben des oberamtsärztlichen Gutachtens sei offenbar darauf gerichtet, den Begriff der Pyromanie zu retten, sie könne solche nicht anerkennen. -- Der Gerichtshof verurtheilte den Beschuldigten zu siebenjähriger Zuchthausstrafe.” [111] Welche Anlage? Die Anlage zum Verbrecher=typus=? Was lag daran, so lange nicht bewiesen ist, dass dem Typus auch Handlungen entsprechen =müssen=. [112] Das war es eben, worüber das ärztliche Zeugniss verlangt wurde; man wollte ohne Zweifel von Seite des Gerichtes wissen, ob ein solcher Zustand =vorhanden war= oder nicht, als man den Arzt fragte, denn dass der Junge irrsinnig gewesen sein =könne=, hat wohl Niemand bezweifelt. [113] Wenn auch Dr. _Carus_, was ich sehr bezweifle, von einem =Verbrechertypus= gesprochen haben, und nicht vielmehr die physische Anlage zu gewissen, den Verhältnissen und insofern auch den Gesetzen trotzenden Handlungen gemeint haben sollte, so ist und bleibt dies doch nur die Ansicht eines =einzelnen= Mannes, und kann noch dazu sehr leicht missverstanden werden. Uebrigens ist der Schluss von einem Verbrechertypus auf einen unwiderstehlichen Hang zum Begehen eines Verbrechens falsch, denn der Verbrechertypus kann höchstens so viel bedeuten, als: Jeder, der dieses Verbrechen beging, hatte diesen Typus; es folgt daher höchstens (und dies ist mehr als man zugeben kann): Jeder, der den Typus nicht hat, hat auch keinen Hang zu dem Verbrechen; falsch geschlossen ist es aber, zu sagen: wer den Typus hat, habe auch den Hang zu dem Verbrechen. Ein solcher Schluss wäre ungefähr eben so richtig, als wenn man sagen würde: ein Bär hat braune Haare, der X hat auch braune Haare, folglich ist der X ein Bär. * * * * * Da unter den im Verlaufe des von Gemüthszuständen handelnden Aufsatzes das =Heimweh= nicht vorkommt, so glaube ich hierüber erinnern zu müssen, dass dasselbe in seiner Entstehung nicht etwa eine =Krankheit=, sondern derjenige Gemüthszustand ist, der nothwendig bei jedem nicht ganz gefühllosen Menschen entstehen muss, welcher aus gewohnten ihm liebgewordenen Verhältnissen hinaustritt, welche Empfindung den natürlichen Wunsch erzeugt, wieder in die gewohnten Verhältnisse zurückzutreten. -- Ob dieser Wunsch entsteht, wird von der Lebhaftigkeit des früheren Eindruckes, von dem Kontraste der Gegenwart und von der moralischen Gewalt, welche der Mensch über seine Phantasie hat, ferner von dem Grade seiner Empfänglichkeit für äussere Eindrücke überhaupt, und endlich von dem grösseren oder geringeren Kreise abhängen, in welchem er seine Vorstellungen zu üben gewohnt ist. Der Gebirgsbewohner, dessen Vorstellungen in jene, welche ihm seine Berge liefern, wie mit einem natürlichen Rahmen eingefasst sind, wird mehr zum Heimweh geneigt sein, als der Flachländer, dessen Phantasie nicht mit so stereotypen Randzeichnungen in ihren Thätigkeiten versehen ist, der Letztere vermisst daher nicht immer etwas, wenn er seine physische Existenz ändert, wohl aber empfindet ein Flachländer, welcher mit Einemmale in das Gebirge versetzt wird, ein Etwas in seinem Inneren, welches etwa ein in einem Käfige eingesperrter Vogel empfinden mag; es ist nicht Heimweh, wohl aber ein Sehnen, einmal wieder frei in der Welt umher sehen zu können. Das Heimweh ist daher nichts Anderes, als das Gefühl der Entbehrung des Anblickes gewisser sehr bestimmter Gegenstände, und unterscheidet sich daher von der Sehnsucht, aus einer gewissen Lage zu kommen, dadurch, dass es eine Sehnsucht nach etwas =Positivem= ist, während die Unbehaglichkeit eines anderen Menschen, welcher irgendwo verweilen muss, wo er lieber nicht wäre, nur ein =negativer= Zustand, nämlich das Hinwegwünschen gewisser unbehaglicher Eindrücke ist. Die Richtigkeit dieser Bemerkung ergibt sich auch durch den Umstand, den ich mehr als einmal zu beobachten Gelegenheit hatte, dass nämlich der Gebirgsbewohner schon von Heimweh geplagt wird, wenn er nur von dem Thale A, in dem er geboren ist, in das nur ein paar Meilen davon entfernte Thal B versetzt wird, welche Erscheinung sich dadurch erklärt, weil er bei der Beschränktheit des Lokales, in dem er lebt, und bei der geringen Anzahl von Familien, die es bewohnen, gewohnt ist, eben so jeden einzelnen Menschen, als jeden einzelnen Felsen genau zu kennen, es ihm daher ganz unerträglich scheinen muss, unter Verhältnissen zu leben, wo er die Menschen erst kennen lernen soll, was sich früher Alles von selbst machte, und wo ein jeder Berg nach dem Grundsatze, dass es nicht zwei ganz gleiche Gegenstände gibt, eine andere geometrische Figur hat. Hierin liegt die entschiedene Veranlassung des Heimwehes; es ist eine Sehnsucht nach einem Komplex bestimmter Gegenstände, und ist eben darum von weit dauerhafterer Wirkung, als jede andere Sehnsucht nach einem einzelnen bestimmten Gegenstande, z. B. nach einer abwesenden oder verstorbenen Geliebten u. s. w., weil es auch viel mehr Gegenstände gibt, die ihm das Entbehrte in Erinnerung bringen. Jeder Stein sieht am Ende dem anderen gleich und ruft ihm die Steine seiner Heimat zurück, jede Hirtenschalmei hat am Ende einige Aehnlichkeit mit dem Kuhreigen, eine Kuh brüllt wie die andere. Es ist eine auffallende Erscheinung, dass diejenigen Gebirgsbewohner, welche wegen eines Vergehens eingesperrt sind, viel weniger am Heimweh leiden, als diejenigen, welche entfernt von ihrer Heimat frei herumgehen; die Nothwendigkeit, sich mit ihren eigenen Angelegenheiten zu beschäftigen, und der Mangel an Gegenständen, welche sie an ihre Heimat erinnern, weil sie ausser den Mauern ihres Gefängnisses sonst nichts zu sehen bekommen, erklärt jedoch diese Erscheinung vollkommen. Heimweh ist also eine Sehnsucht nach Etwas, welches nicht da ist, und zwar nach Gegenständen, die dem Menschen durch seine Gewohnheit und Ungewohntheit, sich ohne dieselben im Leben zu bewegen, schwer zu entbehren sind. Dieser Zustand ist aber ein ganz natürlicher, wenn man die Verhältnisse betrachtet, in welchen ein solcher Mensch früher zu leben gewohnt war. Es ist also auch ganz natürlich, dass ein solcher Mensch wieder in seine vorige Lage zu kommen wünscht. Darin liegt aber weder mehr noch weniger Motiv zur Begehung eines Verbrechens, als bei jedem anderen Menschen vorhanden ist, welcher irgend ein Uebel von sich zu entfernen, oder irgend ein wahres oder erträumtes Glück zu erreichen strebt. Heimweh kann aber so wie jede andere nicht gestillte Sehnsucht durch seine Rückwirkung auf den Organismus Krankheiten, und zwar um so mehr Krankheiten erzeugen, welche sich durch ein gestörtes Seelenvermögen aussprechen, weil dasselbe überhaupt grösstentheils durch die Seelenthätigkeit entsteht. Dies =kann= geschehen, es =muss= aber nicht geschehen, wie es unzählige Beispiele von Leuten gibt, die allerdings an Heimweh leiden, sich aber durchaus vernünftig benehmen. Wo also in einem bestimmten Falle nichts mehr vorliegt, als dass Jemand am Heimweh leide, so folgt auch daraus nichts mehr, als dass er eine Anlage habe, krank zu werden, =dass= er aber krank wurde, dass diese Krankheit eine Seelen=störung=, und dass diese Seelenstörung der einzige Grund eines bestimmten Verbrechens sei, muss ganz auf dieselbe Art, nicht durch das Vorhandensein des =Heimwehs=, sondern durch =andere= Thatsachen, welche für die Verübung des Verbrechens als Folge der Seelenstörung sprechen, geliefert werden, wie es in anderen Fällen, wo ein solcher Beweis zu liefern ist, zu geschehen hat. Es erhellt daher, dass man sehr Unrecht hat, das Heimweh ohne Weiteres für eine Krankheit zu halten, und dass man noch mehr gegen die Gerechtigkeitspflege sich versündige, wenn man dem einzigen Umstande, dass Jemand sich nach seiner Heimat sehne, irgend einen rechtlichen Einfluss einräumt, ohne weitere, für das Vorhandensein einer Seelenstörung sprechende Thatsachen zu verlangen. * * * * * Ganz sonderbar muss es jedoch jeden Leser überraschen, die =Phränologie= zur Ausmittlung der Zurechnungsfähigkeit angewendet zu sehen. Man wird unwillkürlich dadurch an jene Gerichtssitzung erinnert, wovon in den „physiognomischen Reisen[114]” Erwähnung geschieht, bei welcher man gegen einen Kerl, welcher auf falsche Brandbriefe gebettelt hatte, mit der Tortur vorgehen wollte, weil seine Physiognomie von der Art war, dass man ihn für den Bösewicht halten musste, der den Kelch vergiftet habe. Der vermeintliche Giftmischer entsprang, und nachträglich zeigte es sich, dass das vermeintliche Gift nichts Anderes, als ein ganz unschädlicher Staub gewesen sei, der durch einen Zufall in den Kelch der protestantischen Kirche gerathen war. [114] _Musäus_' „Physiognomische Reisen.” Phränologie und Physiognomik können möglicher Weise irgendwo gute Erfolge haben, denn jede Forschung, welche mit Eifer und einem tieferen Eingehen in die Sache betrieben wird, kann durch einen glücklichen Zufall auf eine wichtige Entdeckung führen. Im Mittelalter forschte man nach Universalarzneien, und erfand das Schiesspulver, welches eine sehr wichtige Entdeckung ist, und wodurch das Problem der Auffindung einer Universalarznei, wenn man sich nicht an der Form der Dispensirung und an der allerdings etwas heftigen Primärwirkung stossen will, sogar als gelöst betrachtet werden kann. So kann auch die Phränologie zu wichtigen psychologischen Entdeckungen führen, allein ehe diese Entdeckungen gemacht und über allem Zweifel erhaben begründet sind, ist es widersinnig, darauf Resultate für das praktische Leben, am wenigsten in der Art gründen zu wollen, dass man den Weg einer praktischen, bewährten Beobachtung =verlässt=, und um die Wahrheit zu entdecken, zur Phränologie seine Zuflucht nimmt. Das Höchste, welches in dieser Art jemals erreicht werden kann, wird nur darin bestehen, dass einzelne Menschen, welche mit einer sehr scharfen Beobachtungsgabe begabt sind, und dem phränologischen Studium einen wesentlichen Theil ihres Lebens gewidmet haben, das Vorhandensein oder den Abgang gewisser =Anlagen= bei einem Subjekte entdecken werden. Selbst diese Kenntniss bleibt aber für die Rechtspflege =unfruchtbar=, da Niemand zweifelt, dass Derjenige, welcher eine gewisse That beging, irgend eine Anlage zu derselben =müsse= gehabt haben, da ohne Anlage zu Etwas gar kein Streben zur Ausführung =denkbar= ist. Ein Mann, dessen Sexualsystem nicht entwickelt ist, wird keine Nothzucht begehen, dies ist gewiss, allein daraus folgt nicht im Mindesten, dass Derjenige, welcher dieses Verbrechen begeht, darum, weil er durch seinen _Stimulus sexualis_ dazu veranlasst wurde, auch nothwendig das Verbrechen habe begehen =müssen=. Was man also durch die phränologische Untersuchung im besten Falle zum Behufe der Rechtspflege erfahren kann, ist daher eine Thatsache, die ohnehin Niemand bezweifelt, nämlich, dass ohne Anlage zu einer bestimmten Thätigkeit eine solche niemals erfolgen wird, der Schluss aber, ob die Anlage wirklich so =überwiegend= sei, dass der Mensch unter allen möglichen Verhältnissen dieser Anlage gemäss handeln oder irgend eine Thätigkeit unterlassen =muss=, wie etwa ein Blindgeborner unter allen möglichen Verhältnissen keine Thätigkeit üben kann, wozu die Funktion des Sehens gehört, bleibt immer =ausserhalb= der Grenzen der Phränologie, da es unmöglich ist, durch die Befühlung oder Betrachtung der Schädelknochen auch die Stärke der auf den Menschen =sonst= einwirkenden Verhältnisse zu berechnen. Leistet aber die Phränologie dieses =nicht=, so kann sie auch nichts über die Möglichkeit, von der natürlichen Freiheit des Willens =gegen= die Anlage, welche die Schädelknochen ausdrücken, Gebrauch zu machen, entscheiden, und könnte daher höchstens dort von einigem Einflusse sein, wo entschiedene =Missbildungen=, wie z. B. bei Kretins, vorhanden sind, welche Missbildungen aber bisher ohne phränologisches Studium auf einem anderen Wege entdeckt wurden. Selbst in der Hand des =Meisters= kann die Phränologie daher nur in solchen Fällen für die Rechtspflege etwas Entscheidendes leisten, wo man auch auf =anderen= Wegen =Dasselbe= erfahren kann; ausser diesen Fällen, wo man ihrer jedoch =nicht bedarf=, wird sie, auch von der Hand des Meisters geübt, nie zu einer =Entscheidung= führen, und könnte höchstens dort von einiger Bedeutung sein, wenn ein Subjekt eine charakteristische Art von Thätigkeit =wiederholt= ausübte, und dadurch auf die Vermuthung führt, dass ihr eine =krankhafte= Verstimmung zu Grunde liege, um nachzuweisen, dass =auch= die Wirbelformation bei dem Subjekte eben so gestaltet sei, wie bei anderen Subjekten, bei welchen sich eine =ähnliche krankhafte= Aeusserung gewahren liess, woraus sich dann, in =Verbindung= mit anderen Erhebungen, der Schluss rechtfertigen liesse, die verübte That sei die Folge einer durch eine =besondere= Anlage eingetretenen =krankhaften= Verstimmung gewesen. Der Ausspruch des Phränologen wäre hiermit höchstens =einer= von den Gründen, das Subjekt für =krank= zu halten, welcher wohl in Verbindung =mit= den übrigen Erhebungen, niemals aber =ohne= oder gar =gegen= dieselben berücksichtigt werden könnte. Selbst dieses gilt nur höchstens in dem Falle, wo ein Mann, welcher entschiedene Proben von Erfahrungen in dieser Beziehung abgelegt hat, derlei ausspricht; es ist also selbst diese =unbedeutende= Giltigkeit des Einflusses des phränologischen Wissens nur ein =Ausnahmsfall=. Dagegen erscheint der Ausspruch eines jeden Anderen, bei welchem diese Voraussetzung nicht auf eine vollkommen erprobte und anerkannte Weise eintritt, als vollkommen =bedeutungslos=, denn es ist zuverlässig nicht leichter, ohne eigene vielfältige Beobachtung nur einigermassen ein erträgliches Resultat aus der Konstruktion der Wirbelknochen zu abstrahiren, als -- das Wetter zu prophezeien. Ein Uebersehen einer ganz unbedeutenden veränderten Lage dieser Theile muss nothwendig zu eben so grossen Missgriffen führen, als wenn man z. B. übersieht, dass die Scala eines Barometers, statt nach Pariser, nach Wiener Zollen eingetheilt ist. Wer Vorliebe für derlei Beobachtungen hat, wird freilich nicht in Verlegenheit sein, auch die unrichtigsten Aussprüche zu rechtfertigen, und in dieser Beziehung wird es der Phränologie ohne Zweifel so ergehen, wie es der Physiognomik erging. _Lavater_ erkannte in der Physiognomie _Gellert's_, dessen Rechtschaffenheit über allem Tadel erhaben war, die Züge eines Erzspitzbuben, und _Gellert_ in seiner Gutmüthigkeit erklärte, dass er in seiner Kindheit wirklich einige Diebereien verübt habe. Was beweist also ein solches Urtheil, welches der Wirklichkeit so ganz entgegen ist? Auf diese Art lässt es sich auch rechtfertigen, wenn man in der Physiognomie eines _Cartouche_ die Züge eines grundehrlichen Mannes erblickt, denn wahrscheinlich gab es eine Zeit, wo _Cartouche_ noch nicht gestohlen hat. Es ist nicht schwer, ein Prophet zu sein, wenn =falsche= Voraussagungen auch für Prophezeiungen gelten; wer sich aber darnach richten wollte, bleibt angeführt. Gedruckt bei J. P. =Sollinger=. End of the Project Gutenberg EBook of Die gerichtliche Arzneikunde in ihrem Verhältnisse zur Rechtspflege, mit b, by Franz von Ney *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE GERICHTLICHE ARZNEIKUNDE *** ***** This file should be named 56382-0.txt or 56382-0.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/6/3/8/56382/ Produced by Franz L Kuhlmann, Sandra Eder and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive) Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. 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